Warum wir plötzlich viel älter aussehen wollen als wir sind
- Text: Linda Leitner
- Bild: Instagram/sciuraglam
Sie haben so viel Stil wie Falten und sind so hip wie nie: Sciure, die eleganten, vermögenden Mailänderinnen. Mit Omas Perlenkette um den neugierigen Hals ging unsere Autorin auf die Jagd nach dem Geheimnis wahrer Grandezza.
Der Winter ist eine protzige Jahreszeit, in der der Vorhang für grosse, stoffgewordene Gefühle aufschwingt: für glitzernde Broschen an üppigen Fellmänteln. Für dramatisch auf den Scheitel gebundene Seidenschals. Für Edelsteine auf Kaschmir. Der Winter ist eine Show, in der man gern mal vorgibt, gut geerbt zu haben.
Bereits im Sommer war ich in den Zug nach Mailand gestiegen, um die wahren Ikonen dieses elaborierten Erscheinungsbildes zu studieren: die älteren norditalienischen Damen mit dem perfekt geföhnten silbernen Haar, den Diamanten um den Hals und dem Hochmut in den Augen. Der Pelz wiegt schwer auf den schmalen Schultern, die Handtasche sitzt latent zickig in der Armbeuge, jede nicht mehr ganz frische Faser ihrer Körper atmet steife Blasiertheit – aber eben auch: diesen unvergleichlichen Stil, der geradezu exzessiv elegant ist, aber niemals überholt wirkt.
Ich hatte also vor, in der Perlenkette meiner Grossmutter älteren Damen nachzustellen und ihnen den Look zu klauen. Im übertragenen Sinne natürlich. Es ist nämlich so: Spiessig ist das neue edgy, die Opulenz einer Oma durchaus Fashion forward. Ich bin besessen von Fake-fur-Mänteln und schultergepolsterten Jacken mit Schösschen und Goldknöpfen. Und auch die aktuelle Mode hat wieder Spass an der Ernsthaftigkeit gestandener Charaktere.
Nur: Wie passt das Anhimmeln von Seniorinnen in unsere Welt?
Die Italiener:innen haben für die Diva des Alltags einen Namen: «Sciura» nennen sie eine reiche Mailänderin um die siebzig, deren Ästhetik mich damals über die Landesgrenze trieb. Der Sommer entlud sich an diesem Tag erstmals über der Stadt. Tragisch daran: Eine Sciura tut sich das nicht an. Während ich schwitzend durch ihr Habitat, das historische Viertel Brera und die verschwenderische Via Monte Napoleone, schlich, sassen meine Musen in ihrem angenehm runtergekühlten Palazzo. Sì sì, eine Sciura ist schwer zu fassen – so wie die Faszination, die von ihrem Stil ausgeht.
Ist es die beinahe unsympathische Unnahbarkeit, die einen anzieht wie ein toxischer Lover? Ist es die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihre fast schon museale Aufmachung zur Schau stellt? Während unsereins in Jogginghose zum Matcha-Holen schlurft, stolziert die 80-jährige Sciura für ihren Espresso bis in die dauergewellten Haarspitzen ausstaffiert unter die Kristalllüster im «Sant Ambroeus». Aufbrezeln? Bella Figura? Es ist, wie Eros Ramazzotti so schön schmachtete: «Un’emozione per sempre.» Es ist die pure Lust am Gutaussehen. Wir lernen: Das Dolce Vita kann man sich konsequent und charmant anziehen. Und das ganz ohne den verzweifelten Versuch, möglichst hip oder gar jünger aussehen zu wollen. Wer später stirbt, ist länger schön.
Sogar die Hot Boys der Hip-Hop-Welt wie Tyler The Creator oder Asap Rocky, die zu den bestgekleideten Männern des Planeten zählen, tragen Cordhose, Pullunder und Loafers und orientieren sich am Look des gut betuchten Nonnos mit Villa am Comer See. In einer Zeit des obsessiven Anti-Agings, in der alte Menschen eigentlich von der Bildfläche zu verschwinden haben, scheint es fast schon grotesk, sich genau die zum Vorbild zu nehmen, die mit tiefen Falten und weissen Haaren so souverän auf unsere gefilterte Welt reagieren.
Stil muss reifen wie guter Wein
Obwohl heute Unsummen in Hyaluronsäure und Fitnessstudio-Abos investiert werden, scheuen sich Cool Kids nicht, sich auf eine Art zu kleiden, die sie alt aussehen lässt. Weil sich die Vorbilder fernab von modischen Tendenzen bewegen. Und das trifft den Zeitgeist wie der Blitz: Die älteren Herrschaften haben es im Blut, sich rein für sich selbst zu kleiden, losgelöst von Trends und äusseren Einflüssen. Authentizität wird hier nicht mit Inszenierung verwechselt. Social Media, was ist das? Sie setzen auf Qualität und wissen gar nicht erst, was es mit der teuflischen Fast Fashion auf sich hat. Auf die Alten kann man sich verlassen, da ist der Stil herangereift wie guter Wein. Die wissen, was gut aussieht.
Einer, der das auch weiss, ist der britische Modedesigner Jonathan Anderson. Für die aktuelle Saison zeigte sein Label JW Anderson überdimensionalen Strick und pantoffelige Hausschuhe an Models mit Hüten auf dem Kopf, die auch grau gelockte Perücken hätten sein können. Blutjunge Dinger verkleidet als Rentnerinnen also. Sein Label wolle mit Nostalgie in die Zukunft, erklärte Anderson. So wie alte Popsongs, die plötzlich wieder cool werden, funktioniert das also auch mit dem Look von Leuten Ü70 – offenbar sogar auf dem Laufsteg. Seine Muse: keine frisch geschlüpfte Künstlerin, sondern die schrullige Nachbarin.
Der Ruhestand als fernes Paradies zum Anziehen
Vielleicht sind die vielen straffen, glatt gezurrten Menschen im World Wide Web ein Grund für die Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit, Geschichte – und auch ein bisschen nach Kauzigkeit. Anders lässt sich der Erfolg von Instagram-Accounts wie @gramparents und @sciuraglam, der virtuellen Bühne der glamourösen Mailänder:innen und stilvollen New Yorker:innen, kaum erklären. Sie beweisen, dass Oma und Opa digital durchaus was zu sagen, ja zu zeigen haben.
Hier wird dem Stil einer Generation, die in den sozialen Netzwerken in der Regel zu kurz kommt, exzessiv gehuldigt. Wie die reifen Damen und Herren da gut angezogen auf Parkbänken Zeitung lesen, mit Einkaufstüten behangen durch die Altstadt schlendern oder schnatternd beim Aperitivo sitzen – all das bietet die perfekte Kulisse für modische Sehnsüchte. Denn wenn die italienische Sciura zum morgendlichen Kaffee in die Pasticceria Sissi stöckelt, sind Pelz, Perlen und Kittenheels eine Art massgeschneiderter Müssiggang. Sie ist eine Lebefrau!
Neidisch? Ja, der Ruhestand mag wie eine Art fernes Paradies vor unserem inneren Auge erstrahlen. An alle, die derzeit obsessiv an der Work-Life-Balance schrauben und versuchen, zu entschleunigen statt immer nur zu leisten: Warum sich nicht einfach mal anziehen, als hätte man alle Freizeit der Welt? Eine Sciura setzt bei 33 Grad deshalb keinen chic besohlten Fuss auf den kochenden Asphalt, weil sie es nicht muss. Raus an die Sonne? Sie hat keine Angst, etwas zu verpassen. Es scheint, als habe sie schon alles gesehen. Winterliche Minusgrade hingegen? Die sind kein Problem. Der Schrank ist voller Preziosen, die allesamt spazieren geführt werden wollen.