Mit André Leon Talley ist am Dienstag eine der schillerndsten Ikonen der Modewelt verstorben. Doch der Journalist und Liebhaber der Schönheit hatte es mitnichten immer einfach.
«Wissen Sie was», sagte André Leon Talley im Dokfilm «The September Issue» (2009) in einen Überwurf aus Nerzfell gehüllt und mit opaker Sonnenbrille auf der Nase, «es gibt eine Hungersnot für Schönheit. Meine Augen hungern nach Schönheit!» Talley, ein bahnbrechender Schwarzer Modejournalist und «Vogue»-Kreativdirektor mit einem Hang zur Dramatik und einem einzigartigen Auge für Mode und Kunst, ist am Dienstag im Alter von 73 Jahren verstorben, wie sein Freund Darren Walker gegenüber der «New York Times» bestätigte.
Talley, geboren am 16. Oktober 1948 in Washington, D.C., war über Jahrzehnte eine in jedem Sinne überragende Figur der Modewelt: Figurativ – als Journalist, Stylist und Kreativdirektor für Publikationen wie «Women’s Wear Daily», «W Magazine» und «Vogue» und Freund von Designer:innen und Künstler:innen wie Jean-Michel Basquiat und Karl Lagerfeld – und buchstäblich, mit seinen fast zwei Metern Körpergrösse und einer Passion für wallende Kaftane. Als oft einziger Schwarzer Mann in diesen Welten war er, wie Schauspielerin Whoopi Goldberg in der Doku «The Gospel According to André» (2018) über sein Leben sagte, «so viele Dinge, die er nicht hätte sein sollen.»
Leuchtfeuer des Stils
Das bestätigen auch die unzähligen Tribute auf den sozialen Medien. «Du gabst uns Hoffnung und Aspirationen, die wir ohne dich nicht einmal erträumt hätten», schrieb Lindsay Peoples Wagner, Chefredaktorin von «The Cut», auf Instagram. «Ohne dich gäbe es kein mich», schrieb Edward Enninful, Chefredaktor der britischen «Vogue». «Er war für so viele ein Leuchtfeuer des Stils», schrieb die Autorin Roxane Gay auf Twitter.
Talleys Faszination mit Mode begann zuerst in der Kirche und dann in der öffentlichen Bibliothek seiner Heimatstadt Durham im südlichen US-Bundesstaat North Carolina, wo er mit etwa neun Jahren eine Ausgabe der «Vogue» fand und sich sofort verliebte: In den «Black and White Ball» von Schriftsteller Truman Capote, in die Schriftstellerin und Fotografin Eudora Welty, in Mick Jagger, in «eine neue Welt voller Schönheit, Kunst, Literatur, Tanz und Poesie», wie er 2020 in einem Interview sagte. Die Modewelt war für ihn Eskapismus, kam er doch aus schwierigen Verhältnissen. In seinem 2020 veröffentlichten zweiten Memoirenband «The Chiffon Trenches» schrieb er erstmals darüber, als Kind regelmässig sexuell missbraucht worden zu sein.
Von der Grossmutter zu Diana Vreeland
Sein Aufstieg kam schnell. Nach einem Bachelor in Französisch von der North Carolina Central University und einem Master an der Brown University traf André Leon Talley per Zufall auf Carrie Donovan, damals Redakteurin bei der amerikanischen «Vogue», die ihn zum Umzug nach New York City überredete. Dort half er, erst 25 Jahre alt, der legendären Diana Vreeland bei ihrer Arbeit im Costume Institute des «Metropolitan Museum of Art» und fand in ihr eine extravagante Mentorin, die seine Vision von Schönheit und Mode für immer prägte. Nach seiner Grossmutter, die ihn aufzog, war Vreeland die wichtigste Person in seinem Leben, schrieb Talley in seinen ersten Memoiren 2003.
Als Rezeptionist bei Andy Warhols «Interview Magazine» stürzte sich André Leon Talley in die glitzernde Welt von Studio 54, Diana Ross und Bianca Jagger. In Paris, als Bürochef von «Women’s Wear Daily», dinierte er mit Yves Saint Laurent und lernte Karl Lagerfeld kennen. Ab 1983 arbeitete er, zurück in New York City, eng mit «Vogue»-Chefredakteurin Anna Wintour zusammen. Nach einem Abstecher beim «W Magazine» in den Neunzigerjahren kehrte er bis 2013 wieder zur «Vogue» zurück, wo er als erster Schwarzer Kreativdirektor seine Vision von Schönheit und Glamour auf die Seiten des Modemagazins projizierte.
Der einzige
In einer immer kälter und kalkulierter werdenden Modeindustrie konnte Talley warm, herzlich und sehr ehrlich sein. Das bescherte ihm Bewunderung, aber auch viele Kritik. Er zerstritt sich mit Freund:innen wie Anna Wintour und Karl Lagerfeld. Schon 1994 beschwerte er sich in einem berühmten Artikel des Schriftstellers Hilton Als im «New Yorker» über Einsamkeit. Meistens «der einzige» zu sein – der einzige Schwarze, schwule, mächtige Mann in der Modeindustrie – das war für ihn neben Privileg auch Bürde. Nicht zuletzt deswegen kämpfte er für mehr Schwarze Models in Modemagazinen.
Seine letzten Jahre verbrachte André Leon Talley in einem Haus in White Plains, New York, relativ abgeschottet von der Modeindustrie. Mit «The Chiffon Trenches» (2020) verfasste er eine schonungslose Chronik seines Lebens in ebendieser glitzernden Modewelt. Das Buch wurde zum Bestseller. Die Presseinterviews dazu führte Talley Pandemie-bedingt via Zoom in einem floral tapezierten Ecken seines Hauses, in grossen Kaftanen und goldenen Jacken und einem Strohhut mit schwarzem Band. Zusammen mit dem Buch zeigten sie einen Mann, dessen Hunger für Schönheit trotz bitteren Rückschlägen nie gesättigt wurde – und äusserst ansteckend war.