Powerdressing oder patriarchalischer Dresscode: Was bedeutet der Anzug heute überhaupt noch, fragt unsere Lifestylechefin Barbara Loop.
Ob mit Nadelstreifen, in Oversize, mit breiten Schultern oder tailliertem Jackett: Der Anzug ist zurück – und wenn er denn überhaupt mal weg war, dann nur, weil er einen im Homeoffice selbst vor der Hauskatze wie eine Streberin erscheinen liess. Business as usual also, so auch die Deutungen der Mode-Gazetten: Adele im weissen Hosenanzug bei Oprah? Emily Ratajkowski im Zweiteiler auf dem Weg zur Psychotherapie? Klarer Fall von Powerdressing. Wenn es ernst gilt, wenn Selbstbewusstsein gefragt ist, dann – so die gängige Interpretation – trägt Frau Anzug.
Die Macht der Individualität
Der Begriff Powerdressing stammt aus den 1970er-Jahren, als Frauen sich ihren Platz in der Arbeitswelt eroberten – und Männer ihnen sagten, was sie dabei zu tragen hatten: Im Ratgeber «The Woman’s Dress for Success Book» schlug John T. Molloy 1977 das Deuxpièces vor. Mit Jupe und Jackett, so versicherte er, gewinnen auch Frauen Autorität und Respekt. Später wich der Jupe gelegentlich einer Hose. Das aber bedingte, dass Frau mit Lippenstift oder Foulard unterstrich, was die Arbeitsuniform in Schach halten sollte: ihre Weiblichkeit. Eine paradoxe Ausgangslage, die noch heute die Bürogemeinschaft spaltet. Die einen sehen Frauen im Anzug als Symbol der Emanzipation, die anderen als Unterwerfung. Für die einen steht er für die Macht, die sich Frauen aneignen, für die anderen verstofflicht er die Macht, die Frauen selbst im Chefsessel noch beherrscht.
Während sich die Frauen über den richtigen emanzipierten Business-Look streiten, sind die Männer dabei, den Dresscode ganz loszuwerden. Selbst Banken haben die Krawattenpflicht abgeschafft, Shorts sind an heissen Tagen vielerorts nicht mehr allein der IT-Abteilung vorbehalten. Ob Frauen es in Lederjacke und Hoodie ganz nach oben schaffen können, sei mal dahingestellt. Im Boys Club aber gilt: Wer wirklich mächtig ist, der strebt nach modischer Individualität. Höchste Zeit also, den Anzug auch für Frauen von der Idee der Macht zu entkoppeln und ihn als das zu sehen, was er sein könnte: ein smartes, vieldeutiges Kleidungsstück. In und out of office.