Von wegen rollende Puderdose
- Text: Peter Ackermann
Vor sechs Jahren entwarf Volvo das perfekte Auto für Frauen. Der Wagen ging nie in Serienproduktion. Aber er revolutionierte die Automobilindustrie.
Neun Frauen stellten im März 2004 das weltweit erste und einzige Auto vor, das ausschliesslich von Frauen entwickelt wurde und weiblichen Wünschen an ein Fahrzeug entspricht. Die heute 43-jährige Schwedin Camilla Palmertz gehörte zu den Initiantinnen des Projekts, das gut zwei Jahre zuvor seinen Anfang mit der Frage aus einem Workshop von Volvo nahm: Wie würde ein Auto aussehen, wenn es nur von Frauen entwickelt würde?
Die blond gelockte Biomechanikerin, die damals gerade den ersten schwangeren Dummy für Crashtests entwickelte, war überzeugt: Wenn man die Erwartungen von Frauen erfüllt, übertrifft man oft die der Männer. «Die Wunschliste der Frauen enthält alles, was sich auch Männer erhoffen», sagt Camilla Palmertz heute in Göteborg, «nur eben mehr. Dinge, nach denen Männer ebenfalls fragen, nachdem sie diese einmal gesehen haben.» Zum Beispiel einen effektiven Schutz für eine werdende Mutter und ihr Baby.
Im Juni 2002 gab Volvos damaliger CEO Hans-Olov Olsson, Vater zweier Töchter, dem Projekt grünes Licht. Der Automobilhersteller aus Schweden gewichtete Frauenanliegen seit den Achtzigerjahren stärker, ermöglichte beispielsweise einer Gruppe weiblicher Angestellter, neue Modelle bereits in einem frühen Entwicklungsstadium zu beurteilen. Das Unternehmen ist damit gut gefahren. So verdankt es der Female Customer Reference Group, dass unter der Motorhaube alles mit den gleichen Farben gekennzeichnet ist wie in der Bedienungsanleitung. Was mit Wasser zu tun hat, ist immer blau, Kühlflüssigkeit ist grün, Öl schwarz.
Die Überprüfung der Fahrzeuge auf ihre Frauentauglichkeit wurde vom Markt belohnt: In den USA erreichte der Anteil der weiblichen Volvo-Käufer in den Neunzigerjahren rekordverdächtige 50 Prozent, in Europa stieg er stetig an.
Trotzdem war die Konzeption eines reinen Frauenwagens Volvo-intern nicht unumstritten. «Probleme bereitete unser Projekt nicht dem Topmanagement», sagt Camilla Palmertz, «sondern den unteren Chargen.» Die einen befürchteten die Entstehung einer Puderdose auf Rädern mit pastellfarbenen Plüschsesseln und überdimensionierten Schminkspiegeln, die anderen fürchteten allein schon die Art der Organisation und Ideenfindung des Frauentrüppchens. Aus Männersicht fehlte dem neunköpfigen Konzeptteam mit sieben Leiterinnen die klare Hierarchie. Als Kardinalsdelikt eingestuft wurde aber, dass die Frauen kein so genanntes Lastenheft erstellten, wie das Männer tun, wenn sie ein Auto entwickeln. Darin wird zunächst notiert, was der neue Schlitten mehr haben soll als die Modelle der Konkurrenz. Die neun Frauen sassen zum Entsetzen der Männer einfach zusammen an einem runden Tisch, tranken Kaffee, assen am Vorabend selbst gebackenen Kuchen und redeten, redeten, redeten. «Danach wussten wir, was wir wollen. Und mussten später nicht über die Bücher, wie es Männerteams häufig müssen, weil sie etwas zwischen ihre eigenen Vorgaben zwängen mussten. Das überzeugte dann auch die grössten Skeptiker», sagt Camilla Palmertz.
Die Frauen schufen ein Auto für Eve, eine Kunstfigur, die super aussieht, gut Geld verdient und unabhängig ist. Dies erstaunte insofern, als fast alle Frauen des Konzeptteams verheiratete, Volvo-Kombi-fahrende Mütter waren. Bewusst liessen sie bei ihrem Traumauto aber die Mutterrolle draussen. «Eine Frau fährt zwischen 20- und 70-jährig Auto. Während vielleicht zehn Jahren ist ihr Nachwuchs im Kleinkindalter. Wir wollten ein Auto für die anderen vierzig Jahre im Leben einer Frau», sagt Tatiana Butovitsch Temm, die während des Projekts für die Kommunikation zuständig war. «Obschon die Entwicklungsarbeit knüttelhart und die Arbeitszeiten lang waren», sagt die 49-jährige PR-Beraterin heute, «gab es keine Scheidung, aber sieben neue Schwangerschaften.»
Im März 2004 wurde Your Concept Car (YCC) am Genfer Automobilsalon vorgestellt und erregte Aufsehen. Unter anderem weil der Wagen nicht aussah wie ein fahrender Lippenstift, sondern wie eine strassentaugliche Rakete in einem James-Bond-Film. Die sportlich-elegante Karosserie des Volvo YCC schimmert in einem seidigen Ton, der je nach Lichteinfall von Grün zu Gold oder von Blau zu Gelb wechselt. Lackiert ist die Karosserie mit einer Easy-Clean-Farbe, die wie eine Teflonbeschichtung Schmutz abstösst und einfach zu waschen ist. Das Auto verfügt über Flügeltüren, mit einer wesentlich geringeren Spannweite als herkömmliche Türen. Öffnet man sie, schwenkt ein Schweller nach unten, der Fahrersitz bewegt sich automatisch zurück und das Steuerrad aufwärts. Das schafft Platz und erleichtert den Einstieg.
Die Sechsgangschaltung und die elektronische Handbremse sind am Steuerrad angebracht. So ist die Mittelkonsole frei für Handy, Handtasche und Notebook. In Reichweite des Fahrersitzes ist eine Kühlbox angebracht und ein Papierkorb. Sogar ein Trockenfach für den Regenschirm gibt es. Und da die meisten Fahrerinnen öfter Taschen auf den Rücksitzen transportieren als Personen, wurden die Rücksitze wie Kinosessel konstruiert. Sind sie unbenutzt, ist die Sitzfläche nach oben geklappt, was noch mehr Stauraum schafft.
Um ein optimales Sichtfeld zu erreichen, wird die Fahrerin gescannt und die Sitzposition anhand der ermittelten Daten eingestellt und im Schlüssel digital gespeichert. «Sobald die Fahrerin den Schlüssel einsteckt, werden Fahrersitz, Steuerrad, Kopfstützen und Sicherheitsgurt automatisch ihren Körpermassen angepasst. Ein Vorteil für alle, insbesondere aber für kleinere Frauen», sagt Tatiana Butovitsch Temm.
Der Innenraum des Frauenautos gleicht einem schicken Wohnzimmer mit edlem Holz und Aluminium und kann individuell gestaltet werden. Die Sitzbezüge sind austausch- und waschbar. Die Nackenstützen enthalten eine Öffnung für den Pferdeschwanz.
Um die Wartungsfreundlichkeit zu erhöhen, gibt es beim YCC nur zwei Einfüllpunkte: einen fürs Benzin, den anderen für die Scheibenwaschanlage. Muss der Wagen in den Service, macht er automatisch mit der Werkstatt einen Termin aus und bestellt gleich die benötigten Ersatzteile.
Automatisiert ist auch das seitliche Parkieren. Der YCC verfügt über eine Parkierhilfe, die zunächst den zur Verfügung stehenden Platz prüft und dann die Fahrerin über das Steuerrad beim Manövrieren unterstützt. Angetrieben wird der Wagen von einem sparsamen, aber sportlichen Fünfzylindermotor mit 158 kW/215 PS und Integrated Starter Generator, der unnötigen Motorleerlauf an Ampeln verhindert und zusammen mit dem 6-Gang-Powershift-Getriebe den Benzinverbrauch weiter senkt.
Die Männer sagten: «Wow, interessant.» Die Frauen: «Endlich!» Befragungen zeigten, dass Männer und Frauen dieselben Errungenschaften des Konzeptautos mochten: cleveren Stauraum, leichten Ein- und Ausstieg, gutes Sichtfeld, individuelle Ausstattung, minimale Wartungsaufgaben, Parkierhilfe – nur in anderer Reihenfolge. «Bei den Frauen rangierte die Staufläche zwischen den Sitzplätzen an erster Stelle. Die Männer widerlegten das Klischee, dass sie gern das Auto waschen. Ihnen gefiel die Easy-Clean-Farbe am besten.»
Der Konzeptwagen ging nie in Serienproduktion. War dieses 4.3 Millionen Franken teure Projekt ein Rohrkrepierer?
«Nein», sagt Tatiana Butovitsch Temm. Der Sinn des Konzeptwagens bestand hauptsächlich in der Verwirklichung einer Ansammlung guter Ideen, von denen einzelne Einfälle in neue Modelle einfliessen sollen. Camilla Palmertz sagt: «Wenn man wie wir die gewohnte, also männliche Perspektive verlässt, kann man auf erstaunliche neue Ideen kommen.»
Die meisten der Einfälle im YCC waren Mitte der Nullerjahre noch zu teuer, um sie als Standard einzuführen. Etwa die LED-Lampen, bei denen nicht die Lampen, sondern nur der Lichtstrahl sichtbar ist. Inzwischen werden sie bei neuen Modellen eingesetzt. Auch andere Ideen wurden aufgegriffen. So kann man beim C30 aus verschiedenen Interiordesigns
die Inneneinrichtung zusammenstellen. Und beim V70 öffnen sich die Türen und die Kofferraumklappe automatisch, wenn die Fahrerin mit Taschen beladen am Hinterrad steht. Andere Eigenschaften wie Powershift oder der automatische Stopp des Motors vor einer roten Ampel werden heute serienmässig eingebaut. Errungenschaften, die teilweise von anderen Herstellern kopiert wurden und die mit dazu beigetragen haben können, dass der Anteil weiblicher Fahrer in den vergangenen fünf Jahren bei Volvo überdurchschnittlich wuchs.
Auch in der Firma zeitigte die Konzeptstudie Veränderungen. Zwei neue Frauenteams ermöglichen die Einflussnahme aufs Topmanagement und das Netzwerken untereinander.
Das erste Frauenauto der Welt steht heute 15 Kilometer westlich von Göteborg in einem Museum. Wie eine Trophäe thront es auf einem gläsernen Logenplatz mit Blick aufs Meer.