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Village People: Das Zürcher Niederdorf hat Charme

Village People: Das Zürcher Niederdorf hat Charme

  • Text: Stefanie Rigutto, Fotos: Marvin Zilm

Das einst so fröhlich-frivole Zürcher Niederdorf hat seinen Glanz verloren. Unsere Autorin Stefanie Rigutto liebt es deshalb umso mehr.

Gestern Nacht war eine ganz normale Nacht im Rosenhof. Die Luft war lau, es roch nach Sommer, die Leute sassen gemütlich auf den Treppenstufen. Der Max-Frisch-Brunnen blubberte fröhlich, die Strassenband gab zum hundertsten Mal ihre Version von «Sultans of Swing» zum Besten (nicht einmal so übel, aber da gibt es verschiedene Meinungen). Ich lag im Bett und fühlte mich ein bisschen wie früher als Kind, wenn wir schon um 21 Uhr schlafen mussten, während man draussen die Gspänli spielen hörte: «Aagschlage Jonas! Eis, zwei, drü!»

Gegen Mitternacht gingen die ersten Beziehungen in die Brüche, zwei Jungs spielten grölend Fussball mit einer leeren Bierflasche, eine Gruppe Mädchen kreischte so hysterisch, wie es nur Teenager können. Um drei Uhr morgens durchdrang ein lautes Poltern das Haus. Ich schaute in die Gasse runter: Ein Typ bearbeitete unsere Eingangstür mit Fusstritten. Er brüllte: «Gib mer die hundert Stutz!»

Nachtbesuche im Zürcher Niederdorf

Offenbar hatte sich jemand im Hauseingang versteckt. Ich versuchte, den Mann zu beruhigen. Er blickte nach oben und befand: «Heb d Frässe, du Schlampe!» Die Schlampe rief die Polizei – die fuhr tatsächlich innert einer Minute vor.

Um fünf Uhr morgens weckte mich Consuela. So tauften wir die Amsel, die manchmal vor unserem Fenster ein Morgenkonzert gibt. Vor ein paar Jahren baute Consuela ein Nest in einem der Bäume auf unserer Terrasse und brütete drei Eier aus (ok, das war vielleicht nicht dieselbe Amsel, aber wir nannten sie auch Consuela). Um sieben Uhr brausten die Putzmaschinen an, die den Hof wieder in tageslichttauglichen Zustand versetzten – sie tun das in der Regel nicht minder laut als diejenigen, die den Dreck produzieren. Und als ob das noch nicht genug gewesen wäre, begann um zehn Uhr auch noch die Blasmusikkapelle auf dem Hirschenplatz zu spielen. Das tat weh. Wenn die Leute erfahren, dass ich im Niederdorf wohne, erhellt sich ihr Gesicht. «Und? Wie ist es dort?», fragen sie. Ich sage immer: «Es ist laut.» Das ist zwar nur die halbe Wahrheit, aber ich will nicht zu viel schwärmen, sonst möchte am Schluss jeder hier leben. Und es stimmt: Es ist wirklich laut. Zumindest dort, wo wir wohnen: Wir blicken zum einen in die Rosengasse (Kopfsteinpflaster, was gibts Schöneres?), zum anderen in den Rosenhof. Wenn mir Leute aus dem Dörfli sagen: «Mir ist es mittlerweile viel zu ruhig» – da muss ich lachen.

Warum ich trotzdem hier wohne? Ich komme gleich dazu. Zuerst ein bisschen Geografie: Viele Leute glauben, das Niederdorf beginne beim Central und ende beim Bahnhof Stadelhofen. Falsch! Es endet bereits bei der Stüssihofstatt, dort, wo bis vor kurzem das Sexkino stand. Noch Anfang der Neunziger war das Niederdorf der Place to be. Aus der ganzen Schweiz reisten die Leute an, um hier zu essen, trinken, tanzen, shoppen. Das Niederdorf war Zürich.

Manche halten das Niederdorf für bünzlig

Heute ist es das Quartier, das am meisten polarisiert. Für die einen (für mich!) ist es nach wie vor die Visitenkarte der Stadt, das älteste, schönste, lauschigste Quartier. Für die anderen jedoch – meistens Stadtzürcher – ist es der uncoolste Ort überhaupt. Keinen Fuss würden sie hierher setzen, wegen all der Touristen, Polterabendgruppen und partywütigen Agglos. Der Hafenkran, dessen Spitze ich vom Bett aus erblicke, hat zwar eine neue Kunstdebatte ausgelöst und soll nach Meinung der Jungsozialisten gar zum neuen Wahrzeichen der Stadt avancieren, weil er ihre Bünzligkeit durchbreche und ihr ein «mondänes und urbanes Flair» verleihe – aber ansonsten ist das Niederdorf das Gegenteil von trendy: Alles ist gebaut, gemacht und steht unter Denkmalschutz. Langweilig?

Nein. Ich wohne seit zehn Jahren hier, aber langweilig ist es mir nie geworden. Das Niederdorf ist ein sicherer Wert. Es ist wie bei einer in die Jahre gekommenen Prostituierten (der Vergleich sei erlaubt, das Dörfli war einst ein Rotlichtviertel): Man weiss, was man bekommt. Sie kann zwar nicht mit dem knackigen Frischfleisch mithalten, aber sie lebt vom Mythos, vom Ruhm vergangener Tage. Die Altersgebrechen macht sie mit ihrer Erfahrung wett. Sie hat zwar immer weniger Kunden, dafür sind ihr diese treu gewogen.Ich zum Beispiel bin ihr unglaublich treu gewogen, auch wenn es auf unserer Terrasse öfter nach Käsesocken riecht – dann nämlich, wenn der Wind den Fonduegeruch vom Hotel Adler zu uns weht. Wie jetzt gerade. Ich giesse die Bäume auf der Terrasse, die Limmat funkelt in der Abendsonne, Schwäne schlagen mit den Flügeln aufs Wasser, eine Möwe keift vor sich hin. Vom Hotel Splendid schaut ein Gast zu mir rüber. Er trägt weisse schlabbrige Unterhosen und kratzt sich am Bauch. Ich versuche, ihn zu ignorieren. Das ist gar nicht so einfach.

Die erste Person, die ich hier vor zehn Jahren kennen gelernt habe, heisst Fränzi Nanopoulos. Sie ist sechzig Jahre alt und führt den Läbis, den Quartierladen an der Brunngasse. Fränzi ist die gute Seele des Dörfli: Sie begleitet ängstliche Kinder nachhause, klingelt beim älteren Herrn um die Ecke, wenn er mal einen Tag nicht gekommen ist, und liefert sogar gratis die Lebensmittel nachhause, wenn man krank ist. Sie sagt: «Hier im Dorf schauen wir zueinander.»

Das beste Café in Zürich

Wir sitzen in der Bar Corazón. Wenn Fränzi Kaffee trinken geht, wechselt sie immer schön ab. «Ich will alle Cafés gleichermassen unterstützen», sagt sie, denn alle hätten zu kämpfen mit der hohen Miete. (Ich
mache genau das Gegenteil: Ich gehe immer ins selbe Café – das «Henrici», der beste Kaffee von Zürich, das hat sogar die «NZZ am Sonntag» bestätigt.)

Mein Gejammer über den Lärm von gestern Nacht quittiert Fränzi mit einem lakonischen «Ja, das ist der Pssst-Trend». Seit zehn Jahren würden die Dörfler für mehr Ruhe kämpfen. «Und jetzt haben wir sie, die Ruhe – aber eben nicht nur am Abend, auch am Tag ist es stiller geworden.» Es sei manchmal fast schon ausgestorben. (Ich frage mich, wo diese Ruhe sein soll – vor meiner Haustür garantiert nicht.)Fränzi sagt, sie habe das Quartier noch erlebt, als es «aufregender, vielfältiger, lebendiger» war. «Heute muss man die Auswärtigen ja fast schon bitten, im Niederdorf zu feiern.» Wenn es am Dörflifäscht – der jährlichen Sommerparty – regne, würden sich die Bewohner freuen: Gott sei Dank, sagten sie, so gehen die Besucher früh nachhause! (Der Satz könnte von mir stammen.) Aber Fränzi hat schon recht: Man motzt im Niederdorf gern über die Partytouristen. «Leben in der Aggloflut» titelte der «Tages-Anzeiger» bereits 1996 und nannte uns ein «zähes und stolzes Völklein». Dabei ist es doch toll, ja eine Ehre, dass so viele Leute bei uns ihren Feierabend verbringen wollen!

Früher waren die Wohnungen im Niederdorf günstig, eng, dunkel. Viele Künstler wohnten hier – jetzt ist nur noch Beat Schlatter geblieben, den ich ab und zu im Läbis sehe. (Halt, Jungschauspieler Joel Basman ist kürzlich ins Niederdorf gezogen – der Typ hat einfach Stil!) Immer mehr Häuser werden renoviert, Wohnungen zusammengelegt. Unsere zum Beispiel ist auf zwei Häuser verteilt: Das eine stammt aus dem 13. Jahrhundert und trägt den tollen Namen Zum kleinen Regenbogen. Man lebt in der Vergangenheit. Keine Wand ist gerade, jeder Winkel erzählt eine Geschichte, zwei Treppentritte, um in die Badewanne zu gelangen, drei Treppentritte runter ins Esszimmer, Kopf anschlagen bei der Tür ins Schlafzimmer, stolpern über die Schwelle ins Wohnzimmer.

Das Niederdorf ist anders als der Rest von Zürich

Neben unserem Esstisch hängen zwei Bilder von Marion Duschletta. Sie zeigen eine Aufnahme von der Altstadt Zürichs, welche die Bündner Künstlerin zu einer Collage verarbeitet hat. Nur ganz knapp ist unser Haus nicht im Bild. Marion Duschlettas Galerie liegt gleich um die Ecke in der Froschaugasse. Sie sagt, das Niederdorf sei «auf gute Art altmodisch». Alles, was hip und angesagt sei, passe nicht hierher. Sie sagt auch, dass die Leute hier viel langsamer laufen würden als im Rest der Stadt. «Das Niederdorf ist etwas für die Seele.»

Und wie! Aber man muss hier wohnen wollen, sonst hält man es nicht lange aus. Man macht mehr Kompromisse als in jedem anderen Quartier: Die Miete ist hoch, die Wohnung klein und lärmig, man riecht den Nachbar und braucht eine Zufahrtsbewilligung, um vor das Haus fahren zu dürfen. Im Gegenzug bekommt man ein Gefühl, das einzigartig ist im hektischen Zürich: Geborgenheit. Kürzlich ist Frankie, der Coiffeur, gestorben. Er war eines der letzten Originale im Dörfli. Vor seinem Laden stapelten sich die Blumen. Der Anblick kompensierte mich für alle lauten Nächte: Es ist tröstlich, an einem Ort zu wohnen, wo die Menschen so aneinander hängen.Das Niederdorf hat jeden Trend verschlafen. Während sich Zürich wie besessen weiterentwickelte, entstand hier keine einzige angesagte Beiz. Das Dörfli ist längst nicht mehr das «Amüsierviertel», als das es Wikipedia noch beschreibt – heute geht man an der Langstrasse in den Ausgang oder in Zürich-West. Der Hippie-Markt im Rosenhof ist seit Jahren unverändert: Silberschmuck, Räucherstäbchen, Langos. Das Dörfli bewahrt das Gute, das Bestehende und biedert sich nie an. Das mag wirtschaftlich nicht sonderlich schlau sein, aber es hat Klasse.

Sollte doch mal ein nettes Lokal eröffnen, erfahre ich davon im «Altstadt Kurier», unserer Quartierzeitung. Bis vor kurzem schrieb Peter Keck dort eine lustig-launige Gastro-Kolumne. Ich treffe den 78-Jährigen bei sich zuhause auf ein Glas Wein. Er sagt, die Leute im Dörfli würden zu fest den alten Zeiten nachtrauern. Alle würden sich darüber beklagen, dass die städtische Anonymität Einzug halte, dass es immer weniger Familienbetriebe gebe und immer mehr Kleiderläden. «Diesen Trend gibt es überall», findet Peter Keck, wendet aber ein: «Nirgends tun die Veränderungen so weh wie im Niederdorf. Es war hier mal richtig romantisch – eigentlich kanns nur bergab gehen.»

Anwohner gegen Gewerbetreibende

Früher, so hört man, habe das Niederdorf eine Einheit gebildet. Heute jedoch herrscht ein Kulturkrieg: die Anwohner gegen die Gewerbetreibenden. So jedenfalls fühlt es sich für Sascha Wolf an, der bei uns unten im Haus das «Rägebögli» und die Six Bar betreibt. Der 45-Jährige sagt: «Das, wofür das Niederdorf steht – nämlich belebte Gassen und schöne Plätze, wo die Leute gemütlich ein Bier trinken –, wird immer mehr abgewürgt.» Seine grösste Sorge: Lärmklagen. (Die Angst ist durchaus berechtigt, denn das mit dem Gemütlich-ein-Bier-Trinken schaffen leider nicht alle …)

Ich sehe Sascha oft, wenn ich von der Arbeit nachhause komme. Er sitzt meist in der Rosengasse und ruft: «Hehoooi!» Viele Leute, die in sein Lokal treten, schütteln ihm die Hand. Hoi Marianne, hoi Peter. Sascha sagt, er komme gern ins Niederdorf, aber er gehe auch gern wieder. «Bleibt man zu lange im Dörfli, erdrückt es einen.» Trotzdem will Sascha an keinem anderen Ort wirten: «Es ist ein Privileg, Gäste im Niederdorf begrüssen zu können.» Erst recht im Rosenhof, «eine Piazza wie in Italien»!Die Grillsaison auf unserer Terrasse ist wieder eröffnet. Über meine Rauchschwaden hat sich noch keiner beschwert. Ist es Toleranz? Ich glaube eher, es ist Abhärtung. Ich meine, was ist das bisschen Grillrauch gegen den Geruch von Käsesocken! Ich kaufe immer in der Metzgerei Zgraggen an der Stüssihofstatt die Limmatwelle: Schweinshuft mit Speck auf einem Spiesschen. Wenn man eine Weile nicht bei ihm war, fragt Herr Zgraggen: «War letztes Mal etwas nicht gut?» Die Limmatwelle ist eine Erfindung von ihm und etwa dreissig Jahre alt. Mal hatte er einen Hackfleischspiess kreiert und ihn Dörfli-Lutscher genannt – doch den Namen fanden die Kunden nicht so gut. (Obs am Sexkino gegenüber der Metzgerei lag?)

Manchmal, wenn wir auf unserer Terrasse grillieren, schaut von oben der Nachbarsbub runter und winkt. Im Dörfli leben überraschend viele Kinder – über uns zum Beispiel die Familie Müntener mit drei Kindern im Primarschulalter. Ich frage mich: Wie geht das? Wo spielen sie? Beatrice Müntener erzählt, ihre Kinder würden auf der Trittliwiese herumtollen, einer grünen Oase mit Apfelbäumen, für die man vom Elternverein einen Schlüssel erhält. «Man wähnt sich auf dem Land.» (Diesen Schlüssel will ich auch!) Beatrice Müntener findet, man habe hier alle Vorteile eines Dorfs und alle Vorteile einer Stadt: «Das Quartier ist sicher, die Kinder können allein in den Musikunterricht gehen, und das Gschnurr hält sich in Grenzen.»

Übrigens, am letzten Züri-Fäscht schlief ich richtig gut. Ich trug Ohropax, darüber stülpte ich einen Pamir – diesen Gehörschutz, den die Soldaten im Militär bei den Schiessübungen tragen. Um den Kopf wickelte ich ein grosses Kissen, das Gemüt beruhigte ich mit drei Caipirinhas. Mein Herz tanzte im Takt des House-Bass. Am Morgen danach fühlte ich mich frisch und erholt. Als ich das Fenster öffnete, zwitscherte mir Consuela zu.

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Anfang der Neunziger war das Niederdorf der Place to be, danach ging es bergab mit der wilden Altstadt, die Hipster chillen lieber im viel cooleren Zürich-West.

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Der Hafenkran soll dem Zürcher Niederdorf wieder neues Leben einhauchen.

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Trotz des hohen Lärmpegels: Das Dörfli hat Charme.

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Fränzi Nanopoulos, Ladenbesitzerin und gute Seele des Dörfli

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Treue Nachbarin: Amsel Consuela

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