Stil
«Was zum eigenen Leib gehört, wird mit Kraft assoziiert»
- Text: Aleksandra Hiltmann; Foto: iStock
Der letzte Schrei: Schmuck aus Zähnen, Haaren, Muttermilch oder aus der Asche von Verstorbenen. Wir haben mit einer Expertin über die Magie von menschlichem Schmuck gesprochen.
Corinna Egdorf hat Kulturwissenschaft und Schmuckdesign studiert, forscht zu Mythologie in der Popkultur und hat diverse Ausstellungen kuratiert, unter anderem zur Geschichte des Schmucks und der Modetheorie.
annabelle: Schmuck aus Haaren, Perlen aus Muttermilch, Diamanten aus Totenasche. Verstehen Sie das?
Corinna Egdorf: Natürlich. Zähne, Haare oder auch Muttermilch werden auf der ganzen Welt seit Jahrtausenden mit Lebenskraft und Unsterblichkeit assoziiert. Sie werden geopfert, als Zeichen der Trauer abgeschnitten oder als Erinnerung aufgehoben. Gerade die Erinnerung an Momente oder geliebte Personen ist eine wichtige Funktion von Schmuck. Ein Diamant aus der Asche einer verstorbenen Person, zum Beispiel, ist eine Art Mensch gewordenes Objekt, fast wie eine Reliquie. Grundsätzlich hat Schmuck immer eine soziale und psychologische Funktion und ist immer auch ein Kommunikationsmittel.
Auch ein Statussymbol?
Ja. Früher haben sich Jäger mit Zähnen oder Haaren erlegter Tiere geschmückt. Elfenbein und Skalps galten als respektable Trophäen. Dieser Körperschmuck machte Jäger auch sexuell attraktiv. Könige wiederum demonstrierten mit ihrer Haarpracht Macht und Individualität. Auch die Perlen aus Muttermilch sind ein Statussymbol. Es besagt: «Ich bin Mutter, ich kann gebären, ich stille.» In unserer Gesellschaft gilt: Wer lang stillt und viel Zeit mit dem Kind verbringt, ist eine gute Mutter. Das lässt sich entsprechend vermarkten.
All diese Schmuckstücke werden aufwendig hergestellt. Auch die Nachhaltigkeit der Materialien spielt eine Rolle. Sind sie damit ein Statement gegen die Konsumgesellschaft?
Ich glaube nicht, dass der Nachhaltigkeitsaspekt hier an erster Stelle steht. Aber natürlich spielen solche Überlegungen mit, wenn sich jemand für ein Schmuckstück entscheidet. Je nach Alter und Milieu verbindet man ein entsprechendes Statement oder eine persönliche Information mit dem Schmuck, den man trägt. Wenn man älter ist, kommt man eher an einen Punkt, an dem man von billigem Modeschmuck ablässt und sich etwas kaufen möchte, was die eigene Persönlichkeit hervorhebt, das betrifft dann sicher auch Einstellungen gegenüber der Nachhaltigkeit und der Umwelt.
Warum «grauselt» uns die Vorstellung, einen menschlichen Zahn am Hals zu tragen, doch auch ein wenig?
Dazu gibt es eine interessante Theorie. In «Pouvoirs de l’horreur», Kräfte des Schreckens, beschäftigt sich die französische Philosophin Julia Kristeva mit der Frage, warum etwas, das weder ganz Objekt noch Subjekt ist, gleichzeitig faszinierend und abstossend sein kann. Diese Frage lässt sich auf unser Thema übertragen: Haare oder Fingernägel sind Teile von uns selbst. Aber sobald wir sie vom eigenen Körper ablösen, verwandeln sie sich in etwas, das man von sich stösst – obwohl es ja keine völlig fremden Objekte sind.
Die aber dennoch so faszinieren, dass manche sie als Schmuck tragen wollen. Ist das eine Art zwiespältige Obsession für den eigenen Körper?
Irgendwie schon. Wir waren schon immer fasziniert von unserem Körper. Oft möchten wir auch das, was zum eigenen Leib gehört, nicht weggeben, weil wir damit eine Kraft assoziieren. Über den Schmuck hoffen wir, diese Kraft in uns aufnehmen zu können. Das hat natürlich viel mehr mit der eigenen Vorstellungskraft zu tun als mit dem Material des Schmucks an sich.
1.
Für viele Mütter ist die Stillzeit eine ganz besondere Zeit. Wer sich diese Momente bewahren will: Das Atelier Miah in Winterthur stellt Schmuck aus Muttermilch her. In einem speziellen Verfahren wird die Milch präserviert und in Kunstharz gegossen.
– miah.ch
2.
Jakob Schiess flicht menschliches Haar zu Ringen, Broschen oder Armbändern – eine alte Tradition im Appenzell. «Im Haar steckt eine unglaubliche Energie», sagt er. Die Schmuckstücke sind Zeichen der Ver- bundenheit, oft aber auch Erinnerungsstücke an Verstorbene. Schiess arbeitet mithilfe einer Flechtvorrichtung, auf der die Haare aufgespannt und nach einer bestimmten Reihenfolge unter- und übereinandergelegt werden.
3.
Die Bündner Firma Algordanza – rätoromanisch für Erinnerung – stellt aus der Asche von Verstorbenen Diamanten her: Mittels Druck und Temperatur bildet der aus der Asche gewonnene Kohlenstoff Gitterstrukturen. Die Diamanten sind weltweit gefragt. Neunzig Prozent der Bestellungen, so Geschäftsführer Rinaldo Willy, kämen aus dem Ausland. Vorwiegend aus Europa, den USA und Indien.