Stil
Schön einsam: Reisebericht von der Ägäis-Insel Leros im Winter
- Text: Gero Günther, Fotos: Peter Neusser
Im Winter kann es frisch werden auf der Ägäis-Insel Leros, stürmisch und rau. Gäste sind in den kühlen Monaten selten, aber umso willkommener. Griechenlandferien mal anders.
Tief unten tobt das Meer. Feigenbäume scheuern an den Mauern des Kástro, einer wuchtigen Burg, die 400 Stufen oberhalb des Dörfchens Plátanos aus dem kargen Felsen ragt. Böen blasen gegen das Gemäuer, als wollten sie die Festung zum Einsturz bringen. Der Sturm zerrt an meiner Kleidung, wir bibbern wie die Schneider. Selber schuld: Ich war es, der zur Unzeit nach Leros reisen wollte. Bedauern? Überhaupt nicht! Zu keiner anderen Jahreszeit hat man die Insel ganz für sich allein. Im Windschutz der wehrhaften Mauern sitzen wir an der Sonne, das Frösteln ist schnell vergessen. Unruhig flimmert das zerknitterte Meer. In den zimtfarbenen Hügeln liegen die Häuser wie Würfelzucker verstreut.
Und dann ist da noch dieses irritierende, frühlingshafte Grün, das im Sommer einer verdorrten Landschaft weicht. Jetzt, im Januar, blüht hier gerade die Kamille. Und reife Orangen hängen wie Christbaumkugeln an den Bäumen. In Alínda, dem touristischen Herzen der Insel, wachsen sogar Guaven. Der Ort platzt im Juli aus allen Nähten, jetzt ist er still und leer. Marianna Angélous villaartiges Hotel, einst Sommerresidenz der Familie, steht in einem prächtigen Garten voller Zitrusfrüchte. Das Obst verarbeitet sie zu Kompott, Konfitüre und Säften. Jeden Morgen überrascht sie uns mit einer neuen Frühstückskreation. «Auf Leros wächst vieles nur im Winter», sagt Marianna, die zwischen Athen und ihrer Heimatinsel pendelt. «Ich bin selber immer wieder überrascht, wie sich die Insel mit den Jahreszeiten verändert: Im Sommer liegt sie faul in der Sonne, im Winter erwacht sie zu neuem Leben.»
Ein launisches Meer und Stifado
Ursprünglich hatten wir vor, Leros per Mountainbike zu erkunden. Schnapsidee! Dafür sind die Tage zu kurz und der Wind zu garstig. Schon am zweiten Tag mieten wir uns ein Auto. Mit dem kleinen roten Flitzer können wir die Insel viel spontaner erkunden. Sie ist wild und zerklüftet, und die vielen Buchten, Hügel und Berge machen einem die Orientierung schwer. 71 Kilometer Küste: sanfte Kiesstrände, schroffe Klippen und einsame Kaps. Heute ist das Meer launisch und strotzend vor Kraft. Mal sprüht die Gischt wie Schnee übers anthrazitfarbene Wasser, dann wieder sind die Wellen pflaumenblau und voller Glitzer. Im Radio unseres Mietwagens laufen griechische und türkische Sendungen. Das anatolische Festland ist nur ein paar Seemeilen entfernt und scheint zum Greifen nahe.
Dass um diese Jahreszeit nur wenige Restaurants geöffnet sind, ist uns egal, wir fahren sowieso am liebsten zu Apostolis nach Pandéli. In seinem Lokal, das im Sommer ständig ausgebucht ist, herrscht nun Wohnzimmer-Atmosphäre. An einem Tisch schält ein Mann Kartoffeln, an einem anderen sitzt die Tochter bei den Hausaufgaben. Ständig kommen Freunde und Verwandte herein. Wir essen Stifado (Eintopf aus Zwiebeln, Rindfleisch, Knoblauch, Tomaten und Nelken), dazu grillierte Sardinen und Tintenfisch, in Salz gepresste Makrele und herrlichen Wintersalat. Um frischen Fisch zu kaufen, muss Apostolis bloss ein paar Schritte durch den Kies stapfen. Vom kleinen Hafen vor der Haustür tuckern die Fischer jeden Morgen aufs Meer hinaus.
Zumindest normalerweise. Denn momentan bleibt den Männern nichts anderes übrig, als im «To Tzoúmas» zu sitzen, einem Fischertreff direkt beim Hafen. «Bei dem Wind fahre ich nicht raus», sagt der Mann mit der schwarzen Pudelmütze. So trinkt er eben Kaffee, spielt Tavli und unterhält sich mit uns Fremden, die wir hier jeden Tag vorbeischauen, weil uns die Beiz so gut gefällt – auch als der Sturm längst nachgelassen hat und die kleinen Boote wieder aufs Meer hinausfahren. 8500 Menschen leben auf Leros, Touristen verirren sich in den kühlen Monaten kaum hierher, höchstens ein paar auswärtige Arbeiter sind damit beschäftigt, die Hotels und Pensionen für die Hochsaison instand zu setzen.
Überall werden wir mit offenen Armen empfangen. «Alles klar?», brüllt ein Riese an der Supermarktkasse auf Englisch und reicht mir seine Pranke. «Seit wann wohnt ihr auf der Insel?» Selbst die Ziegenhirten, hoch über dem Hafen von Lakki, bitten uns sofort in ihre Hütte und versorgen uns mit frisch gesenntem Käse. Die Ställe sind aus alten Brettern und Türen, Wellblech und Maschen“
draht zusammengeflickt, überall wuseln und hüpfen Geissen herum. Drinnen steht Giorgios Harinnos am Kessel und rührt mit einem Holzlöffel in der stockenden Milch. Mit 15 hatte der 92-Jährige mit dem Käsen angefangen. Er erinnert sich noch an die Bombenangriffe während des Zweiten Weltkriegs. «Ich lebte damals in den Bergen und versuchte nur noch, die Ziegenherde zusammenzuhalten.»
Ein zweifelhafter Ruf
1912 wurden die Dodekanischen Inseln, damals noch Teil des Osmanischen Reichs, von den Italienern besetzt. Später stampften die Faschisten für ihren Marinestützpunkt die Musterstadt Lakki aus dem Boden. Uns gefallen die viel zu breiten Boulevards und die avantgardistische Architektur. Vergisst man ihre Geschichte, so sind es elegante Betonbauten mit modernistischen Formen. Man wähnt sich schon fast in einem Gemälde von Giorgio de Chirico, nur dass uns statt Gliederpuppen Schüler begegnen, die mit Turnsäcken aufeinander werfen.
Nach der Befreiung durch die Alliierten wurde Leros in den griechischen Staat integriert und in Lakki die grösste psychiatrische Klinik Griechenlands eröffnet. Mehr als 2500 Patienten wurden hier zeitweise unter katastrophalen Bedingungen verwahrt und weggesperrt. Die Anstalt war einer der grössten Wirtschaftsmotoren der Insel, Tourismus war nur ein Nebengeschäft. Erst auf Druck der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wurde in den Achtzigerjahren die Mehrzahl der Patienten enthospitalisiert und ein professioneller medizinischer Betrieb eingeführt. Es wundert nicht, dass Leros lange einen zweifelhaften Ruf genoss und sich Feriengäste lieber an den Stränden der Nachbarinseln sonnten. Trotzdem wertet dies heute so mancher als Vorteil, da Leros durch das düstere Kapitel der psychiatrischen Klinik von touristischen Grossprojekten verschont geblieben ist.
Von Lakki aus fahren wir frühmorgens mit Michalis hinaus aufs Meer. Er will uns zeigen, wie man Kraken fischt – und das bei Windstärke 7. Unsere Jacken knattern wie Feuerwerkskörper. «Seht ihr», schreit Michalis, der früher auf Frachtschiffen und Fischerbooten angeheuert hatte, «in unserer Bucht gibt es selbst bei Sturm kaum Wellen.» Natürlich untertreibt er. Michalis lässt eine Angelschnur ins Wasser gleiten, an deren Ende ein aufgeschnittener Fisch befestigt ist. Mit der einen Hand führt er das Ruder des fahrenden Boots, mit der anderen zieht er an der Schnur. Stoisch wiederholt er den Vorgang Hunderte Male. Einmal hängt etwas an der Leine und löst sich wieder, ehe Michalis mit dem Dreizack zur Stelle ist.
Endlich, nach einer Stunde, hat eine kleine Krake angebissen. Stolz tuckern wir mit unserer Beute zurück in den Hafen. Dort tippt sich Michalis’ Bruder an die Stirn und schüttelt den Kopf. «Seid ihr wahnsinnig? Bei diesem Wind aufs Meer zu fahren?»
Wie schnell das Wetter auf Leros wechseln kann, erfahren wir zwei Tage später, als Apostolis, unser Lieblingswirt in Pandéli, bei frühlingshaften Temperaturen vor seiner Taverne grilliert. In einer Vertiefung im Kies lodert ein Holzfeuer. «Wie wir es als Buben gemacht haben», sagt er. «Ein paar Fische aus dem Meer ziehen, ein bisschen Ouzo, der Rest ergibt sich von selbst.» Bis spätabends sitzen wir mit Apostolis’ Freunden draussen um die warme Glut.
Ziegenkäse mit Oliven
Unsere Hände riechen noch immer nach Fisch, als wir anderntags auf dem Gipfel des Markelos unser Picknick auspacken. Schon beim Anflug auf Leros war uns die grandiose Steilküste im Nordwesten der Insel aufgefallen. Eine Viertelstunde nur dauert die Fahrt von Pandéli nach Kamara, von dort holpern wir ein Stück weit den Berg hinauf und lassen den Wagen schliesslich stehen. Hirten, die zu ihren Ställen reiten, grüssen von ihren Pferden herab. Yassas! Jetzt einfach über den Kamm nach oben wandern. Als wir den Gipfel erreichen, haben wir schon mehrere Kleiderschichten abgelegt. Wir setzen uns zwischen die Reste einer ehemaligen Geschützstellung und essen Ziegenkäse mit Oliven, die Kerne spucken wir über die Klippen, wo sich einsame Buchten 250 Meter tiefer an den Berg schmiegen.
Später klettern wir hinunter zum Kap. Es ist ein saftiges, frisches Griechenland, das wir beim Abstieg erleben. Weit und breit kein Mensch. Nicht einmal Ziegen. Nur Klippen und Wasser. Auf einer Felsplatte strecken wir uns in der Mittagssonne aus. Der Himmel ist blau und wolkenlos. Leise schwappen die Wellen gegen die Felsen. Wie klar das Wasser ist! Ich stecke die Hand hinein. «Du wirst es kaum glauben», sage ich zum Fotografen, «das Meer ist ziemlich warm.» Gut, dass ich die Badehose eingepackt habe.
1.
An stürmischen Tagen der Ort, wo sich die Einheimischen nicht nur Fischerlatein erzählen: Kafenio To Tzoúmas in Pandéli
2.
Netz flicken – und dann vielleicht noch auf einen Kafedaki ins Fischerbeizli
3.
Blütenzauber im Januar: Gässchen im Hauptort Aghia Marina
4.
Der 92-jährige Giorgios Harinnos: Der Mann für alte Geschichten …
5.
… und frischen Ziegenkäse
6.
Touristentummelplatz Alínda – noch in der Winterruhe
7.
Wer hier Ziegen halten will, darf keine Angst vor Hörnern haben: Hirte bei Lakki
8.
Architektonischer Zeuge der italienischen Besetzung in Lakki: Das Kino, Baujahr 1936
9.
Beten kann nicht schaden: Messfeier in einer Kapelle
10.
Ist die Glut entfacht, kann der Abend lang werden: Grillparty mit Wirt Apostolis am Strand von Pandéli
11.
Gastgeberin im Hotel, das einst Sommerresidenz ihrer Familie war: Marianna Angélou