Analog im Hier, digital im Jetzt – wir leben zunehmend zwei Leben zugleich. Ein Phänomen, das sich in der Mode widerspiegelt, sagt annabelle-Modechefin Daniella Gurtner.
annabelle: Was bringt uns der nächste Modesommer?
DANIELLA GURTNER: Überraschendes. In den vergangenen Saisons liessen sich die Retro-Einflüsse eindeutig zuordnen: Da waren die Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahre. An den Shows für diesen Sommer aber konnte ich die Kollektionen erst gar nicht kategorisieren, bis mir klar wurde: Es sind die Neunzigerjahre.
Woran war das zu erkennen?
Die Slipdresses kommen wieder. Die seidenen Négligés, die Courtney Love oder Kate Moss in den Neunzigern zum Abendkleid erklärt haben, waren bei Labels wie Calvin Klein oder Céline zu sehen. Und Louis Vuitton hat Plateauschuhe gezeigt, die an die Raverboots von damals erinnern. Oder auch die eng anliegenden Halsbänder und die Fussketten, die heute aber massiver sind. Sehr cool! Und das Wichtigste: Nach den Retro-Trends der letzten Saisons sind wir auf einen Schlag in der Gegenwart angekommen.
Gegenwart?
Die Neunziger liegen schon zwanzig Jahre zurück! Klar. Interessant ist aber: Viele damalige Trends sind bis heute geblieben. Etwa Turnschuhe zu Anzügen oder der Unisextrend. Ich erinnere mich an ein Bild aus jener Zeit von Sharleen Spiteri, Sängerin der Band Texas, auf dem sie Sneakers, eine Anzughose und einen langen Blazermantel trug. Der Look wurde zeitweilig zu meiner Uniform – und damit kann man auch heute nichts falsch machen. Die Neunzigerjahre wirken ultramodern und sind vielleicht gerade deshalb nur schwer auf einen Nenner zu bringen.
Immerhin kann man die Ikonen jener Zeit benennen: Kate Moss und Helmut Lang.
Zeitgleich gab es aber die avantgardistischen Designs von Rei Kawakubo für Comme des Garçons. Oder Alexander McQueens Retro-Entwürfe, die mit ihrer Opulenz und den historischen Referenzen den Gegenpol zu den reduzierten Designs eines Helmut Lang bildeten.
Das Nebeneinander von Stilen, wie es damals revolutionär war, blieb bis heute bestehen?
Mehr als das. Labels wie J. W. Anderson oder auch Céline haben die Reduktion eines Helmut Lang weiter differenziert. Und auch der Begriff Opulenz hat eine neue Dimension erreicht: Alessandro Michele entwirft für Gucci Mode, die gleichzeitig eine maximale Anzahl von Einflüssen vereint, von der Sorgfalt der Haute Couture bis zur Nachlässigkeit von Streetstyle. Was aussieht wie das Resultat eines fröhlichen Flohmarkt- Shoppings, ist in Wahrheit extrem aufwendig gefertigt: Das Mischen von Materialien, das Nebeneinander der Silhouetten, die zahlreichen Schichten – da ist nichts dem Zufall überlassen. Diese Fusionlooks verweisen auf die Vergangenheit, ohne dass sich ausmachen lässt, welche Zeiten da gerade als Referenzen dienen – das ist retro und sehr neu zugleich.
Das Sampeln verschiedener Dekaden hat seinen Ursprung also in den Nineties. Das war die Zeit, als das Modebusiness explodierte.
Mit H&M, Topshop und Zara begannen die Highstreetlabels ihren Siegeszug, neue Brands wie etwa Evisu-Jeans aus Japan kamen dazu. Das führte zu einer tief greifenden Demokratisierung der Mode. Plötzlich konnte sich jeder modisch kleiden, und die Einflüsse der Strasse wurden immer wichtiger.
Inzwischen ist das Modediktat quasi implodiert. Es gibt kaum mehr Regeln. Macht das das Styling nicht extrem kompliziert?
Das stimmt tatsächlich. Die Designer schlagen für diese Saison komplexere Stylings denn je vor. Nicolas Ghesquière kombiniert für Louis Vuitton Bikerjacken mit viktorianischen Blusen. Das liegt nun wirklich nicht nahe. Aus der Gleichzeitigkeit von technoiden und historischen Referenzen entsteht etwas komplett Neues.
Viele Frauen überfordert das. Im vergangenen Jahr machte eine New Yorkerin Schlagzeilen, die sich damit behalf, jeden Tag das Gleiche zu tragen.
Eine Uniform ist eine Radikallösung. Besser ist es aber, die Freiheit gezielt zu nutzen. Mode spiegelt die Digitalisierung unseres Alltags, und auch da ist es so: Die Technik überfordert uns einerseits, andererseits macht sie uns das reale Leben einfacher. Ein bewusster Umgang mit der Gleichzeitigkeit beider Welten erleichtert vieles. Zum Beispiel darf man das Smartphone ruhig mal ganz bewusst ausschalten. Sorry, meins piepst grad – Zeit für die Yogastunde.