Reisen
Angst im Gepäck: Wie es ist, als Frau allein reisen zu gehen
- Text: Anna Miller
- Illustration: Zhigang Zhang
Frauen reisen heute durch die Welt, im Glauben, genauso frei zu sein wie ein Mann. Doch als unsere Autorin loszog, lernte sie: Das ist eine Illusion.
Einfach drauflos. Den Rucksack packen, ins Flugzeug steigen, auf die andere Seite der Welt fliegen. Keine Termine, keine Verpflichtungen, Nein sagen zu allem, was an zuhause erinnert. Den Kopf lüften – frei sein. Ich ahnte: Dieser Schritt ist wichtig für mich. Er ist gross. Und er wird mich wachsen lassen.
Eine Reise allein ist für alle eine Mutprobe. Doch sich zu trauen, allein als Frau in die Welt zu gehen, ist mehr als das: Es ist politisch. Wir stellen unsere Körper auf die Strasse, setzen sie auf Barhocker und checken allein in Hotelzimmer ein. Wir mieten allein Autos und tanken allein Benzin. Was klischiert klingt, hat nichts Selbstverständliches an sich; in manchen Teilen der Welt ist es Frauen noch immer verboten, sich allein durch den öffentlichen Raum zu bewegen – geschweige denn, ohne Begleitung eines Mannes oder gar allein in die Welt zu ziehen. Die allein reisende Frau ist deswegen ein feministisches Statement.
Und so begann ich in den Monaten vor meinem Reiseantritt, zu recherchieren. Ich googelte Reiseziele, folgte Frauen auf Social Media unter dem Hashtag #solofemaletravel. Sie waren allein auf einem Berg. Allein im Restaurant. Allein am Strand. Allein im Zelt oder vor ihrem Van. Strahlend, ermutigend, braungebrannt. Manchmal auch remote arbeitend.
Immer aber sahen sie aus, als hätten sie die beste Zeit ihres Lebens. Ich las all die Blog-Einträge, die davon schwärmten, wie toll das Leben als Alleinreisende sei, wie empowering. Viele der Frauen hatten gerade eine Trennung hinter sich, wollten raus aus alten Strukturen oder hatten ihr eigenes Land noch nie verlassen. Die grosse Reise allein sah aus wie ein Symbol des Widerstands.
Also brach ich auf. Buchte im Juli 2022 einen Flug nach Vietnam, ohne Rückflug. Kündigte meinen Job. Kaufte den Rucksack, das Moskitonetz, den E-Reader. Und zuletzt trockene Seife statt flüssiger, weil plötzlich jedes Gramm zählte. Ich stellte mir vor, wie ich auf einem Pferderücken durch die Wildnis streifte, durch die Nacht fuhr, durch den Dschungel wanderte. Und steigerte mich so sehr in meine Vorfreude hinein, dass ich mich tatsächlich dem Glauben hingab, beim Reisen genauso frei zu sein wie ein Mann.
«Ich wollte genauso frei sein wie die Männer, die ich auf meiner Reise überall sah»
Und dann war es so weit. Ich landete. An Flughäfen und in Hotellobbys, an Stränden, in Hostelzimmern und in Bars. Ich landete an Orten, an denen ich viele interessante Menschen kennenlernte und Neues erlebte, ich mietete mir in Australien einen VW-Bus und machte Kampfsport in Thailand, ich wanderte in Japan und ass Suppe in Hanoi. Ich landete zehn Monate lang in verschiedenen Ländern – und in der Realität.
Denn irgendwann dämmerte mir: Diese Frauen, die ich im Internet gesehen hatte, Hashtag #solofemaletravel, waren gar nicht alle allein. Nur auf den Fotos. In Wahrheit aber reisten manche von ihnen gemeinsam mit der Schulfreundin oder liessen sich am Flughafen vom Hotel abholen oder gingen mit einem Local aus, der sie vor den Blicken anderer Männer abschirmte. Sie waren eigentlich mit ihrem Boyfriend unterwegs, auf Gruppenreise oder wurden für ein paar Tage vom Hotel eingeladen, weil sie als Influencerin arbeiten.
Natürlich waren die Fotos für Social Media gemacht. Natürlich zeigen sie nicht die Realität. Ich wusste das. Dennoch traf mich die Erkenntnis wie ein Schlag: Allein zu reisen, wird für mich nie die gleiche Erfahrung sein wie für einen Mann. Ich war vermeintlich frei – aber nie ganz.
Die Erkenntnis war bitter. Und sie kam mit einer Sehnsucht im Gepäck, tiefer und wütender und trauernder, als ich es vielleicht in Worte fassen kann. Ich wollte genauso frei sein wie die Männer, die ich auf meiner Reise überall sah: In Bars flirtend, auf Motorrädern rasend, beim Trampen sorglos wartend, in Hängematten friedlich schlafend. Sie waren unbeschwert, wähnten sich in Sicherheit.
Während ich in exakt den gleichen Situationen so viele Male dachte: Klar, rein rechnerisch könnte ich das auch. Ich könnte jetzt einfach hier sitzen bleiben, in dieser Kneipe, obwohl es draussen schon dunkelt, und mich an den Tisch mit euch Männern aus dem Dorf setzen. Ich könnte bleiben, bis die Sonne untergegangen ist. Ich könnte lachend und mit Google Translate versuchen, mit euch ins Gespräch zu kommen. Ich könnte die Einladung des einen, mich nach Hause zu bringen, annehmen.
Auf dem Rücksitz seines Motorrads sitzend könnte ich mit ihm durch die Nacht kurven, mich wild und unbeschwert fühlen – aber ich würde das Pfefferspray in meiner Tasche noch ein wenig enger umklammern. Ich würde versuchen, irgendeiner Freundin auf der anderen Seite der Welt meinen Standort zu schicken, nur zur Sicherheit. Ich würde mir Hunderte Male in meinem Kopf ausmalen, wohin ich renne, wenn der neue Bekannte plötzlich von der Strasse ins Dunkel abbiegt und mehr will. Mehr, als ich zu geben bereit bin. Welche Chance hätte ich? Welche hätte er?
«Ich war naiv, zu glauben, dass ich meinen Kopf ausschalten könnte, nur weil ich unterwegs bin»
Und während er mich durch die Nacht fährt, würde ich mich schimpfen wegen dieses Kopfkinos, das mir den Moment der Unbeschwertheit versaut. Geniess doch das Leben, Anna! Was soll schon passieren?!
Vielleicht nichts. Vielleicht passiert in den allermeisten Fällen wirklich gar nichts Schlimmes.
Doch da ist dieses Wenn, das wir als Frauen alle kennen. Ich rechne die Gefahr, die vom Gegenüber ausgehen könnte, mit. Diese Kalkulation ist uns Frauen so eingebrannt, dass wir sie gar nicht mehr aktiv überlegen, geschweige denn artikulieren. Wir überlegen uns, welche Wege hell genug sind, welche Ausgänge breit genug, welcher Mann sicher genug ist für einen Kuss, welcher für ein Date oder für eine Motorradfahrt nach Hause.
Ich war naiv, zu glauben, dass ich meinen Kopf ausschalten könnte, nur weil ich unterwegs bin. In Bezug auf Arbeits-E-Mails in meinem Postfach irgendwann, vielleicht. In Bezug auf die Wohnung zuhause, die Beziehungen, das Wetter, die Sprache. Aber ich werde nie vergessen, wie es ist, auf mich achtgeben zu müssen, um meine körperliche und emotionale Unversehrtheit zu verteidigen. Niemals und nirgendwo.
Ich werde nie vergessen, dass es immer einen Unterschied machen wird, dass ich als Frau gelesen in diese Welt hinausgehe. Und dass meine reine physische Präsenz an so vielen Orten eine indirekte Einladung auslöst. Mich anzusprechen. Mich anzusehen. Mich als ungeschützte Person wahrzunehmen, die man sich aneignen darf. Wie viele Stunden Arbeit mich diese Annahmen gekostet haben. Wie viele Vorkehrungen, wie viele Gedanken, wie viele Hemmungen.
Und so verinnerlichte ich die Regeln für unterwegs: Schauen, wo das Hotel liegt und wie ich am schnellsten dort ankomme. Über Apps das Taxi bestellen, checken, wie viele Sterne der Fahrer in der Onlinebewertung hat. Fragen nach dem Zivilstand ausweichen. Im Zweifel einen Ehemann vor täuschen. Nicht zu lange in die Augen schauen. Kein Körperkontakt, keine falschen Bewegungen. Im öffentlichen Raum, je nach Land, nicht lächeln, nicht zu offen sprechen. Nie sagen, in welchem Apartment man wohnt. Die Fahrstrecke prüfen. Niemanden einfach so aufs Zimmer lassen. Auf Social Media nicht in Echtzeit posten, damit der Standort nicht bekannt wird.
Das stand alles nicht im Internet unter #solofemaletravel. Das waren die Erzählungen und Tipps der Frauen, die ich kennenlernte, je länger ich reiste, auch meine eigenen Erfahrungen. Es war der Schatten, der sich über meine Reise legte, jeden Tag: meine Travel Mental Load.
Egal, könnte man entgegnen. Ist doch nichts passiert. Gehört halt zum Reisen dazu. Jede:r hat Probleme, du musst im Ausland auch auf dein Portemonnaie achten und darauf, dass du keinen Hitzschlag kriegst.
Vielleicht.
Vielleicht ist die Travel Mental Load auch einfach mein Problem, ganz individuell. Meine Angst und meine Vorsicht, hervorgerufen durch die Tatsache, dass ich 36 Jahre alt bin und nicht 18, dass ich schon Dutzende Übergriffserfahrungen im öffentlichen Raum erleben musste. Und das in der Schweiz, mitten am Tag, in einer Kultur, die ich kenne.
Vielleicht reicht es ja auch, das Abenteuer und die grosse Freiheit nur zum Teil und nicht bis ganz zum Schluss zu erleben; vielleicht muss ich also nicht auf das Motorrad eines Fremden steigen oder mit den Männern aus dem Dorf in der Bar sitzen. Vielleicht trauen sich die meisten Männer ja auch nicht, eine Hängematte im Dschungel zu spannen. Vielleicht liegt meine Angst nicht in meinem Geschlecht begründet, sondern in meiner Persönlichkeit. Vielleicht werde ich, weiss Gott wann, doch noch eine Abenteurerin, in ein paar Jahren. Vielleicht fahre ich dann doch noch angstbefreit und allein mit einem Jeep durch die Wüste.
Doch bis dahin werde ich trauern. Darüber, dass ich mich, egal wie mutig ich bin, nicht so sicher fühlen kann wie ein Mann.
«Vor dieser Reise dachte ich, wirklich mutig und stark und feministisch sei ich nur, wenn ich die Strasse entlanglaufe und mir die Blicke der Männer gefallen lasse»
Ich habe diese grosse Reise gemacht, und ich habe viel Schönes erlebt. Manchmal war es anstrengend, und manchmal war es leicht. Doch was mich über all die Monate nie verlassen hat, ist die Vorsicht, die es auf einer solchen Reise braucht. Diese Frage, wie und wo ich mich sicher bewegen kann. All die beschriebenen Mikro-Störungen und Gedanken zu meiner eigenen Sicherheit machten mich müde. Unsicherer. Weniger abenteuerlustig.
Sie kosteten mich Energie und Geld, das ich für meine eigene Unversehrtheit zahlte, für Taxis oder Female Dorms, die so gut wie immer mehr kosten als gemischte. Die Travel Mental Load kostete mich genau dieses Gefühl von Unbeschwertheit, die ich mir am meisten für mich gewünscht hatte – und die ich den Männern vielleicht am meisten neide.
Ob ich wieder losgehen würde? Auf jeden Fall. Aber ich werde mich nicht mehr aussetzen. Vor dieser Reise dachte ich, wirklich mutig und stark und feministisch sei ich nur, wenn ich die Strasse entlanglaufe und mir die Blicke der Männer gefallen lasse. Wenn nichts und niemand meine Freiheit einschränken darf. Wenn ich gegenhalte. Wenn ich eine mehr bin, die sichtbar wird, auf den globalen Strassen des Patriarchats.
Doch in Zukunft wird mein Aktivismus in der Sicherheit liegen, die ich mir leiste. Ich werde meine Ängste ernstnehmen und mir all das geben, was ich brauche, um mich so zu fühlen, wie ich mich fühlen möchte, wenn ich in die Welt gehe: entspannt, offen, neugierig und verbunden. Weil ich mutig bin und vorsichtig, unerschrocken und sensibel, offen und interessiert – aber auch Grenzen habe. Heute weiss ich: Nur in Sicherheit kann ich wirklich frei sein.