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Postkarte vom Rütli: Eine Wiese mit Kuhdreck

Stil

Postkarte vom Rütli: Eine Wiese mit Kuhdreck

  • Redaktion: Frank Heer; Text: Daniele Muscionico; Fotos: Fabian Unternährer

Das Rütli, oder: Unaufgeregter kann Nationalstolz kaum sein.

«Heuet, heuet, heuet, Lüüt, wer nid heuet, chund zo nüt.» Der Hang vom Rütli zum Vierwaldstättersee ist dekoriert mit langen, schlangenförmigen Schöchli, die von Bauern auf eine steile Wiese gezeichnet wurden. Schöchli – für Unterländer – sind Heuhaufen, die mit breiten Rechen zusammengezogen werden. Bereit zum Abtransport auf den nächsten Heustock. Mit neun Fingern sei die Schweiz gegründet worden. Dreimal drei Schwurfinger. Die genauen Vorstellungen der Schweizer Staatsgründung – wer wo wann was gegründet, unterschrieben oder geschworen hat – sind so eigenwillig wie die Schweizerinnen und Schweizer selber. Den Vogel nationaler Bescheidenheit hat Bundespräsident Ueli Maurer abgeschossen. Seine Definition der ehrfurchtgebietenden Nationalstätte: «Eine Wiese mit Kuhdreck.»

Frage: Gibt es auch nur ein einziges anderes Land, das in einem unebenen Stück Erde, von frei laufenden Rindern zugeschissen und nur per Schiff erreichbar, den symbolischen Ort seiner Identität erkennt? Schweizer machen kein Wesen um den Ort. Rütlifeiern absolvieren sie eher wortkarg. Generationen von Gelehrten, Historikerinnen und Freiheitsdurstigen aus aller Herren Länder hingegen haben sich bisher zuhauf am «stillen Gelände am See» erlabt und den Duft von Freiheit, Wilhelm Tell und Geissen tief inhaliert. Darunter Vaclav Havel, Bayernkönig Ludwig der Zweite, 1868 die englische Königin Victoria und 1980 auch Königin Elizabeth die Zweite, samt Prinz Philip.

Ein Nichtort

Eher unentschlossen latschen Schweizer die neuralgischen Rütlipunkte ab: den Schwurplatz, die Prairie du Grütli, die Picnic Area und die Staziun da la nav – deutsch: Schiffsstation. Das Rütli – ein Nichtort, den man selber mit Sinn bestücken muss. Falls man will. Am Ende landen alle in der Rütlibeiz. Vor dieser trottet gerade ein Zug Soldaten über die Wiese, für die Männer alleweil eine Abwechslung, wenn dem Leutnant sonst nichts mehr einfällt. Ob da heimlich Eide geschworen werden? Erinnerungen an den Reduit-Gedanken und die Vierzigerjahre wiederbelebt werden? Hie und da wird auch ein Sonderling gesichtet. Etwa der schmächtige Beinah-Soldat in selbst genähter Uniform, mit Unteroffiziersmütze und Pistolenhalfter, der sich ungefragt mitten in eine picknickende Schar von Viertklässlern stellt und hanebüchene Geschichtstheorien von sich gibt. Der Lehrer mischt sich nicht ein.

Wenn in der Schweiz etwas erhaben ist, dann sind es Berge und Felsen. Das senkrecht aus dem dunklen Vierwaldstättersee aufragende Gestein, trotzig bekränzt mit dunklen Tannen, ist die Blaupause des Reduit-Gedankens. Hier, in all dem abweisenden Granit und Geröll, eine Kuhwiese zu besuchen und schweizerisch dezent zu verehren, ist sowohl ein surrealer Witz als auch bescheidenste Grösse.

Gute Stube

Heimelig ist es in der Rütli-Stube im Restaurant Rütlihaus mit Urner Buffet und Wappenfenstern. Das Gelände am See ist wunderbar still – ausser wenn gerade Rütlischiessen oder Rütlirapport ist. — Restaurant Rütlihaus, Rütli, Tel. 041 820 12 74

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