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Postkarte aus Neukölln: Szeneviertel mit Pionierflair in Berlin

Stil

Postkarte aus Neukölln: Szeneviertel mit Pionierflair in Berlin

  • Text: Frank Heer; Fotos: Jörg Brüggemann

Kreuzberg war gestern. Neukölln ist Berlins Stadtteil der Stunde, Spitzname Kreuzkölln.

Wer will, kann bei Neukölln noch immer an Überfälle, Banden und Drogen denken. Dann gähnt der geübte Berlin-Fan, denn er weiss, dass Neukölln auch der angesagteste Kiez der Stadt ist. Heisst: Plattenläden, lustige Kneipen und billige Wohnungen. Richtig ist: Kein Stadtteil Westeuropas verändert sich zurzeit rasanter.

Zum ersten Mal kam ich in den Achtzigern nach Berlin-Neukölln, um meine Grosstanten zu besuchen. Ida, Frieda, Trude und Lehne wohnten an der Siegfriedstrasse. Wir tranken Filterkaffee, assen Streuselkuchen und spielten Rommé. Dazu lief der Fernseher. Neukölln war ein verschlafenes Arbeiterquartier, nur der nahe Flughafen Tempelhof liess die Grossstadt erahnen. Tagsüber machte ich mit meiner Mutter Ausflüge in den Tiergarten, zum Kurfürstendamm, Checkpoint Charlie oder ins KaDeWe. Am Brandenburger Tor konnte man auf ein Podest steigen und über die Mauer nach Ostberlin gucken. Man sah den Todesstreifen, ein paar Trabis und Fussgänger, die nicht in den Westen gucken konnten. Abends gab es Königsberger Klopse bei den Tanten. Sie starben, lange bevor das soziale Gefüge in Neukölln aus den Fugen geriet.

In den letzten Jahren stand der Stadtteil für Ghetto, arbeitslose Immigranten und Gewalt, zunehmend aber auch für attraktive Mieten, Kreativität und Kiezkneipen, die von mutigen Gastropiraten gekapert werden.

Wer dieser Tage entlang der Weserstrasse flaniert, hört schnell auf, sich die Cafés, Bioläden, Restaurants und Bars zu merken, die hier im Monatstakt öffnen: Es sind schlicht zu viele. Und seit 2010 der Flughafen Tempelhof dem Volk als Parkanlage übergeben wurde, erstreckt sich vor Neukölln ein Wiesenmeer, so gross wie der New Yorker Central Park. Kulturpessimisten beklagen schon die Gentrifizierung eines der letzten ungeschönten Quartiere Berlins. Wir geben Entwarnung: Solange sich an der Sonnenallee noch Ramschläden, Imbissbuden und türkische Tearooms reihen, bleibt Neukölln ein Stadtteil voller Pioniergeist, rauer Kanten, Geschichten – und schicken WiFi-Oasen.

DIE BESTEN TIPPS

ESSEN & TRINKEN

Zwecklos, Namen aufzuzählen, die Liste wäre endlos. Spazieren Sie entlang der Weserstrasse, biegen Sie ab in die Hobrecht- oder die Weichselstrasse, machen Sie einen Ausflug ins Schillerkiez.

EINKAUFEN

Die «Buchkönigin» hat ein Herz für ungewöhnliche Bücher.
— Hobrechtstrasse 65, www.buchkoenigin.de

Angeblich soll man auf dem türkischen Markt die besten Gözleme in ganz Berlin bekommen.
— Dienstag und Freitag von 12 bis 18.30 Uhr, Maybachufer, Schönleinstrasse

THEATER & KINO

In den Zwanzigern fanden hier wilde Tanzpartys statt, heute wird im Heimathafen Volkstheater mit anarchistischem Biss gespielt.
— Karl-Marx-Strasse 141, www.heimathafen-neukoelln.de

Das Passage Kino war 1909 Berlins erstes Lichtspieltheater. Der Saal ist noch immer erhalten, und die Bar im Foyer hat Kultstatus.
— Karl-Marx-Strasse 131, passage-kinos-berlin. kino-zeit.de

ANDERS SCHLAFEN

Dass das Quartier für Touristen immer interessanter werden würde, davon waren die Leute vom Hüttenpalast überzeugt, als sie in den Hallen einer alten Staubsaugerfabrik aus Wohnwagen Gästezimmer machten. Für Leute, die es konventioneller mögen, gibt es auch richtige Zimmer mit Bad.
— Hobrechtstrasse 66, Tel. 0049 30 37 30 58 06, Wohnwagen ab ca. 80 Fr., DZ ab ca. 80 Fr. inkl. Frühstück; www.huettenpalast.de

RELAXEN

Der Körnerpark ist eine Idylle im Häusermeer. Im Zitronencafé gibts Kaffee und Kuchen, Kultur und Ausstellungen.
— Schierker Strasse 8, www.esskultur-berlin.de

INFOS
www.visitBerlin.de

 

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1.

Schlafen im Wohnwagen: Im Hüttenpalast in Neukölln.

2.

Eines von vielen: Das Restaurant Lavanderia Vecchia.

3.

Der mehrfach preisgekrönte Fotograf Jörg Brüggemann hat für uns Neukölln porträtiert, wo er auch selber lebt. An diesem dynamischen Berliner Stadtteil mag er besonders die Kontraste, das Rohe und die soziale Durchmischung. Sein Wunsch: statt ständig die Gentrifizierung zu bejammern, «einfach gemeinsam eine gute Nachbarschaft leben». Die immer zahlreicheren Stadtfüchse sind hier allerdings nicht mitgemeint: Einer von ihnen hat Jörg Brüggemanns Freundin quasi vor der Haustür angefallen.

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