Händler, Züchter, Gaffer, Fahrende aller Art strömen zum grössten Pferdemarkt Europas: Der Markt im irischen Ballinasloe bietet ein einzigartiges Spektakel.
Jedes Jahr im Herbst wird das irische Ballinasloe zum Schauplatz eines einzigartigen Spektakels: Händler, Züchter, Käufer, Gaffer, Fahrende und Rosstäuscher aller Art strömen zum grössten Pferdemarkt Europas.
Oberstes Gebot auf diesem Markt muss sein: Traue keinem! Nicht den Farmern in ihrem löchrigen Tweed und den blauen Arbeitskitteln. Jenen schwatzhaften Schwerenötern, die Trauben von dösenden Pferden an einem einzigen Strick bei sich halten. Nicht den hartgesichtigen Jungs in Jeans und Allwetterjacken, die mit ihren Pferden zwischen den Marktbesuchern hindurchgaloppieren, sich mittels Geschreis und des drohenden Hämmerns der Hufe unerbittlich Gassen schaffend. Traue auch nicht den Kindern, die ihren Pferdchen mit Strick- und Stockschlägen das Äusserste und noch etwas mehr abverlangen, während sie ihnen schwer im Rücken hängen und die Spitzen ihrer Turnschuhe über Gras und Matsch schleifen. Die sagen «Das ist ganz brav», wenn sie meinen «Es hat aufgegeben».
Und traue schon gar nicht den Travellern, Irlands fahrenden Leuten, den Königen des Handels im Allgemeinen und des Handels mit Pferden und Hunden im Besonderen. Diesen mit allen Wassern gewaschenen Entrepreneuren mit ihren durch Not und ewiges Grenzgängertum geschärften Instinkten. Sie alle: irische Geschichtenerzähler, Wahrheitserfinder mit der unerbittlichen Gabe, jeden entschiedenen Nichtkäufer zu einem potenziellen Kunden zu quatschen. Mittels einer über Jahrhunderte bewährten Mischung aus zügellosem Witz und brüchigem Charme. Mittels ihrer katholisch geschulten Fähigkeit, Mitleid und Schuldgefühle in klingende Münze zu wandeln.
Auf dem Pferdemarkt in der Stadt Ballinasloe im Westen der Insel demonstrieren Händler diese Essenz des Irischseins seit 300 Jahren. Der Markt ist einer der ältesten Irlands, der grösste Europas. Über zehn Tage erliegt die Stadt ihrem Rummel. Verkaufsstände, Fahrgeschäfte, Umzüge, Fussgänger, Kutschen und Reiter blockieren die Strassen. Aus den überfüllten Pubs und Hotels tönt Livemusik und quellen Menschen auf die Trottoirs. Rund 100 000 besuchen den Markt in den ersten Oktobertagen in jedem Jahr. Treffen alte Bekannte und finden neue. Trinken. Erzählen und hören Geschichten. Trinken. Verkaufen, kaufen, verkaufen gleich weiter. Trinken. Liegen sich in den Armen. Um sich gleich darauf oder ein paar Stunden später zu prügeln. Ach ja, und das Trinken natürlich nicht zu vergessen.
An den Tagen der October Fair scheint die Insel bereit, jedes Klischee über sich zu erfüllen. An diesen Tagen ist Irland am irischsten, im Guten wie im Bösen. Am ersten Wochenende und dem darauffolgenden Samstag stehen bis zu 6000 Pferde auf dem Fair Green, der Marktwiese, zum Verkauf. Dazu Esel und Hunde, Hühner, Enten und Schafe. Und wer es schafft, seinen Ballast aus Mitgefühl, Tierliebe, seinen Sinn für richtig und falsch, seinen gesunden Menschenverstand, wenn es den überhaupt gibt, und eine gesunde Angst vor Gefahr an den Stadttoren abzulegen, der hat eine Chance, dieses so viel gepriesene, fehl gepriesene Land zu begreifen. Vielleicht sogar: es trotz alledem zu lieben.
Man darf sagen, auch Fingers ist ein Poet. Also: Er zählt zu den vornehmsten aller Lügner. Der langhaarige, graubärtige Fingers kommt aus einem Städtchen im County Donegal im Norden der Insel, 200 Kilometer von hier. Das ist den Iren in Ballinasloe nahe genug, um sich des ein oder anderen gemeinsamen Bekannten versichern zu können. Und weit genug für den alten Fingers, um hier als exotisch zu gelten.
In Donegal sprechen sie einen Akzent, den auch die Südiren nur mit Mühe verstehen. Im Frühjahr hatte es dort oben einen Autounfall gegeben, bei dem acht junge Männer, verteilt auf zwei Autos, ums Leben kamen. Ein Unglück, an dem nicht allein die vernachlässigten Strassen des County schuld waren. Die über Wochen allgegenwärtigen Bilder der Trauergesellschaften, wie sie die Särge der Jungen vor grandios wolken- und nebelverhangener Bergkulisse zwischen verwitterten Keltenkreuzen hindurch zu den Gräbern trugen, verbreiteten über die Zeitungen und Nachrichtensendungen landesweit einen neuen Begriff von Einsamkeit. Diesem Zustand entkommt Fingers in jedem Oktober nach Ballinasloe. Der Alte trägt seinen Tweed wie eine Verpflichtung, auf dem Kopf und als Jackett. Und in das Graubraun des Jacketts gesteckt einen auf das Irischste grünen Schal.
Einst, als der Begriff noch frisch und von Zugkraft war, hatte Fingers sich seinem Publikum als Horse Whisperer, als Pferdeflüsterer vorgestellt. Jetzt sagt Fingers: «Horse Whisperer, ach was. Ich weiss halt so ein paar Sachen.» Zum Beispiel: Wie man ein verrücktes Pferd beruhigt. «Wie?», frage ich. Die Zuhörer mehren sich. «Zunächst musst du eine bestimmte Eidechse suchen und fangen, einen sogenannten Mankeeper. Die setzt du auf einen Weissdornbusch und wartest, dass sie dort eines natürlichen Todes stirbt.» Die Vorstellung bereitet mir Vergnügen. «Lach nicht», murrt einer. «Und dann?», fragt ein anderer. Die tote Eidechse, doziert Fingers, muss gehäutet und ihre Knochen aus dem Fleisch getrennt werden. «Dann wirft man die Knochen in einen Fluss. Alle werden flussabwärts treiben. Bis auf einen.»
Der Alte sieht von Gesicht zu Gesicht. «Dieser eine treibt gegen den Strom!» Die Männer im Kreis schweigen. Diesen einen, sich dem Naturgesetz widersetzenden Knochen muss man aus dem Wasser fischen, sagt Fingers. Und zermahlen. Und das Mehl mit Öl vermengen. Und das Öl-Knochen-Gemisch in eine Amphiole füllen. Und die Amphiole an einem Lederband um den Hals, über dem Herzen tragen. Und wenn man mal einem tobenden Pferd gegenübersteht, nimmt man die Amphiole, gibt einen Tropfen des Knochenöls auf seine Finger und reibt es dem Gaul auf die Stirn. Das hilft. «Tausendfach erprobt», sagt Fingers. Keiner lacht.
Fingers greift in seine Umhängetasche und zieht ein paar Fotos heraus. Die Farben darauf sind trostlos, die Frisuren der Menschen abscheulich, die Siebzigerjahre-Herkunft der Bilder unzweifelhaft. Einer der Haarbanausen ist der Rockpop-Star Billy Joel. Ein zweiter der irische Fussballheld George Best. Neben Best und Joel lächelt jeweils ein Unbekannter. Fingers sagt: «Das ist mein Sohn!» Er sagt es so, dass man gleich weiss: Der Star auf den Bildern ist nicht der Musiker und nicht der Fussballkerl. Fingers verteilt seinen Sohn an die Umstehenden. Aber nein, nicht nur zum Ansehen, zum Behalten! Es ist ein Moment der Verlegenheit. Und des verbotenen Mitleids. Donegal ist so weit oben im Norden. So kalt und verhangen. In Donegal sterben junge Männer vor Langeweile. Und alte vor Einsamkeit.
Die Traveller kannte ich nur vom Vorbeigehen an ihren Wohnwagenparks, den Halting Sites an den vernachlässigten Ufern der Städte, und aus den furchtsamen Hasstiraden der Sesshaften. Beides hatte neben Misstrauen eine trotzige Sympathie in mir geweckt, von der ich gleich ahnte, dass sie eine romantische Torheit war. In den wenigen flüchtigen Begegnungen mit Travellern erlebte ich das, was die Sesshaften über sie schimpften, widerstrebend als wahr. Sie waren oft von geradezu abstossend niedrigem Bildungsstand. Sie zeigten wenig Respekt vor dem Besitz anderer. Sie zeigten wenig Respekt überhaupt. Sie neigten zu Alkoholmissbrauch und Gewalttätigkeit. Sie sind eine fest geschlossene Gesellschaft am Rand der Gesellschaft. Waren sie daran selbst schuld? Oder wurden sie vertrieben? Oder galt beides zugleich, waren sie schuldhaft Vertriebene?
Ich wusste nicht, ob die Antwort von Bedeutung war. Auf dem Vorjahresmarkt war ich Zeugin geworden, wie ein schwergewichtiger, übermuskulöser Mann auf eine blonde Frau eindrosch. Zwischen den beiden die Kinder. Als ich der Frau zu Hilfe kam, rempelte ihr Sohn meinen an. Mein Sohn schwor, nie wieder einen Fuss auf diesen verdammten Markt zu setzen. Am liebsten hätte er beide Füsse ganz aus Irland genommen. Für ihn waren der Markt und das Land ein und das Gleiche. Eine Einschätzung, die grob, wenn auch nicht unberechtigt ist. Fragten Freunde später: «Waren das Traveller?», sagte ich: «Weiss ich nicht.» Was nur halb gelogen war.
Über die Tage des Pferdemarkts weist die Stadt Ballinasloe den Travellern die abfallende Wiese unterhalb der Kathedrale, gleich hinter dem Pferdeverkaufsplatz zu. «120 Euro für zwei Tage, das ist Wucher», sagt Martina, die mit ihrem Mann Jimmy und einer nicht zu bestimmenden Kinderzahl aus Cork angereist ist. Oder aus Limerick. Möglicherweise ist Jimmy auch nicht Martinas Mann. Sondern der Mann ihrer Schwester Breda. Die ebenso gut Martinas Cousine sein kann. Die jeweilige Kinderzahl einer Familie, ihr Herkunftsort und die Verwandtschaftsverhältnisse wechseln von Tag zu Tag. Von Erzählung zu Erzählung.
Die Traveller sind die poetischsten aller Iren. Aus Gründen des Entertainments? Aus Bösartigkeit? Oder aus der schlichten Not heraus zu überleben? Ich bringe es nicht über mich, das zu fragen. Obgleich ich weiss, dass Martina weiss, dass ich weiss, dass sie lügt. Ich kann es sehen. Sie kann es sehen. Es bleibt unausgesprochen. Deshalb nehme ich ihre mangelnde Aufrichtigkeit schliesslich als Kalkül. Als eine kaltherzige Demonstration meiner Ausgeschlossenheit. Die Traveller verachten die Sesshaften im gleichen Mass, wie sie von den Sesshaften verachtet werden. Sie misstrauen. In dem Mass, wie ihnen misstraut wird. Der Unterschied zwischen beiden ist, dass die Traveller die Sesshaften nicht fürchten. Aber vielleicht ist auch das nicht wahr.
Jimmy, Martinas Mann oder ihr angeheirateter Cousin, hat sechs Pferde mitgebracht. Es sind ausnahmslos Traber. Schmale, braun-weiss gescheckte Elfen, denen Jimmy mittels Lederbändern und Schlaufen und metallenen Ringen den Kopf hoch und zurück in den Nacken bindet. Das fördert die schnelle stakkatoartige Bewegung, mit der das Pferd vor dem Trap, dem leichten, meist einsitzigen Trabrennwagen läuft. Durch die hohe Kopfhaltung nahezu blind und seiner tieferen Zugkraft beraubt, rast es wie im Leerlauf die paar Teermeter zwischen der Wohnwagenwiese und dem Hauptverkaufsplatz entlang.
Rauf. Wendung am Ende der Strecke. Runter. Wendung. Und wieder rauf. Das Pferd mit den Zügeln in die neue Richtung reissen. Es hat noch zu viel Schwung, der trägt es weiter vorwärts. Der Fahrer zerrt stärker. Das Pferd verdreht die Augen. Reisst das Maul auf. Es sieht aus, als ob es schreit. Der Fahrer springt auf seine Füsse, fasst mit beiden Händen links und rechts seinen Wagen und kehrt ihn in einem Schwung in die neue Richtung. Das spart Platz. Und Zeit. Vierzig Stundenkilometer schafft ein guter Traber. Die Rennen sind verboten. Die Polizei patrouilliert und schweigt. Man muss den Teufel nicht heraufbeschwören. Auf die Traber zu wetten, ist verboten. Die Travellermänner am Rand der Bahn sagen: «Wir sind nicht hier, um zu wetten. Wir zeigen nur unsere Pferde.» Die Männer stehen dicht nebeneinander. Hin und wieder berühren sich ihre Hände. Dann schieben sie sie zurück in die Taschen. Das Pferd rennt und rennt. Wo die Riemen sich durch sein Fell und die Haut scheuern, schimmert Blut.
«Wie alt ist es?», frage ich. Jimmy schweigt. «Ich schätze ein Jahr.» Jimmy macht: «Mh.» – «Wann fängst du an, sie zu trainieren?» Im Davongehen sagt Jimmy: «Frag meinen Neffen, der ist der Pferdemann.» Der gefragte Neffe, ein Rotkopf, lacht. Er schüttelt den Kopf. «Jimmy hat bei den Pferden das Sagen.» Der Neffe murmelt mehr, als dass er spricht. Jimmy steht noch in Hörweite. Ein eher kleiner Mann. In einem blau-weiss-gelb gemusterten Rautenpullover. Mit kurzem, schwarzem, leicht krausem Haar und jenem Hauch von Bart, den sie hier Goatee nennen. Jimmy hat was. Etwas, das entsteht, wenn dich Schönheit mit kalten Augen ansieht.
Auf ihren Verkaufstischen haben die Traveller selbst gebrannte DVDs ausgelegt. Die Covers sind verlaufene Fotoprints mit verschmierten Titeln in Grossbuchstaben. «Galway Girl – König der Strasse». Eine handverwackelte Dokumentation über das derzeit schnellste Trabrennpferd, in Travellerkreisen legendär. «Travellerkämpfe – nichts für Menschen mit schwachem Herzen». Die Männer schlagen aufeinander ein mit blanken Fäusten. Mit Latten, Flaschen, mit Eisenstangen und Hurlingschlägern, mit allem, was eine schwere Verletzung des Gegners garantiert. Mit der gleichen Wut, mit der sie einander bekriegen, halten sich die Jungen auf dem Pferd. Wie dem Tier auf den Rücken geklebt, wie in sein Fell gehängt, auf ihm festgesetzt, wie ein Parasit. Und das Pferd rast und bockt und steigt. Und die Jungs sitzen. Unabwendbar. In ihrem allumfassenden, gegenstandslosen Zorn, der sich wahllos alles zum Gegenstand macht. Männer, Pferde, Frauen.
Ich dachte: Die Travellermädchen, die nach Ballinasloe kommen, um für sich unter 300 anderen Travellern den Mann fürs Leben zu finden, müssen das wissen. Und fürchten. Man sieht es ihnen nicht an. Die Mädchen locken. In weissen, schwarzen und neonfarbenen Kleiderfetzen und auf hohen Hacken. Mit einem Höchstmass an nackter, chemikaliengebräunter Haut. Das Haar tragen sie hochgetürmt oder rapunzellang. Es ist ein so übertriebenes Zuviel und Zuwenig, dass es ausserhalb ihrer Kreise nur als lächerlich gelten kann. Sie geben die Parodie einer Hure und sind Jungfrauen, ausnahmslos. An dieser Behauptung wenigstens gibt es nicht den geringsten Grund zu zweifeln. Auch die Traveller sind Katholiken. Die katholischsten Katholiken der Insel. Sex und Alkohol sind den Mädchen vor der Ehe verboten. Sie werden mit 14 verlobt, mit 16 verheiratet. Den Mann haben sie vielleicht zweimal zuvor gesehen. Bestenfalls sind sie sich nach diesen Treffen ein bisschen näher gekommen. Über das Telefon.
Noreen hat ihren Mann in Ballinasloe gefunden. 15 Jahre her. Am Autoscooter hat er sie gefragt: «Läufst du mit mir davon?» «Sofort!», hat Noreen gerufen. Da kannten sie sich zwei Blicke lang. Noreen sagt, sie seien tatsächlich davongelaufen, noch am gleichen Abend. Nur der Mutter hatte sie gesagt, wohin. Hatte sich also für die Mutter auffindbar gemacht. Was jene nutzte, um die Tochter zurückzuholen. Ein auf zwei wohlkalkulierte Tage beschränktes Abenteuer, das Noreen direkt in die Ehe mit ihrem Autoscooter-Fund führte. Sie hat jetzt sechs Kinder mit ihm. Oder acht.
Martinas Tochter streckt sich auf dem Trabrennwagen des Vaters. «Fotografier mich!» Sie trägt eine schwarze Lederjacke und einen schwarzen Ledermini. Rote Nylons und kniehohe Stiefel. «Es gibt so schöne Sachen für Kinder zu kaufen», schwärmt die Mutter. Die Tochter im Ledermini ist vier. Zehnjährige flanieren im bodenlangen Nerz durch die Strassen. Die Haare zu langen Locken gedreht. Die Wangenknochen spitz gepudert. Manche halten eine Zigarette zwischen den Fingern. Trinken dürfen sie nicht. In vier Jahren werden sie als geschäftsfähige Ware über den Markt stöckeln. In sechs Jahren werden sie die Frau eines Mannes sein.
Madame Lee, dienstälteste der vielen Wahrsagerinnen am Platz, ist ganz «Darling» und «Schätzchen» und «meine Liebe». Das schwarze Haar mit den grauen Fäden darin trägt sie zu einem glatten Zopf tief im Nacken gerafft. Ihre Stimme ist sanft, durchbrochen von einem Hauch Kratzigkeit. «Bitte», sagt Madame. «Setz dich.» Ihre Polster sind foliengeschützt. Wir nehmen knisternd Platz. «Du musst wissen, ich bin keine Travellerfrau, mein Schatz. Ich bin eine Gypsy.»
Ihre zum Lächeln geöffneten Lippen entblössen einen Satz herrlich verwegener Zähne, eine sich munter nach rechts und links neigende, sich in keine Ordnung fügen wollende Gesellschaft hellen Gebeins. «Meine Grossmutter war eine Gyspy rumänischer Herkunft. Und mein Vater war ein Gypsy.» Sie lässt sich tiefer ins Plastik sinken, mit kühler Eleganz schlägt sie das linke gestiefelte Bein über das rechte. Ihr Habitus ist jetzt ganz der einer nachsichtigen Majestät, er verträgt sich vorzüglich mit der übermütigen Zahngesellschaft in ihrem Mund.
«Was unterscheidet die Gypsys von den Travellern?», frage ich. «Oh, das ist einfach, mein Schatz. Gypsys haben Könige. Und Königinnen. Die Traveller sind armes Volk. Die reden nicht so wie du und ich.» Ihr Talent hat Madame von der Grossmutter geerbt. Madame streicht mit der rechten Hand über die grösste der fünf auf dem Klapptischchen unter dem Heckfenster ausgestellten Kristallkugeln. «Das ist Omas.» Eine Lesung aus ihr kostet 300 Euro. Aus den vier kleineren Kugeln jeweils 50, 80, 100 und 150 Euro. Jede von Madames Kugeln sieht wie aus der Dekorationswarenabteilung eines Baumarkts aus. Madame sagt, sie verdiene 500 Euro am Tag. Sie lächelt.
Wann immer ich später ihren Wagen passiere, ist ihre Tür geschlossen. Durch das Fenster kann ich ihren und den Kundenkopf sehen, ins Geheimnisvolle vertieft. Ein Kommen und Gehen, geschäftig, wie sonntags früh in den Kirchen. Und ein bisschen wundert mich, dass sie in Irland, wo Gott noch so präsent ist, eine Madame Lee brauchen. Oder verträgt sich das alles miteinander? Wie die Jungfrauen mit ihrem Hurenkostüm, wie das Schweigen der Polizisten mit der Schamlosigkeit der Gesetzesbrecher und Madames Schurkengebiss mit ihrer Hoheit. Und ich denke: Diese verdammte Insel. Sie ist voller Poeten.
1.
2.
3.
Die Stadt erliegt dem Rummel: Verkaufsstände, Fussgänger, Umzüge, Kutschen und Reiter erobern die Strassen
4.
Ich muss draussen bleiben: Männer mit einem Pony trinken ihr Pint vor dem Pub
5.
6.
Mit 14 verlobt, mit 16 verheiratet: Die Frauen der Traveller, wie die Fahrenden hier heissen
7.
Wie auf dem Rücken festgeklebt: Mit trotziger Wut halten sich die Jungen auf ihren Pferden
8.
Geniale Geschichtenerzähler: Fingers Gallagher (rechts im Bild)…
9.
…und die Wahrsagerin Margaret Lee
10.
Sie geben die Parodie einer Hure und sind Jungfrauen: Travellermädchen
11.
edem das Seine: Am Pferdemarkt in Ballinasloe kommen Gross…
12.
…und Klein auf ihre Kosten
13.
Jedem das Seine: Am Pferdemarkt in Ballinasloe kommen Gross Könige des Handels: Mitleid und Schuldgefühle werden in klingende Münze gewandelt