Fashion
Nina Christen, Schuhdesignerin bei Bottega Veneta: «Schuhe sind Skulpturen»
- Text: Leandra Nef
- Bild: Pascal Grob
Die Modewelt reisst sich um ihre Entwürfe: Nina Christen, Chefschuhdesignerin bei Bottega Veneta. Ihre Kreativität beschützt die Schweizerin wie ein Kind.
«Niemand wird die je kaufen, zu eckig, zu gross», prophezeite man ihr. Dann kamen die ersten Bestellungen rein, Hailey Bieber trug sie zum Dinner mit Justin, Rihanna in den Strassen New Yorks, Kanye West in London. Und Nina Christen, Chefschuhdesignerin bei Bottega Veneta, war von jetzt auf gleich mitverantwortlich für einen der beachtlichsten Hypes der jüngeren Modegeschichte. Obendrein ist sie, der Nachname verrät es, Schweizerin, aufgewachsen in Bern. Nach Jahren in Paris pendelt sie heute zwischen Mailand und Zürich.
Für annabelle öffnet Nina Christen erstmals die Türen zu ihrer Wohnung im Zürcher Kreis 7, die gleichzeitig ihr Studio ist. In Schuhen, aus denen sie hastig rausschlüpft, sie wegräumt – Prototypen, topsecret. Sie teste sie gerade, sagt Christen. Und, lachend: «I created a monster.» Manchmal antwortet die 36-Jährige auf Englisch. Sie spricht selten Schweizerdeutsch. Dafür Italienisch und Französisch. Ihr Spanisch – der Vater kommt aus Chile – verlernt sie langsam. Nina Christen fragt die Journalistin nach ihrer Schuhgrösse, reicht ihr geflochtene Hausschläppchen.
annabelle: Nina Christen, in Ihrem Entrée reiht sich It-Schuh an It-Schuh – an Ugg-Boot. Sie tragen Uggs?
Nina Christen: Im Winter. Das sind gar keine so schlimmen Schuhe. Wir konnotieren sie einfach noch immer mit den Leuten, die sie trugen, als das Aufsehen um sie am grössten war. Wenn mich ein Schuh anwidert, denke ich: besser diese Reaktion als keine. Und frage: Was stört mich? Warum? In Ablehnung liegt viel Inspiration.
Sie befassen sich regelmässig mit den Arbeiten anderer Brands?
Nein. Ausser mit jenen von Prada in den Neunzigern. Ein Schuh ist für mich wie ein Code. Meistens lese ich ihn sofort: Der Schaft wurde da hergestellt, der Absatz dort. Was ich lesen kann, interessiert mich nicht.
Was interessiert Sie?
Ich hinterfrage alles. Häufig greifen wir auf veraltete Standards zurück, leben in der Vergangenheit. Ich möchte neue Techniken, neue Standards entwickeln, in die Zukunft blicken. Was macht beim Designen von Schuhen auch in fünf Jahren noch Sinn?
Was denn?
Künstlich hergestellter Bio-Gummi und Materialien, die recycelbar oder biologisch abbaubar sind.
Die Modewelt reisst sich um Ihre Designs. Wie kreiert man einen It-Schuh?
Am Anfang steht nie das Visuelle, sondern immer die Attitüde, die eine Frau annimmt, wenn sie einen Schuh trägt. Eine bestimmte Attitüde lässt sich nur mit einem bestimmten Volumen und einer bestimmten Höhe erreichen. Im Lockdown wünschte ich mir bodenständige Schuhe mit weniger Absatz. Komfort ist Key.
Nina Christen öffnet ihr Archiv, eine Schrankwand, die sich über die gesamte Tiefe des Zimmers erstreckt. Jeder gefeierte Schuh der letzten Dekade, so scheint es, steht darin: Kreationen für Bottega Veneta, solche für ehemalige Arbeitgeberinnen wie Celine – und Entwürfe, die es nie in die Regale geschafft haben. Dreihundert ungefähr. Und ständig kommen neue hinzu: Schuhekaufen ist für die Designerin Recherche, das Budget unlimitiert.
Die ikonischen Lido-Sandalen.
Mein Lieblingsmodell. Wir wollten einen Signature-Schuh entwerfen. Die frühere Artistic Direction hat das Signature-Element von Bottega, den Intrecciato, flach verwendet und völlig zerstört. Etwas Gewobenes ist für mich etwas Dreidimensionales. Das Volumen der Lidos ist ein Statement. Wir haben eine Verantwortung als Frauen, nicht mehr nur dekorativ auszusehen. Das ist für mich ein roter Faden in meiner Arbeit.
Aber haben wir uns vom Dekorativsein nicht längst emanzipiert?
In meinem Arbeitsalltag bin ich mit dem Macho-Gehabe konfrontiert, das in der italienischen Gesellschaft noch präsenter ist. Ich möchte Frauen vermitteln, dass wir keine 120-Millimeter- Absätze brauchen, um sexy zu sein. Die grenzen an Missbrauch. Sowieso: Frauen dürfen auch mal böse sein. Und Schuhe böse aussehen.
Sie arbeiten die Hälfte der Woche in Italien. Ist Designen nicht homeoffice kompatibel?
Ich fertige keine schönen Zeichnungen, schicke sie raus und warte, dass jemand Schuhe daraus zaubert. Ich designe jede Komponente selbst, fräse in den Fabriken in Italien mit den Technikern die Holzform, suche das Leder aus, dem die Kunsthandwerkerinnen mit Baumwolle und Kaschmir Volumen geben, bevor sie es weben. Schuhdesign ist körperliche Arbeit. Ich mag es gar nicht, wenn jemand behauptet, man zahle bei unseren Schuhen nur den Namen. Es sind die Materialien, das Handwerk, die vielen Arbeitsschritte, die man zahlt.
Werten Sie Daten aus, um herauszufinden, welcher Schuh warum am besten ankommt?
Nie. Mode ist etwas extrem Intuitives. Wir müssen Mode schaffen. Dafür gehen wir von uns als Massstab aus. Wir beeinflussen die Menschen mit unserer Kreativität.
Woher kommt Ihre Kreativität?
Meine persönlichen Interessen sind ihr Fundament. Nur wenn ich weiss, was mir gefällt, kann ich eine Identität und Signatur entwickeln. Und nur wenn ich weiss, wie ich funktioniere, kann ich meine Kreativität nähren und steuern. Ich kann ja nicht auf Ideen hoffen. Ich muss Ideen haben. Mindestens vierzig pro Saison.
Wie nähren Sie sie?
Ich füttere sie ständig mit Dingen, die mir gefallen. Kochen, Kunst, Sprachen lernen, russische Literatur, kuriose wissenschaftliche Bücher, die ich bei Calligramme in Zürich aufstöbere. What travels through me is what I make. Das Ergebnis kann ich nicht beeinflussen, sehr wohl aber, was ich sehe, lese, ob ich mich mit interessanten Leuten umgebe. Ich setze mich möglichst keinen Dingen aus, die mich negativ beeinflussen.
Bedeutet konkret?
Ich behandle meine Kreativität wie ein Kind. Beschütze sie. Versuche, meinen Verstand nicht mit Social Media und Werbung zu belasten, da möglichst unschuldig zu bleiben. Bilder haben Kraft. Wenn ich etwas sehe, geht es mir nicht so schnell aus dem Kopf.
Klingt eigentlich ganz wunderbar: Sie tun, was Ihnen gefällt, meiden den Rest und kreieren dabei Schuhe, die alle wollen. Der Erfolgsdruck muss aber enorm sein.
Davon darf ich mich nicht beeinflussen lassen. Wenn ich gestresst bin, bin ich nicht kreativ. Dann muss ich sofort aufhören zu arbeiten, ins Kino gehen. Sowieso: Wenn ich nicht arbeiten möchte, arbeite ich nicht. Dann gehe ich in Mailand einfach mal Kaffee trinken und Gipfeli essen. Daniel Lee weiss das, er findet das super. Das Produkt ist nur so stark, wie ich es bin.
Lassen Sie uns über Daniel Lee sprechen. Er holte Sie Anfang 2019 zu Bottega Veneta. Sie hatten sich bei Celine unter Phoebe Philo kennengelernt.
Ja. Später verliess ich Celine, weil ich kein zweites Mal mit Hedi [Slimane] arbeiten wollte. Das hatte ich bereits bei Saint Laurent. Eine super Zeit. Was er damals schuf, machte Sinn. Bei Celine aber wollte er dasselbe. Das hat mich gelangweilt. Also habe ich – ohne zu wissen, dass Daniel Lee zu Bottega wechselt – bei Dries Van Noten unterschrieben. Bis ich wieder aus dem Vertrag raus war, habe ich ein halbes Jahr bei ihm gearbeitet.
Auch keine schlechte Referenz.
Dries und ich haben einen total unterschiedlichen Geschmack. Er ist Dekorateur, ich bin Minimalistin. Wir dachten, wir ergänzen uns. Aber das hat nicht geklappt. Ich wollte auch mein Ding machen, nicht nur, was er sagt.
Mit Daniel Lee klappt es besser?
Er ist eine wundervolle Person, unser Austausch sehr inspirierend. Ich glaube, das merkt man. Wenn man 24/7 mit jemandem arbeitet und abhängt … you better be with a friend.
Nina Christen«In der Schweiz wird man zum Mittelmass erzogen. Das ist Gift für die Kreativität.»
Die Modebranche scheint sich einig: Daniel Lee führt bei Bottega Veneta Phoebe Philos Celine-Ära fort.
Finde ich überhaupt nicht. Seine Intention ähnelt der von Phoebe Philo. Die Modernität, das Frauenbild. Bei Phoebe sind die Produkte aber intellektueller, bei Bottega spassiger. Die Celine-Kundin habe ich mit einer etwas reiferen Frau assoziiert, die Kleider waren mir persönlich zu skandinavisch. Ich sehe diese Ähnlichkeit also wirklich nicht – rien avoir.
Hat der Hype um Bottega Sie überrascht?
Als ich begonnen habe, waren noch viele Leute der früheren Artistic Direction dabei. Ich sass in meiner Ecke und bastelte, sie sagten: «Niemand wird die je kaufen, zu eckig, zu gross.» Dann kamen die ersten Bestellungen rein, Tausende Schuhe, und plötzlich sagte keiner mehr etwas. Es war der Wahnsinn.
An den Fashion Awards 2019 gewann Bottega gleich vier Auszeichnungen.
Davon habe ich erst am nächsten Tag auf Insta erfahren. (lacht) Solche Dinge sind mir nicht so wichtig.
Apropos Instagram: Bottega Veneta hat den eigenen Account gelöscht, an den Fashionshows dürfen die illustren Gäste keine Bilder schiessen. Kalkül, um die Marke noch exklusiver zu positionieren?
Das kann nur Daniel Lee beantworten. Für mich machen seine Entscheidungen absolut Sinn. Die Show zur aktuellen Saison war eine der schönsten, die ich je miterleben durfte. Sie war so simpel und reduziert, nur mit Licht, Sprache, Rhythmus. Das wäre auf Social Media nie rübergekommen.
Und doch wäre der Buzz um den Brand ohne Social Media nicht so gross.
Das stimmt wohl. Ich hätte übrigens nie gedacht, dass die Schuhe in der Rap-Szene und von den – ich meine das positiv – Instagram-Bitches so gehypt werden. Aber es macht völlig Sinn. Hip-Hop hat mich schon als Jugendliche beeinflusst, ich war damals Teil einer Hip-Hop-Crew.
Wollten Sie immer Schuhdesignerin werden?
Ich verstehe mich als Objektdesignerin. Schuhe sind Skulpturen, sie haben eine Objektdimension, die sonst nur Möbel haben. Ich hätte durchaus Lust, mal Möbel zu designen. Oder Küchengeräte. Hauptsache etwas mit Funktion. Schmuck interessiert mich dagegen null. Er ist nur Dekoration. Auch Modedesignerin bin ich nicht.
Dabei haben Sie Schneiderin gelernt.
Ich denke extrem viel über Kleidung nach. Einen Schuh kann man nur kreieren, wenn man an ein Outfit denkt, an eine Silhouette. Das eine beeinflusst das andere. Aber nur mit einem Schuh schafft man den Wow-Effekt, mit einem T-Shirt nicht.
Und in die Welt, in der Sie sich heute bewegen, da wollten Sie immer hin?
Ja. Ich bin bei meiner Mutter in einem kleinen Dorf aufgewachsen. Eine Schule im Ausland schien zu teuer. Aber ich dachte mir: Nichts ist unmöglich. Und ging ohne Geld – aber mit Stipendium – nach Paris, um Design zu studieren. Zu Beginn habe ich auf neun Quadratmetern gewohnt, bin bestimmt fünfzehn Mal umgezogen. Ich hatte drei Wasserschäden und einmal Kakerlaken. Paris war hart.
Stimmt es, dass Sie danach bei Navyboot abgelehnt wurden?
Nicht ganz. Sie haben mich eingestellt. Aber sofort wieder entlassen. (lacht) Es war so: Nach der Schule arbeitete ich bei Balenciaga, am Wochenende im Printemps. Das Geld reichte trotzdem nicht, ich wusste manchmal kaum, was ich essen sollte. Also bin ich zurück in die Schweiz, zu Navyboot, habe am Uetliberg im Estrich einer Familie gewohnt. Nach Paris war das wie eine Rehab. Aber ich habe bei Navyboot zu laut meine Meinung geäussert.
Warum haben Sie eigentlich nicht hier studiert, wenn Paris so hart war?
In der Schweiz wird man zum Mittelmass erzogen. Das ist Gift für die Kreativität. Ausserdem ist die Modeszene hier nicht präsent genug. In Paris triffst du all die Menschen, all die Models – und Karl Lagerfeld auf dem WC. Das ist einfach … wow!
Und trotzdem wohnen Sie wieder in Zürich.
Mir gefällt die Objektivität hier. In Paris verlässt man das Haus, sieht all die Hipster. Das hat mich immer genervt. Hier fühle ich mich wohl, habe einen ruhigen Arbeitsplatz. Lebensumstände sind wichtig.
Ein bisschen ist es also Zürich zu verdanken, dass Sie so grossartige Schuhe entwerfen?
Äuä scho. (lacht)
Ich finde es einen sehr spannenden Artikel und schön zu sehen, dass es so erfolgreiche, junge SchweizerInnen gibt.
Trotzdem stört mich etwas daran. Und zwar die Attitude “Wenn ich nicht arbeiten will, dann arbeite ich nicht und gehe Kaffee trinken und Gipfeli essen”. Ich verstehe diese Aussage im Kontext – ein Künstler hat gewisse Schaffensperioden, Eingebungen von Ideen.
Ich kann mir jedoch auch vorstellen, dass jüngere Menschen oder Menschen, welche so eine Aussage nicht in den Kontext setzten können, diese “falsch” aufnehmen.
Ich arbeite jeden Tag mit Kindern zusammen und merke immer wie mehr, dass die Bereitschaft, sich in die Materie zu vertiefen oder durchzuhalten, stetig abnimmt.
Ich möchte nicht suggerieren, dass nur harte Arbeit – gute Arbeit ist. Ich hätte mir jedoch gewünscht, dass die oben genannte Aussage im Interview besser in den Kontext gesetzt worden wäre.