In Selbstachtungs-Workshops will L’Oréal Frauen zeigen, wie der Umgang mit Lidschatten und Lippenstift das Selbstvertrauen stärken und bei der Integration in den Alltag und das Berufsleben helfen kann.
Die sechs Frauen sitzen leicht vornübergebeugt vor ihren Spiegeln, konzentriert und ein bisschen andächtig, als sähen sie sich selbst zum ersten Mal. Sie wirken schüchtern, aber ebenso erwartungsvoll, als sie auf der Leinwand ihrer eigenen Gesichter nachzuahmen versuchen, was ihnen die Kosmetikerin eben gezeigt hat: den Puder auftragen, danach den Lidschatten, erst die helle Farbe, dann die dunklere, darüber Kajal, Wimperntusche, zum Schluss den Lippenstift. Die einen pinseln zögernd, die anderen draufgängerischer; sie lehnen sich zurück, spitzen die Lippen, beäugen die Wangen, kichern verlegen, greifen seufzend zu einem Wattestäbchen, um zu entfernen, was verschmiert oder zu dick aufgetragen wurde.
Sie schminkten sich im Alltag wenig bis gar nicht, werden die Frauen später fast entschuldigend erklären. Die Brasilianerin Agnes Ferreira da Silva (19) hat einen einjährigen Sohn und nur wenig Zeit, etwas für sich selbst zu tun. Samantha Biber (19), Hauswirtschaftslehrling aus Zürich, hält seit frühester Teenagerzeit an ihrem dicken schwarzen Lidstrich fest. Und Selvije Kastrati (44), gebürtige Kosovarin und Serviceangestellte in einem Altersheim, hat die schönen Seiten an sich noch nicht so richtig entdeckt. Deshalb, sagt sie, sei sie heute hier. Was sie an diesem Workshop verloren hätte, habe sie ihr 13-jähriger Sohn am Tag zuvor gefragt. Sie wolle doch nicht etwa noch Model werden? «Weisst du», habe sie ihm dann geantwortet, «auch Frauen über vierzig haben das Bedürfnis, schön zu sein.»
Die Schmink-Elevinnen befinden sich im Schulungsraum des Kosmetikkonzerns L’Oréal in Zürich-Oerlikon. Sie sind Teilnehmerinnen eines ganztägigen Selbstachtungs-Workshops, den L’Oréal Schweiz anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums der Gruppe in Zürich und Genf ins Leben gerufen hat. Dabei handelt es sich um ein Programm, das unter dem Stichwort Sozio-Ästhetik das gesellschaftliche Engagement des Unternehmens stärken will. Die monatlichen Workshops beinhalten eine professionelle Schminkberatung mit Fotoshooting, Mittagessen und den Besuch einer kulturellen Veranstaltung. Ziel ist, das Selbstvertrauen sozial benachteiligter Frauen zu fördern und so zu ihrer gesellschaftlichen und beruflichen Wiedereingliederung beizutragen.
Denn Make-up, das weiss jedes weibliche Wesen, sobald es die Macht der Farben für sich entdeckt hat, ist längst nicht bloss nettes Verputz-Zubehör, sondern auch eine Form der Kommunikation, die Brücken schlagen und Wege ebnen kann. Wer die Palette der Selbst-Illustration beherrscht, fühlt sich besser und hat es im Scheinwerferlicht von Bewerbungsgeprächen, Vorstellungsrunden oder geschäftlichem Smalltalk ein bisschen leichter. Zudem ist gutes Aussehen oft mit einem erhöhten Selbstwert- und Körpergefühl verbunden. Ein Zusammenhang, den sich auch die Stiftung Look Good, Feel Better zunutze macht, indem sie krebskranken Frauen kostenlose Schminkkurse anbietet; begrüsst und unterstützt wird.
Der Schulungsraum in Oerlikon ist so nüchtern wie schmucklos, eher ein gesichtsloser Coiffeursalon als ein Lokal für eine gemütliche Workshop-Runde. Doch die Stimmung der Frauen übertüncht die Kargheit, die anfängliche Schüchternheit ist verflogen und hat einer munteren Anspannung Platz gemacht. Denn nach dem Schminken und Frisieren folgt das Fotoshooting. Und das, sagt Samantha Biber, sei für sie der Grund, warum sie unbedingt an diesem Workshop teilnehmen wollte. Endlich mal erleben zu dürfen, wie es ist, vor der Kamera zu stehen und dabei noch einige gute Fotos von sich zu bekommen, mit denen man sich später vielleicht sogar bewerben könne. Das sei schon ein Höhepunkt.
Samantha ist Lehrling an der Hauswirtschaftsschule Lindenbaum in Pfäffikon ZH, die jungen Frauen mit einer Lernbeeinträchtigung eine Ausbildung ermöglicht. Der Lindenbaum ist mit der Caritas Zürich und dem Birke-Huus, einem Wohnprojekt für Frauen mit Kindern in schwierigen Lebensumständen, Partner des Zürcher L’Oréal-Programms. Diese Organisationen wählen pro Workshop je zwei Frauen aus. Im Lindenbaum steht er Schulabgängerinnen im zweiten Lehrjahr offen, die Teilnahme wird per Los und nicht über die Leistung bestimmt. «Unsere Schülerinnen machen an diesen Workshops wertvolle Erfahrungen», sagt Cécile Leiser, Wohnbereichsleiterin des Lindenbaums. «Es tut ihnen gut, mit Menschen aus einem ganz anderen Umfeld zusammen zu sein, sich mit ihnen auseinander setzen und sich behaupten zu müssen. Zudem erhalten sie an diesem Tag ein Mass an Aufmerksamkeit, das ihnen so schnell womöglich nicht mehr zuteil wird.» Gerade auch die Kulturangebote würden den Frauen Welten eröffnen, zu denen sie sonst kaum Zugang hätten – egal, ob es sich dabei um eine japanische Tee-Zeremonie oder um einen geführten Stadtbummel handelt.
Und in der Tat führt die Veranstaltung, mit der Samantha Biber und ihre Ad-hoc-Kolleginnen nach vollbrachtem Shooting, Apéro und Mittagessen (Spaghetti mit Rosenblütenpesto, zubereitet und serviert in und von der Event-Küche Angelfood in Zollikon ZH) überrascht wurden, zu horizonterweiternden Erkenntnissen, gleichzeitig aber auch zu leichter Befremdung: Denn der kleine Kochkurs mit Blumenblüten, im Beisein von L’Oréal-Mitarbeiterinnen, die den Workshop im Rahmen eines Freiwilligenengagements begleiten, ist nun vielleicht doch zu weit vom Leben und den Interessen der Frauen entfernt. «Das ist schon sehr speziell», meint Samantha Biber. «Aber zugegeben: Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich einmal Blüten essen würde.» Neues, darüber sind sich alle einig, ist grundsätzlich was Erfrischendes. Oder wie Selvije Kastrati einige Wochen nach dem Workshop sagt: «Ich schminke mich jetzt immer ein bisschen so, wie ich es gelernt habe. Und ich finde es schön, wenn mein Sohn dann zu mir sagt: Irgendetwas ist anders an dir. Gibt es was Neues in deinem Leben?»
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Samantha Biber vor dem Workshop
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Einmal im Leben wie ein Model vor der Kamera stehen: Für Samantha Biber ging ein Traum in Erfüllung