Fashion
Lucie Meier: «Die Kleider haben meine Mutter stark gemacht»
- Text: Barbara Loop
- Bild: Maya Wipf und Daniele Kaehr
Aufgewachsen ist sie im elterlichen Restaurant bei Zermatt. Heute ist Lucie Meier Krea-Chefin von Jil Sander – dem alten Lieblingsbrand ihrer Mutter.
Es ist ja nicht so, dass wir nie Interesse bekundet hätten. Nein, natürlich haben wir sofort um ein Interview gebeten, als vor rund einem Jahr bekannt wurde, dass bei Jil Sander mit Lucie und Luke Meier ein Schweizer Ehepaar die kreative Leitung übernimmt. Ohne Erfolg, Meiers lehnten freundlich ab. Überhaupt ist wenig bekannt über das neue Paar an der Spitze des Modehauses, anstelle von Interviews und öffentlicher Auftritte lassen die beiden ihre Kollektionen sprechen: Das Debüt, die Sommerkollektion, baute auf das schlichte weisse Hemd, mit dem schon Labelgründerin Jil Sander in den 1980er-Jahren ihren puristischen Minimalismus begründet hatte. In der aktuellen Kollektion dieses Herbsts verleihen sie ihm eine weichere, weiblichere Note. Ihre Mode übt sich so elegant in Zurückhaltung wie das Ehepaar selbst.
Und dann, eines Abends in Zermatt, kamen wir in der Hotelbar mit einem jungen Mann ins Gespräch, der sich als Wirt des Restaurants Zum See vorstellte und uns bald fragte, ob wir nicht etwas über seine Schwester schreiben wollten, denn die sei «in der Mode». – «Aha.» – «Sie ist Designerin bei Jil Sander.» – «Nicht im Ernst?» Und schon hatte der freundliche Mann die private Mailadresse von Lucie Meier in unser Handy getippt.
Lucie Meier, Designer von grossen Modehäusern werden von einem Heer an PR-Agenten vor der Öffentlichkeit abgeschirmt. War Ihr Bruder schlecht beraten, uns einfach so einzuladen?
Die Geschichte ist doch gut, oder? Mein Bruder hatte offenbar ein gutes Coaching meiner PR-Verantwortlichen (lacht). Nein, im Ernst, da steckt keine Strategie dahinter.
Sie sind in der Nähe von Zermatt aufgewachsen, in jenem Restaurant, das Ihr Bruder mit Ihren Eltern führt. Was hat in den Bergen Ihre Leidenschaft für Mode geweckt?
Meine Mutter! Sie liebt Stoffe und Mode. Bei uns zuhause gab es die «Vogue» und annabelle, und als das Restaurant erfolgreicher wurde, entdeckte meine Mutter die Mode von Jil Sander. Sie identifizierte sich mit dem Stil der Hamburger Designerin, kaufte die Kleider in Bern oder in London. Sie zu begleiten, war ein prägendes Ritual meiner Kindheit. Wenn sie diese Kleider zu besonderen Gelegenheiten trug, war sie wie verwandelt.
Inwiefern?
Ich konnte ihr ansehen, dass sie sich schön und speziell fühlte, voller Selbstvertrauen war. Die Kleider haben sie wirklich stark gemacht.
War so viel modisches Bewusstsein in einer kleinen Berggemeinde nicht verdächtig?
Meine Mutter war zwar chic, aber auch bodenständig und arbeitsam. Ich habe sie nie als Aussenseiterin wahrgenommen. Jil Sander schreit ja nicht nach Aufmerksamkeit, sondern ist eher dezent und präzis.
Was haben Sie von Ihren Eltern gelernt, das noch heute Ihre Arbeit prägt?
Meine Mutter hatte keine grosse Garderobe, aber sie pflegte ihre Kleider, damit sie ihr lang erhalten blieben. Sie ist in einer ländlichen Gegend in Österreich aufgewachsen, wo man die Kleidung von der lokalen Schneiderin fertigen liess. Kleider sind für sie noch heute kein Konsumgegenstand, den man zwei Monate trägt und dann entsorgt. Zeitlosigkeit und Qualität waren für meine Eltern auch im Restaurant wichtig. «Bei der Qualität machen wir keine Kompromisse», sagte mein Vater immer. Vom Essen über den Service bis zur Dekoration: Bei meinen Eltern ist alles simpel und gut – und es ändert sich kaum je etwas. Aber jetzt mache ich Werbung für das Restaurant, mein Bruder wird sich freuen (lacht).
Zeitlosigkeit war auch eine Maxime von Jil Sander. In einem Interview sagte sie jüngst: «Ich habe mich nie um Neuheit ihrer selbst willen bemüht. Deswegen frage ich mich auch, ob ich Mode entworfen habe.»
Mode ist wirklich der falsche Begriff für das, was wir machen. Ich würde es Kleidung nennen, die ich tragen will und die mich nicht verfremdet, ehrliche Kleidung.
Auf ihre aktuelle Herbstkollektion gemünzt heisst das: präzis geschneiderte Jacketts, deren voluminöse Textur an Daunenduvets erinnert, Pullover aus geripptem Strick und einzelne, grossflächige Blumenmuster.
Am Anfang dieser Kollektion stand das Bedürfnis nach Geborgenheit und Schutz, das all die negativen Nachrichten bei uns auslösen. Und wir wollten der gängigen Zukunftsvision, die kalt und technologisch ist, eine wärmere und menschlichere Alternative entgegensetzen.
Ist das nicht etwas naiv? Kann man sich wirklich in seinem Zuhause verkriechen und sich gut fühlen, während vor der Tür die Welt brennt?
Es geht nicht darum, eine bessere Welt zu schaffen, oder so zu tun, als wäre unsere Welt ideal, sondern Gefühle hervorzurufen, die uns daran erinnern, dass wir menschlich sind. Die blumenbedruckten Mäntel erinnern mich etwa an Tischtücher, wie man sie zuhause bei der Mutter oder in einem Landhaus findet. Und wenn wir es schaffen, dass sich die Menschen in unserer Kleidung gut fühlen, dann haben wir immerhin etwas erreicht. Wir sind keine Künstler, aber die Mode ist doch das Medium, in dem wir uns ausdrücken.
Zum ersten Mal tauchte Ihr Name nach dem plötzlichen Abgang von Raf Simons bei Dior in der Öffentlichkeit auf. Sie hatten bis dahin das Dior-Designteam für Haute Couture und Ready-to-Wear geleitet und übernahmen von einem Tag auf den anderen zusammen mit Ihrem Kollegen Serge Ruffieux interimistisch den Posten des Chefdesigners. Der Druck war enorm, wie sind Sie damit umgegangen?
Ich habe den Druck nicht so sehr gespürt, wie die Leute immer glauben: Wir waren nicht auf den Posten berufen worden, also waren die Erwartungen an uns gar nicht so gross. Für uns war es eine Chance. Ich sah es nicht als Bürde, sondern als Möglichkeit.
Dann kam der Wechsel zu Jil Sander. Jil Sander steht für das Gegenteil der opulenten, femininen Dior-Entwürfe. Wie legt man den Schalter um und spricht eine völlig andere kreative Sprache?
Bei Louis Vuitton, Balenciaga und Dior habe ich die Visionen von Kreativchefs umgesetzt, es ging darum, ein Image zu kreieren. Das war ganz klar nicht meine Vision. Jil Sander fühlt sich viel mehr nach mir selber an. Mit dieser Marke identifiziere ich mich. Ich habe ihre Geschichte immer verfolgt. Jil Sander fühlt sich für mich weniger wie ein Modebrand an, sondern eher wie Kleider, mit denen ich leben möchte, die mich komplettieren.
«Heute sind Kleider auch Ausdruck von Werten, für die man einsteht. Werte wie Langlebigkeit zum Beispiel.»
Sie meiden die Öffentlichkeit, während andere Designer und Brands härter denn je um Aufmerksamkeit kämpfen. Sind Sie da in ihrer Branche nicht sehr unzeitgemäss?
Ich bin eine diskrete Person, und Interviews zu geben, gehört definitiv nicht zu meinen Lieblingsaufgaben. Auch ästhetisch liegt mir der Purismus näher als die schrillen Designs, die derzeit wieder Aufwind haben. Die Modelandschaft ist heute vielleicht vergleichbar mit den frühen 1990er-Jahren, als Jil Sander unbeeindruckt von all den exzentrischen Labels wie Dolce & Gabbana, Versace oder Moschino ihre ruhigen Kollektionen entwarf. Später wurde sie genau deswegen als Pionierin gefeiert. Man muss das machen, wofür man steht und woran man glaubt.
Sie teilen sich Ihre Stelle mit Ihrem Mann. Ist dieses Arbeitsmodell wirklich so traumhaft, wie es den Anschein macht?
Da meine Eltern immer zusammen gearbeitet haben, war das für mich nie ein befremdendes Konzept. Luke und ich haben dieselben Diskussionen wie früher, aber heute können wir die Schlüsse daraus gemeinsam umsetzen. Luke ist eher analytisch, ich gehe die Sache intuitiver an. Wir ergänzen uns also gut. Ausserdem entwerfen wir ja für Männer wie für Frauen und haben so den Vorteil, dass wir die Kollektion selber anprobieren können und wissen, wie sich die Sachen anfühlen.
Wie fühlt sie sich denn an, die Jil-Sander-Kleidung?
Rein und schön. Und ich persönlich fühle so etwas wie … Empowerment. Ermächtigung, ein furchtbares Wort.
Warum das?
Weil Macht mit einer negativen Komponente aufgeladen ist. Es geht mir um Selbstbewusstsein und Schönheit.
Die Labelgründerin Jil Sander schrieb doch genau mit dieser Ermächtigung der Frauen Modegeschichte, indem sie den Frauen etwa von der Männermode inspirierte Anzüge schneiderte.
Ja, das war eine andere Zeit. Damals ging es um Frauen, die sich in der Arbeitswelt gegen die Übermacht der Männer durchsetzen mussten. Heute geht es weniger darum, sich Respekt zu verschaffen, als Kleidung zu haben, die einen mühelos und selbstbewusst durchs Leben gehen lässt. Und heute sind Kleider auch Ausdruck von Werten, für die man einsteht. Werte wie Langlebigkeit zum Beispiel. Man investiert ja viel in diese Kleidung, diese Qualität hat ihren Preis.
In einem Ihrer seltenen Interviews haben Sie gesagt, dass Sie der Kleidung Seele verleihen wollen. Wie beseelt man Dinge?
Es geht um die Beziehung, die man mit den Dingen unterhält. In unseren Kleidern steckt Energie, ein Mehrwert, den man wertschätzen sollte: Sie wurden von Hand gemacht, an ihnen haften Erinnerungen, Traditionen, Geschichten. Natürlich ist die Mode ein Geschäft. Trotzdem versuchen wir, diese Werte hochzuhalten. In der Art, wie wir hier arbeiten, in der Kommunikation mit unserer Kundschaft.
Was sagt Ihre Mutter eigentlich dazu, dass Sie heute bei ihrem Lieblingsbrand Jil Sander arbeiten?
Sie besucht unsere Shows, aber mir scheint manchmal, dass sie es noch immer nicht wirklich glaubt.