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Lima schmeckt prima: Die peruanische Hauptstadt als neue Food-Trendmetropole

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Lima schmeckt prima: Die peruanische Hauptstadt als neue Food-Trendmetropole

  • Text: Stefanie Rigutto; Fotos: Marvin Zilm

Vergessen Sie London und Paris! Die neue Food-Trendmetropole liegt zwar weiter weg, lässt aber Gourmets umso lauter jauchzen: Es ist die peruanische Hauptstadt Lima.

Wir haben kiloweise Ceviche probiert, schaumigen Pisco Sour geschlürft und auf dem Surquillo-Markt an grünen Kartöffelchen aus den Anden geschnuppert. Wir haben erfahren, dass man violetten Mais trinken kann und dass gelber Chili aus dem Amazonas die Zunge nur ein bisschen verbrennt. Doch so richtig interessiert uns nur: Wie schmeckt Meerschweinchen? Essen die Peruaner es überhaupt noch?

Morena Cuadra nickt heftig. Sie ist Kochbuchautorin, eine schöne Frau Anfang 50. Sie sagt: «Ich liebe Meerschweinchen!» Morena Cuadra nimmt ihre Chicha morada – das süsse Getränk aus violettem Mais – und zieht gierig am Strohhalm. Die Luft ist warm und klebrig, ein Dach aus dicken Bambusrohren schützt vor der Sonne. Ein Kellner stellt einen ganzen frittierten Fisch vor uns hin: Pez diablo, der Teufelsfisch. Das Tier schaut eher unzufrieden drein – aber das liegt wohl daran, dass man es mit einer Chilisauce beträufelt hat. Fisch, du schmeckst toll!

Bis vor kurzem führte Morena Cuadra eine Kochschule. Sie erzählt: «Einer der Lehrer liess die Studenten lebendige Meerschweinchen kaufen – und töten.» Es war ein Desaster. Die Küche war voller Blut, die Meerschweinchen schrien wie am Spiess, eine Studentin fiel in Ohnmacht. Morena Cuadra sagt, früher sei das Tier ganz serviert worden, samt Krallen und Kopf, flach gedrückt, die Beine von sich gestreckt. «Heute ist das anders.» Hat sie in ihrem Kochbuch ein Rezept dazu drin? «Zwei sogar, aber mein US-Verleger hat sie gestrichen.»

Der kochende Messias in Peru: Gastón Acurio

Dass sich überhaupt jemand für die peruanischen Kochbücher von Morena Cuadra interessiert, liegt an Gastón Acurio. Kaum einer hat sich so intensiv mit der Küche seiner Heimat auseinandergesetzt wie der Fensehkoch und Stargastronom. Wer über Lima schreibt, kommt nicht um Gastón Acurio herum. Warum? Weil sich in Perus Hauptstadt jedes Gespräch irgendwann ums Essen dreht. Oft beginnt eine Begegnung mit der Frage: «Was hast du heute gegessen?» Die Limeños sind besessen von ihren Gerichten. Man redet über das, was man gerade im Bauch hat, und früher oder später, aber meistens früher, kommt man auf Gastón Acurio zu sprechen, den Mann, der Peru auf die gastronomische Landkarte gebracht hat. Ihm hat das Land zu verdanken, dass Lateinamerikas Stadt der Stunde nicht São Paulo, nicht Buenos Aires ist, sondern Lima. Gastón Acurio ist ein Volksheld, ein kochender Messias; er wird sogar als neuer Präsident des Landes gehandelt. Auf der Strasse rennen ihm die Leute nach, winken, wollen ein Autogramm, ein Foto oder ihn umarmen. Nicht schlecht für einen Koch! Darum wird sich auch diese Reportage immer wieder um Gastón Acurio drehen.

Doch zurück zu Morena Cuadra: Wir sitzen im Restaurant La Mar im schicken Viertel Miraflores. Das Lokal gehört – erraten! – Gastón Acurio. Und das Viertel ist nur schick, weil Gastón Acurio es aufgewertet hat. Vor der Eröffnung des Lokals standen hier Autogaragen, abends wurden Drogen verkauft. Jetzt reiht sich an der Avenida La Mar ein nettes Lokal ans nächste. Morena Cuadra knabbert einen Bananenchip. Sie sagt: «Vor zwanzig Jahren war niemand stolz auf Peru. Wir hatten wirtschaftliche Probleme und eine hohe Kriminalitätsrate. Schlimme Jahre des Terrors lagen hinter uns.» Ausser dem Machu Picchu habe es nichts gegeben, was den Peruanern ein positives Image verliehen hätte. «Uns ging es mies.»

Dann kam Gastón Acurio. Er sei geboren, um zu kochen, sagt der 47-Jährige selber von sich. 1994 kehrte er aus Europa zurück und eröffnete in Lima sein französisches Gourmetlokal Astrid y Gastón. Es gab nur ein Problem: Die Zutaten zu bekommen, war ein Kampf. Also begann er, die französischen Gerichte mit peruanischen Produkten zu kochen – mit Mais, Kartoffeln, Quinoa, Wurzeln, Chili, Pazifikfisch, Limesaft. Umgekehrt interpretierte er die traditionelle peruanische Küche neu. Tadaaa, ein Tusch: Die Cocina novoandina war geboren – und Lima, das meistens im Dunst versinkt, sah plötzlich ein hell leuchtendes Morgenrot am Horizont.

Im Restaurant La Mar ist Gastón Acurio nur noch auf seinen Kochbüchern präsent. Der Superstar steht längst nicht mehr in der Küche, er jettet irgendwo in der Welt herum – sein Restaurantimperium beläuft sich auf fast vierzig Lokale. Morena Cuadra tunkt ihre Picarones, eine Art Donuts aus Süsskartoffeln, in Ahornsirup. Sie sagt, anfänglich seien die Peruaner gar nicht so begeistert gewesen von der neuen Fusion-Küche. «Vielen war es zu raffiniert, zu wenig peruanisch.» Doch die Oberschicht stürzte sich darauf, und bald zog die Mittelklasse nach. Morena Cuadra sagt: «Die Bewegung startete am Kopf der Bevölkerung. Mittlerweile hat sie das kleinste Restaurant erreicht.»

Vor zwei Tagen waren wir in Lima gelandet. Hellbrauner Boden, karge Hügel, mittendrin eine Megastadt. Tatsächlich ist Lima mit ihren zehn Millionen Einwohnern die zweitgrösste Stadt in einer Wüste, nach Kairo. Die Fahrt vom Flughafen durch das Quartier San Miguel war wenig versprechend: billige Gebäude, blinkende Casinos, ein Stau wie nach einem WM-Sieg. Ach, Lima, du machst es uns nicht leicht!

Die grösste Attraktion in Lima ist das Essen

Lima war nie eine Destination. Lima war immer nur ein Ausgangspunkt. Wer in die Anden wollte, flog über Lima, verbrachte im besten Fall eine Nacht hier – und flogdann rasch wieder weg. Lima erschliesst sich einem nicht übers Auge. Die Stadt ist wie der Pazifik vor ihren Toren: roh, wild. Lima erklärt sich einem über den Magen. Die grösste Attraktion sind nicht mehr die Kirchen im Centro (immerhin ein Unesco-Welterbe) – die grösste Attraktion ist das Essen. Erst wenn man die Stadt schmeckt, erkennt man ihre Schönheit. Der einstige Underdog ist die neue Food-Hauptstadt Südamerikas: Letztes Jahr wurde Peru an den World Travel Awards zur besten kulinarischen Destination gekürt. Und von den World’s 50 Best Restaurants in Latin America 2013 sind unter den ersten 14 Lokalen gleich 6 aus Lima. Angeführt wurde die Liste von – ja, ja, Sie wissens bereits – Gastón Acurio. Die Sociedad Peruana de Gastronomia bezifferte jüngst den Food-Boom: 5.5 Millionen Menschen würden direkt davon profitieren. Das ist ein Sechstel der Bevölkerung.

Heute ist der Himmel über Lima grau. Es sieht aus, als könnte es jeden Moment regnen. Doch in Lima regnet es nie: Neun Millimeter Niederschlag fallen pro Jahr – in Zürich, zum Vergleich, sind es 1136 Millimeter. Ansonsten fühlt sich Lima ein bisschen an wie Los Angeles: Die Stadt ist lang gezogen, die Distanzen enorm, man bewegt sich im Auto vorwärts. Man muss wissen, wo man hingehen will – man kann nicht einfach mal herumspazieren und sich darauf verlassen, dass man in ein nettes Lokal gelangt. Zudem sind viele der angesagten Restaurants von aussen fast nicht erkennbar: das «Central» zum Beispiel. Man sieht nur eine grosse schwarze Tür, mehr nicht.

Es ist das Lokal von Virgilio Martínez. Er ist 36 Jahre alt und Gastón Acurios schärfster Konkurrent: Er ist der erste Peruaner, der einen Michelin-Stern erhalten hat, und zwar 2014 für sein Restaurant Lima in London. «Plötzlich will die ganze Welt peruanisch essen», wundert sich Virgilio Martínez. Er hat die Küche seines Mentors auf den nächsten Level gehievt, ist experimentierfreudig und kombiniert die Cocina novoandina mit der Molekularküche. Der Vergleich mit Gastón Acurio passt dem Jungkoch nicht: «Es gibt nur einen Gastón – ich will kein zweiter werden.» Als Konkurrent sieht er ihn sowieso nicht. «Unsere Lokale sind alle voll. Keiner braucht neidisch zu sein.»

Wir sitzen in der gut gekühlten Bar seines Restaurants. Virgilio Martínez trägt ein weisses Schlabbershirt, hellbraune Röhrlijeans und Socken mit farbigen Punkten. Über den Michelin-Stern zu reden, ist ihm peinlich. «Ach», macht er, «ich hatte einfach Glück.» Er fläzt sich ins Sofa, das Mineralwasser trinkt er direkt aus der Flasche. Warum lebt er nicht in London? Er sagt: «London ist gemacht, hier entwickelt sich alles.» Und hier ist er jemand – ein Star! Er schüttelt den Kopf, angewidert über die Bemerkung der Journalistin. «All die Autogramme, die Fotos, die Celebrity-Magazine, das passt mir nicht. Ein Koch muss präsent sein in der Küche, nicht in den Klatschblättern», sagt er.

Virgilio Martínez war in Madrid Souschef von Gastón Acurio. Was hat er von ihm gelernt? Er sagt: «Mein Land zu lieben.» Seine Generation sei jene, deren Ziel Europa war – man wollte in den berühmten Lokalen in Paris und London kochen. «Es war damals für keinen von uns vorstellbar, dass wir je in Lima ein Restaurant eröffnen würden. Dafür waren wir zu ehrgeizig.» Heute jedoch, sagt er, sei Lima auf dem richtigen Weg. Und die Sicherheit? «Lass mich ehrlich sein», sagt Virgilio Martínez, «das ist Südamerika, nicht das Paradies. Doch Lima entschädigt dich mit einer Energie, einem Willen zur Veränderung, den ich an wenigen anderen Orten gespürt habe.»

An der Playa Waikiki

Von Martínez’ Lokal spazieren wir runter ans Meer. Das ist gar nicht so einfach: Lima liegt auf Klippen, etwa vierzig Meter über dem Wasser. Die braunen sandigen Felsen sollen begrünt werden, um die Erosion aufzuhalten. Arbeiter verlegen Wasserleitungen. Treppen führen zu den Stränden. An der Playa Waikiki sitzen Hunderte von Surfern auf ihren Brettern im Wasser und warten auf die richtige Welle. Ein Peruaner mit gebleichten Haaren und Tattoos will uns zu einem Anfängerkurs überreden.

Uns ist das Wasser zu kalt: gerade mal 14 Grad! Fast niemand badet, die Leute liegen auf dem groben Steinstrand, haben Kühlboxen mitgebracht, verdrücken Sandwichs. Dicke Möwen lassen aus der Luft Krebse auf die Steine fallen, bis sie aufplatzen. Eine Tafel zeigt die Fluchtwege im Fall eines Tsunami an, eine andere warnt vor der starken Sonne und zeigt Fotos von Melanomen. Weiter vorn wird Land aufgeschüttet für Pärke mit Spielplätzen.

Frage: Warum hält immer, wenn man ein Taxi stoppt, ein zweites dahinter? Antwort vom Hotelconcierge: «Falls du mit dem ersten Taxifahrer nicht einig wirst über den Preis.» Aha, da kann man handeln? Er: «Man muss!»

Am Abend treffen wir Nora Sugobono, 28 Jahre alt und Food-Journalistin bei «El Comercio», der grössten Tageszeitung. Sie trägt ein schwarzes Kleid, die glatten Haare fallen sanft auf die Schultern. Sie sagt, Gastón Acurio habe jeden in Peru beeinflusst, der irgendwas mit Essen zu tun hat. Auch die Bauern. «Vor ein paar Jahren interessierte sich keiner für die 5000 Kartoffelsorten in Peru.» Die Bauern bauten nur zwei Sorten an. Gastón Acurio verlangte neue Arten – und jetzt hat jeder Markthändler zwanzig verschiedene Kartoffeln im Angebot.

Nora Sugobono erzählt, dass ihre Zeitung nun den ersten Food-Kritiker des Landes beschäftige. Es gab zwar bislang Food-Journalisten, aber keine richtigen Restaurantkritiker. «Niemand wollte die Bewegung schlechtreden.» Jetzt hingegen, wo man zur Food-Hauptstadt der Welt gekürt wurde und der Boom zwar immer noch ein Boom ist, aber eben doch schon ein paar Jahre alt – jetzt schreibt Ignacio Medina eine monatliche Kolumne und sorgte bereits für eine landesweite Polemik: Er erdreistete sich, den grossen Gastón Acurio zu kritisieren. Der Chef würde sich zu fest auf sein Image im Ausland konzentrieren und zu wenig auf die Arbeit in seiner Küche daheim, schrieb er.

Die Journalistin hat für unser Treffen das Restaurant Maido ausgewählt – das berühmteste Nikkei-Lokal. Nikkei heisst «japanischer Immigrant» und bezeichnet die Fusion aus peruanischem und japanischem Essen. Sie geht auf das Jahr 1899 zurück, als erstmals japanische Arbeiter nach Peru kamen. «In Peru gabs lange vor Gastón Acurio eine Fusion-Küche», klärt uns Chefkoch Micha auf. Eigentlich heisst er Mitsuharu Tsumura, aber alle nennen ihn der Einfachheit halber Micha. Er ist 32 Jahre alt, hat ein breites Lachen und muss als hyperaktiv bezeichnet werden. Er sagt: «Nikkei tönt zwar japanisch, ist aber eine peruanische Erfindung.»

Das Aushängeschild der Nikkei-Küche ist Tiradito: eine Art Sashimi, aber dünner geschnitten. Micha schmeckt es mit Limesaft, Chili und Ponzusauce ab. Bereits steht der nächste Gang auf dem Tisch. Der Kellner erklärt auf Englisch, was wir vor uns haben (Avocado, Tofu, Jakobsmuscheln) und wie wir es essen müssen (alles miteinander). Nora Sugobono, voller Stolz: «Noch vor drei Jahren wäre es unvorstellbar gewesen, dass ein Kellner in Lima so gut Englisch spricht. Gracias, Gastón!»

Micha serviert als einen der letzten Gänge – jetzt kommts! – Meerschweinchen. Früher wurde es am Stück auf den Tisch gestellt, bei Micha jedoch ist es ein kleines Stück Fleisch, paniert und in Entenfett gebraten. Es sieht aus wie ein rundes Chickennugget. Es könnte irgendwas sein. Aber es ist Meerschweinchen. Ich schneide das Fleisch durch – es ist hell und erinnert an Kaninchen. Soll ich wirklich? Während ich noch mit mir hadere, hat der Fotograf das Nugget bereits verdrückt. Er macht «Mhhhm», ruft: «Lecker!» Ach, man muss nicht jeden Trend mitmachen. «Das ist kein Trend, das ist Tradition», sagt Micha und schaut erwartungsvoll. Und so beisse ich rein. Der Geschmack? Keine Ahnung – ich habe so viel Pisco Sour nachgeschüttet, dass das Meerschweinchen unzerkaut im Magen landete.

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