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Lebenshilfe: Ein Coach für alle Fälle

Lebenshilfe: Ein Coach für alle Fälle

  • Text: Helene AecherliIllustration: Carmen Segovia

Einst ging man zum Coiffeur, wenn man sein Leben verändern wollte. Heute nimmt man sich einen Coach. Auch unsere Autorin zog aus, um in sich zu gehen.

Einst ging man zum Coiffeur, wenn man sein Leben verändern wollte. Heute nimmt man sich einen Coach. Auch unsere Autorin zog aus, um in sich zu gehen.

Wenn ich mich dem bittersüssen Luxus hingebe, meine Mängel zu sezieren, habe ich ein schlechtes Gewissen. «Das ist jetzt aber Jammern auf hohem Niveau», zische ich mir zu. «Auf verdammt hohem Niveau.» Worum es geht? Ach, immer um dasselbe: schlechtes Zeitmanagement, schwach im Neinsagen, noch schwächer im Delegieren. Zudem ist da dieser fiese innere Drillmeister, der mir zuflüstert, dass ich mich in all den Jahren in meinem Beruf bloss durchgemogelt habe, nur hat es noch niemand gemerkt. «Du spinnst», sagen meine Freunde. Falsch. «Du bist undankbar!» Vielleicht. «Du blockierst dich selbst.» Stimmt. «Du brauchst einen Coach.» Das habe ich mir auch schon überlegt.

Allerdings, sagt jemand Coach, denke ich unweigerlich an den Lauf-stegjuror Bruce Darnell, der sich mit wippenden Pobacken aufgemacht hat, Frauen ohne Balance rhythmisches Gehen auf Highheels beizubringen. Oder an den Sexcoach, den ich mal interviewt habe, als es um die Kunst des Orgasmus durch Bauchatmung ging. Überdies scheint sich der Begriff Coach, der in gepflegtem British English nichts anderes bedeutet als Kutsche, über die Jahre verselbstständigt zu haben. Nur so ist es zu erklären, dass sich, nebst den erwähnten Coachs, Legionen von Manager-, Vitalitäts-, Diät-, Studien-, Stil-, Ego-, Scheidungs-, Mütter-, ja sogar Hunde-Coachs auf dem gesellschaftlichen Parkett breitgemacht haben und ihre Dienste nicht nur von Angesicht zu Angesicht anbieten, sondern auch auf der Bühne, übers Telefon, via E-Mail, Skype und SMS.

Der heutige Mensch, folgerte ich, muss dermassen verunsichert sein, dass er nur schon «Coach» schreit, wenn es darum geht, laktosefreies Joghurt zu kaufen – was wiederum das Coachsein so sexy macht, dass jeder Hauch einer humanitären Idee unter diesem Label verkauft wird. Da ein vorschnelles Urteil über Coachs und Gecoachte nun aber ungerechtfertigt wäre, gilt es zu tun, was man immer tun sollte, bevor man seine Meinung hinausposaunt: die fremde Welt zumindest eingehend beschnuppern.

Ein Coach, das stellen alle Coachs sofort klar, ist weder Berater noch Sozialarbeiter, weder Supervisor noch Trainer, schon gar kein Psychotherapeut und noch weniger Selbstdarsteller. Er ist viel mehr ein neutraler Sparringpartner, der dem Klienten, im Fachjargon Coachee, den Spiegel vorhält, enge Denk- und Verhaltensmuster durchbricht und ihm dadurch hilft, Blockaden zu lösen und sich weiterzuentwickeln. Coaching erfordert keine jahrelange Nabelschau, sondern höchstens sechs Monate, wobei der Klient selber zu einer Lösung finden soll.

Unbequeme Fragen

Mal sehen: Zum Warm-up verabrede ich mich mit Annette Stampfli, diplomierte Erwachsenenbildnerin und zertifizierter Coach. Sie hat ein 30-Minuten-Walk-in-Coaching im Angebot, was neu ist in der Szene. Der Instant-Ansatz hat nicht den Anspruch, einen ganzen Coachingprozess zu ersetzen, sondern will den Coachee durch ungewöhnliche, ja unbequeme Fragen dazu bringen, sich neu auszurichten.

Zum Beispiel so: «Wenn mir jemand sagt, er sei stets freundlich und hilfsbereit und habe deshalb Mühe, sich durchzusetzen, frage ich ihn: Warum werden Sie als freundlicher und hilfsbereiter Mensch unfreundlich und egoistisch, wenn Sie sich durchsetzen wollen?» Aha, raffiniert, den Spiess umgedreht. So etwas regt zum Denken an. Ich offenbare Annette Stampfli meine Nein-Sage-und-Delegier-Schwäche. «Haben Sie sich überlegt, dass dank Ihnen andere Leute in der Komfortzone sind?», fragt sie herausfordernd. Hmm, nein. «Dadurch, dass Sie immer alles erledigen, bleibt das System um Sie herum erhalten. Das ist bequem für die anderen. Aber was ist mit Ihnen?»

Ich muss betroffen wirken, denn sie schiebt gleich nach: «Halten Sie es aus, sich für sich selbst einzusetzen, oder wollen Sie es weiterhin allen recht machen?» Au, ziemlich gnadenlos. «Versuchen Sie mal die Spannung auszukosten, die ein Nein verursacht, und loten Sie dessen Wirkung aus. Was gewinnen Sie dabei?» Stress! Wer sich abgrenzt, riskiere tatsächlich, sein Umfeld zu brüskieren, sagt der Coach. Aber dafür gewinne man an Lebensqualität und mit der Zeit, so paradox es klingt, an Respekt und Achtung.

«Wer sich selbst achtet, wird geachtet », lautet somit der Merksatz, den ich in meinem geistigen Notizbuch festhalte, und ich stelle fest, dass ich mich auffallend erquickt fühle. Annette Stampfli nickt freundlich. Aus festgefahrenen Denkmustern auszubrechen, setze Energien frei und könne helfen, in die Richtung zu gehen, in die man sich entwickeln will. Und das ist in der Tat sehr zeitgemäss.

Dabei hat Coaching noch vor zehn Jahren als Unwort gegolten, als Krisenprogramm für Schwererziehbare und Liebesenttäuschte. Je mehr sich jedoch die Komplexität des Lebens verschärfte, desto mehr wurde der Einzelne bereit, sich seinen Schwächen zu stellen, mit dem Ziel, in den gesellschaftlichen Fluten obenauf zu schwimmen.

Früher ging man zur Lebensverbesserung zum Coiffeur oder mit Freundinnen auf einen Prosecco. Doch der Coiffeur entwirrt heute höchstens noch die Haare, die Freundinnen sind längst nicht mehr neutral.

Also wird man heute zum Coachee. Dessen Signalement lautet: normal neurotisch, also mehr oder weniger gesund, zwischen 36 und 55 Jahre alt, beruflich, familiär und sportlich engagiert, sensibel, ehrgeizig und finanziell so gut gebettet, dass ein Coach ins Budget passt. Die zu coachenden Anliegen drehen sich dabei meistens um Klassiker (siehe oben).

Ich also wäre demzufolge die totale Durchschnitts-Coachee, wenn auch eine mit Hang zur Nostalgie, weil ich insgeheim noch immer an Coiffeur und Prosecco-Runden glaube. Doch bevor ich dazu komme, mehr darüber zu sinnieren als nötig, erklärt man mir, dass ein Coaching nichts für den Mainstream ist, schon gar nichts für Verlierer, sondern nur etwas für Gewinner.

Das auf jeden Fall ist das Credo in der Geschäftswelt. So ist die Zahl der Betriebe, die Mitarbeitern Coachings anbieten, innerhalb der letzten Jahre auf nahezu 100 Prozent angestiegen. Es gibt kaum mehr Führungskräfte, denen nicht ein Coach zur Seite gestellt wird, Grossfirmen haben gar Coachingpools eingerichtet. Dabei kommen aber eigentlich nur die High Talents in diesen Genuss, die vielversprechendsten Talente, in die es sich zu investieren lohnt, erklärt Thomas Freitag, Präsident der Schweizer Sektion der International Coach Federation ICF.

Gut 3 000 Franken pro auserwähltem Mitarbeiter investieren Unternehmen pro Jahr in die Optimierung via Coaching, auch wenn Erfolg und Nachhaltigkeit der Massnahmen nicht objektiv messbar sind. Thomas Freitag aber geht davon aus, dass sich jeder Coachingfranken für die Firma um ein Mehrfaches auszahlt. Die Coachs selbst, und hier ist nur von jenen 47 500 die Rede, die vom ICF errechnet wurden, erwirtschaften jährlich einen Umsatz von 1.9 Milliarden Dollar, knapp die Hälfte davon in Westeuropa.

Das Gehirn muss restrukturiert werden

Was aber bedeutet das für mich als potenzielle Klientin? Wenn ich mir überlege, wie viel mehr Umsatz das Unternehmen, das mich beschäftigt, generieren würde, könnte ich besser Nein sagen, muss ich schmunzeln. Frage ich mich gar, ob ich eines jener High Talents bin, die mit einem Coaching beehrt werden, lacht sich mein innerer Drillmeister kaputt – was mir wiederum vor Augen führt, dass ich mich vielleicht doch länger als dreissig Minuten coachen lassen sollte.

An Angeboten mangelt es nicht: Die Psychologin Maria de Rocha Chevalley etwa arbeitet mit ihrem neuropsychologischen Konzept des Wahrnehmungs-Managements, das sie als Mind Bridging bezeichnet. Es basiert auf der Erkenntnis, dass jeder Mensch je sieben verbindende und trennende Primärgefühle hat, die seine Aktionen, Reaktionen, Emotionen sowie seine Logik steuern. Mit dem Coachee wird definiert, was ihn abhält, das zu sein, was er sein will (zum Beispiel: Ich habe Angst, ich kann meine Gefühle nicht zeigen). Der Coachee erarbeitet die positiven Entsprechungen dazu («Perception Shifting Field Matrix»), die aufbauende Muster und Verhaltensweisen widerspiegeln. Regelmässiges Wiederholen soll die körpereigenen Zellen umprogrammieren und das Gehirn restrukturieren – was dem Coachee zu einer neuen Wahrnehmung und einem besseren Leben verhilft. Das ist nicht uninteressant, aber so weit bin ich noch nicht.

Darum mache ich mich als Nächstes auf an den Vortrag eines Coach-Gurus und Management-Mentors, der an einem Frauenkongress über die Kunst des Führens spricht, was im Fachjargon Leadership heisst. Der Maestro steht hemdsärmlig auf der Bühne, gibt sich vor den 190 Teilnehmerinnen jovial-paternal. «Was, meine Damen», ruft er nach einer rhetorisch exzellenten Einführung in den Zuschauerraum hinein, «was macht euch zu Leadern?» Die Frauen halten den Atem an. «Fragt euch: Tragt ihr eure Vision, oder trägt die Vision euch? Ohne Vision, ihr Frauen, gibt es keine Passion, keine Leadership!» Ein Raunen geht durch die Menge. «Fragt euch: Seid ihr klar und verbindlich?», fährt er fort. «Denn ohne Klarheit gibt es keine Macht. Jede Verzettelung ist eine Schwächung des Systems. Oder habt ihr etwa jemals einen Aprikosenbaum gesehen, der auch ein Bananenbaum sein möchte?» Totenstille.

Ehrlich gesagt, so weise die Worte auch waren, so sehr hatte ich das Gefühl, dass der Guru sein hingebungsvolles Publikum im Grunde verachtet. Vielleicht lag es an seiner betont jovialen Art, vielleicht hatte es vor allem mit mir selbst zu tun. Eine Projektion meiner eigenen Zwiespältigkeit, würde er wohl entgegnen. Nun gut, jedenfalls hat mir das kurze Eintauchen in die Coachingszene offenbart: Nebst einigen prickelnden Erkenntnissen ist da viel warme Luft und vor allem eine Bestätigung dessen, was man als 46-Jährige schon längst über sich weiss. Aber um fair zu sein: Ein abschliessendes Fazit ist wohl erst möglich, nachdem man sich tatsächlich einem ganzen Coachingprozess unterzogen hat.

Ob ich das tun werde oder nicht, wird sich weisen. Seit der Begegnung mit dem Maestro mache ich mir zunächst einmal vertiefte Gedanken zu meinen Visionen und Passionen und auch darüber, welche Baumsorten ich in mir vereine. Und – ich habe wieder wahnsinnig Lust auf Prosecco.

Annette Stampfli, 30-Minuten-Coaching, www.passgenau.ch
Maria de Rocha Chevalley, Mind Bridging, www.mindbridging.com
International Coach Federation Schweiz, www.coachfederation.ch