Jeder fünfte Schweizer Kleiderladen musste in den letzten Jahren schliessen. Und das Sterben geht weiter. Was tun gegen die Krise? Wir fragten nach – auch bei Tally Weijl, dem drittgrössten Modehändler der Schweiz.
Der Papst verkündete die Apokalypse an einem windigen Nachmittag: Am 26. Juni diesen Jahres betrat er im dunklen Anzug und mit etwas gebückter Haltung die Bühne eines XXL-Kinosaals in Zürichs Sihlcity. Vor ihm im Publikum sass alles, was Rang und Namen hat im Schweizer Detailhandel. Er öffnete leicht die Arme und sprach: «In den vergangenen sieben Jahren sind in der Schweiz 6000 Läden verschwunden.» Es folgte eine rhetorische Pause. Diese Botschaft musste erst mal verdaut werden. Im kommenden Jahr erwarte man weitere Schliessungen, fuhr er fort. Den Mode- und Schuhmarkt treffe es besonders hart. Papst ist übrigens nur sein Spitzname. Eigentlich heisst er Thomas Hochreutener. Er ist der Direktor des Marktforschungsinstituts GfK und analysiert den Detailhandel seit vier Jahrzehnten. Kaum einer kennt die Branche so gut wie er. Das dicke Handbuch, das sein Institut jährlich publiziert, wird entsprechend nur «die Bibel» genannt.
Es waren harte Worte – ausgesprochen just an dem Tag, an dem 1200 ehemalige Vögele-Verkäuferinnen und -Verkäufer ihr Kündigungsschreiben erhielten und sich manche von ihnen gefragt haben dürften, wie sie in dieser kranken Branche denn nun eine neue Stelle finden sollten. Die Tragödie von Charles Vögele ist bekannt: Der Schweizer Traditionshändler wurde nach einem jahrelangen Zickzackkurs 2017 an den italienischen Kleiderriesen OVS verscherbelt. Und noch bevor es sich hierzulande herumgesprochen hatte, wie man den neuen Namen richtig ausspricht – «o vi esse» –, gingen die Italiener Konkurs.
Das Ladensterben ist keine «breaking news», es ist schon länger in aller Munde. Doch wie dramatisch die Entwicklung ist, zeichnet sich erst jetzt so richtig ab. In den vergangenen vier Jahren musste in der Schweiz jedes fünfte Modegeschäft dicht machen. Und da sind die 165 bankrotten OVS-Filialen noch nicht mal eingerechnet. Die grossen Namen, die wegen Konkurs oder der Schliessung von Filialen Schlagzeilen gemacht haben, waren Companys, Yendi, Bernie’s, Switcher, Blackout, Schild, Bata oder Fogal. Kleinere Boutiquen und Familienbetriebe hingegen schafften es oft nicht mal in die Nachrichtenspalten.
Obwohl die Konsumentenstimmung gut ist und der Wirtschaftsaufschwung stabil, serbelt das Geschäft mit der Mode. In den USA spricht man bereits seit einem Jahr von der Retail-Apokalypse. Unterdessen ist die Botschaft also auch hier angekommen. Ganz so dramatisch wie in den Vereinigten Staaten sei es in der Schweiz nicht, wiegelt Sascha Jucker ab, Detailhandelsexperte bei Credit Suisse. «Im ersten Quartal haben die Umsätze im Kleidersegment zwar erneut drastisch abgenommen: zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Doch wir gehen davon aus, dass der Abwärtstrend leicht abflacht.» Letztlich sagt aber auch Jucker, ein Ende der Krise sei nicht in Sicht.
Thomas Hochreutener, der Papst, klickte sich an besagtem Junitag stoisch durch seine Powerpoint-Präsentation. Seine Charts sahen aus wie Rutschbahnen: Der Umsatz des schwedischen Riesen H&M beispielsweise sank innert sieben Jahren von 880 auf 677 Millionen Franken. Doch weshalb kränkelt das Geschäft mit der Mode? Experten sind sich einig: Der Markt ist übersättigt und schrumpft, weil wir schon genügend Kleidung haben. Auch setzten der vorübergehend starke Franken und der anhaltende Einkaufstourismus dem Detailhandel zu. Doch letztlich sind es vor allem die Onlineshops, welche die Geschäfte aus dem Markt drängen. H&M war lange die Nummer eins im Schweizer Kleidermarkt, aber seit diesem Jahr ist es der Onlinehändler Zalando mit geschätzten 685 Millionen Franken Umsatz. Zalando kam von Deutschland her über die Grenze und schoss hier auf wie ein junger Baum.
Die eigentliche Shopping-Revolution geschieht also im World Wide Web. E-Commerce heisst das im Fachjargon. Thomas Hochreutener stellte seinem Publikum ein paar Innovationen vor: einen Onlinehändler in Schweden, der die Lebensmittel bis nachhause liefert und gleich in den Kühlschrank einräumt. Einen Roboter, der Regale auffüllt. Einen Laden in Japan, wo man, anstatt an der Kasse zu zahlen, sein Gesicht in eine Kamera hält. Eine Zahnpasta mit Auffüll-Knopf: Kurz bevor sie leer ist, geht eine neue Tube auf die Post. Revolutionär auch die neuste App von Zalando: Man fotografiert auf der Strasse ein Outfit, lädt das Bild hoch und erhält automatisch Kaufvorschläge aus dem Webshop. Oder man lässt sich gleich kostenlos von einer Zalon beraten, wie die 500 Stylistinnen von Zalando heissen. Und wer jetzt glaubt, die Schweizer seien ihrem Geschäft in der Innenstadt treuer als andere Nationen, der irrt: Bei Zalando sind wir bereits Europameister. Jedes sechste Kleidungsstück wird hierzulande online gekauft, Tendenz stark steigend.
Alles spricht von einem «disruptiven Markt», was letztlich nichts anderes bedeutet, als dass das Business Kopf steht und null Orientierung herrscht. Oder, wie es der kanadische Retail-Futurist Doug Stephens im Branchenmagazin «Business of Fashion» ausdrückt: «We are well into shit-yourself territory» – sich vor Angst in die Hosen zu machen, sei nun offiziell erlaubt. Doug Stephens hat die altehrwürdige New Yorker Ladenkette Janovic geleitet, heute berät er Riesenkonzerne wie Walmart, Coca-Cola oder L’Oréal. Und er nimmt kein Blatt vor den Mund. Der Detailhandel sei noch nicht tot, so Stephens, doch das sei genau das Problem. Wer sich an die alte Ära kralle, könne nicht in ein verheissungsvolles neues Zeitalter schreiten: «Wollen wir den Detailhandel retten, müssen wir ihn sterben lassen.»
Wer an jenem Dienstagnachmittag mit eigenen Augen sehen wollte, wie es um den klassischen Modehandel steht, musste nur fünfzig Schritte gehen. Denn unmittelbar gegenüber dem Arena-Kinosaal, wo der Papst seine unfrohe Botschaft verkündet hatte, liegt das Sihlcity-Shoppingcenter. Still und leise kriseln hier die Kleiderläden vor sich hin. Je weniger Kunden, desto schriller preisen Schilder den Ausverkauf an. Bei Tally Weijl steht ausser der Verkäuferin niemand sonst zwischen den weissen Hotpants und knappen Mini-Mouse-Shirts made in Bangladesh. Täuscht der Eindruck, oder sind diese Geschäfte tatsächlich schon so gut wie tot? Was wird getan, um sie am Leben zu halten? Oder wäre, wie Futurist Stephens rät, ein Ende mit Schrecken dem Schrecken ohne Ende vorzuziehen? Wir fragen an der Quelle nach: Bei Tally Weijl, dem drittgrössten Schweizer Modeanbieter nach der Holding Maus Frères (Manor, Athleticum) und Triumph; bekannt für superenge, ultrakurze Teenieklamotten.
Der Taxifahrer in Mailand stöhnt über die Hitze, doch im Altbau an der Via Carducci 13 ist es angenehm kühl. Tally Elfassi-Weijl und Beat Grüring essen Beeren und Birnen. Die beiden Schweizer Konzernchefs hatten keine Zeit zum Mittagessen. Sie sind in ihrem Büro in Mailand, um ihr künftiges Onlinemarketing mit Bloggern und Influencern aufzugleisen. Können sie Genaueres dazu sagen? Sie nickt, während er den Kopf schüttelt. «Sehen Sie, wir ergänzen uns perfekt», Tally Elfassi-Weijl lacht, ihre akkurat gedrehten, langen Locken wippen dabei auf und ab. Sie sind beide 57 Jahre alt, waren einst ein Paar, sind aber mittlerweile geschieden. Er ist fürs Ökonomische zuständig, sie fürs Kreative. Und wie um diese Trennung auch optisch zu unterstreichen, trägt er ein verwaschenes Poloshirt und sie einen Hosenanzug mit Blumenprint.
Tally Weijl mit Sitz in Basel zählt nicht nur schweizweit, sondern auch europaweit zu den Grossen: 914 Shops, 397 Millionen Euro Umsatz im vergangenen Jahr. Gewinnzahlen gibt das Unternehmen keine bekannt, aber das Wirtschaftsmagazin «Bilanz» strich das Paar vor drei Jahren von seiner Liste der 300 reichsten Schweizer und schrieb, dass der Gewinn laut Schätzungen von Branchenkennern in den Keller gerasselt sei: «Der gesamte Modehandel leidet – Tally Weijl besonders.» Deshalb die Frage an die beiden Chefs: Was unternehmen sie gegen die Krise? «Es gab Jahre, da kam der Erfolg einfach so», sagt Beat Grüring, «dann gibt es Zeiten wie diese, da arbeiten wir wie verrückt.» Vor vier Jahren hätten sie begonnen, eine Strategie für den Onlineverkauf zu erarbeiten. «Dort erwarten wir am meisten Wachstum.» Tally Weijl setzt gleichzeitig auf verschiedene Pferde, um erfolgreich Richtung Zukunft zu galoppieren: Sie haben einen eigenen Onlineshop aufgesetzt, betreiben einen Marktstand beim E-Commerce-Giganten Amazon und sind gerade dabei, mit Zalando, About You und anderen Onlinehändlern Verträge auszuhandeln.
Wo die Reise hinführt, weiss man bei Tally Weijl nicht so genau. «Wir haben all diese Datenberge – aber was tun damit? An dieser Frage arbeiten wir mit unseren IT-Spezialisten», so Grüring.
Futurist Doug Stephens hingegen hat eine konkrete Vorstellung davon, wie wir in Zukunft shoppen. Man werde sich in der virtuellen Welt mit Designern treffen,die einen beraten und die Grössen anpassen. Die Kleider werden perfekt sitzen, weil ausgeklügelte Algorithmen mit Daten von Kunden und Herstellern gefüttert werden und für jeden Körperbau den optimalen Schnitt ausspucken. Er ist überzeugt, dass die Mehrheit aller Verkäufe dereinst im Internet stattfinden wird. Seinen Berechnungen zufolge werden wir bereits in 15 Jahren vorwiegend online einkaufen. Stephens glaubt auch zu wissen, welche drei Riesen bis dann die weltweiten Verkäufe kontrollieren werden: Amazon, der chinesische E-Marktplatz Alibaba und Ebay. Ob sich diese kühne Vision bewahrheiten wird, steht in den Sternen. Klar ist aber schon jetzt: Die Kundendaten sind die Währungen der Zukunft.
Das weiss man auch bei Tally Weijl – und investiert deshalb kräftig in E-Shops. Die Firmenchefin glaubt dennoch, dass der klassische Handel nicht aussterben werde: «Es wird immer Leute geben, die Stoffe anfassen und neue Farben im Laden sehen wollen.» Ihr Rezept: Fast Fashion, superschnelle Mode. Jeden Monat produziert Tally Weijl eine neue Kollektion und dazwischen einzelne Teile, die man innerhalb weniger Tage auf den Markt wirft. Weltmeister in Sachen Fast Fashion ist der Konzern Inditex, zu dem auch Zara gehört. Bei Tally Weijl hat man sich zum Ziel gesetzt, Zara zu überholen: «Wir sind momentan gleich schnell, wollen aber schneller werden.»
Geschwindigkeit ist seit jeher ihre wichtigste Strategie, Tally Elfassi-Weijl war bereits 1984 im Eiltempo unterwegs. Eigentlich wollte die gebürtige Israelin damals in der Schweiz die Hotelfachschule besuchen. Doch dann kreuzte sich ihr Weg mit dem des emsigen Schweizer Wirtschaftsstudenten Beat Grüring. Gemeinsam richtete das Paar in der Garage der Grüring-Familie in der verschlafenen Gemeinde Lohn bei Solothurn ein Atelier ein, «just for fun», wie Tally Elfassi-Weijl sagt. Sie hätten in der Zeit viel improvisiert: «Weil ich keinen Führerschein besass, kutschierte mich Beats Mama mit dem Familienauto zu unseren Kunden.» Von Anfang an zeichnete sie zwölf Kollektionen im Jahr, die sie im Ausland in nur vier bis sechs Wochen herstellen liess. Bald schon hatte das jugendliche Liebespaar 700 Kunden allein in der Schweiz, beschäftigte Angestellte, machte eigene Läden auf und expandierte ins Ausland. In den Neunziger- und Nullerjahren eröffneten sie fast jedes Jahr hundert neue Shops, feierten ausgefallene Parties mit Champagner und Zuckerwatte. «Totally sexy» lautete ihr Werbeslogan, auf den Plakaten räkelten sich Lolita-Mädchen mit rosa Plüschhäschen – wofür das «Feministische Netzwerk Schweiz» (Dafne) dem Unternehmen eine Auszeichnung für «herausragend sexistische Werbung» verlieh. Doch den jungen Käuferinnen war das egal, sie rissen sich die stoffarmen Stücke geradezu aus den Händen. Tally Elfassi-Weijl erfand die Miss-Hotty-Schärpe, führte die Puppengrösse XXS ein und schaffte es, sämtliche Subkulturen für sich zu vereinnahmen. Egal ob Hippie, Punk, Rockerin oder Globalisierungsgegner: Jeder Jugendstil wird von ihr in knallenge, ultrakurze Synthetikteile verwoben. Und weil Teenager heutzutage gerne gemeinsam mit ihren Müttern shoppen gehen, hängen nun auch vermehrt luftige Stoffhosen und Baumwollblusen an den Bügeln.
Designt werden die Kleider seit drei Jahren am Firmensitz in Basel, an zentraler Lage neben dem Bahnhof. Im chaotisch kreativen Grossraumbüro sitzen Millennials in Minijupes zwischen langen Kleiderständern, essen Gummibärchen und entwerfen täglich ein Paar neue Skinnyjeans oder ein glitzerndes Accessoire. Sie orientieren sich an koreanischen Musikstars, Instagram-Berühmtheiten und Bloggerinnen. Postet Chiara Ferragni ein Selfie im schulterfreien Rüschenkleid, so kann es vorkommen, dass eine Kopie davon bereits vier Wochen später zehntausendfach in den Shops hängt. Musthaves werden die Teile genannt, obwohl sie im Grunde genommen keiner braucht. Denn eigentlich haben wir alle ja bereits genügend Sachen im Schrank.
Im Billigsegment gewinnt meist der Schnellste. Deshalb sind kurze Wege wichtig. Wenn es ruckzuck gehen muss, lassen Grüring und Weijl die Kleider in Portugal, Marokko oder der Türkei nähen. Darf es etwas länger dauern, dann in China, Vietnam, Pakistan, Indien oder Bangladesh. Tally Weijl ist bezüglich Nachhaltigkeit vielleicht nicht das sympathischste Schweizer Label, aber ein bedeutender Arbeitgeber: In der Schweiz beschäftigen sie 650 Angestellte, weltweit über 4000. Selbst die Nichtregierungsorganisation Public Eye hat ein gespaltenes Verhältnis zum sexy Retailer. Sie kritisiert ihn dafür, dass seine Kleiderhersteller den Näherinnen oft nur Mindestlöhne bezahlen, die nicht zum Überleben reichen. Sie findet aber auch lobende Worte. Denn Tally Weijl hat als einzige Schweizer Firma den Bangladesh-Accord unterzeichnet, einen internationalen Vertrag zur Gebäudesicherheit. «Mit den Zulieferern ist es wie mit den Kindern», sagt Beat Grüring. «Man kann nicht jeden ihrer Schritte kontrollieren. Aber man kann Regeln aufstellen und versuchen, diese durchzusetzen.» Seine Geschäftspartnerin verdreht ob dieser Worte demonstrativ ihre wasserblauen Augen; man solle doch lieber über Trendfarben und attraktive Schnitte reden, verlangt sie. Ihr Einwurf zeugt davon, wie sehr die Firma unter Druck steht.
Nebst der Onlinestrategie und der superschnellen Produktion gibt es noch eine weitere Pille, welche zahlreiche Retailer gegen die Branchenkrankheit einsetzen: Emotionen. «Wir müssen in unseren Läden möglichst viele Gefühle entstehen lassen», sagt Tally Elfassi-Weijl und ist jetzt wieder in ihrem Element. Mit Kleidern allein zieht man keine Massen mehr an, also versucht man aus dem Akt des Einkaufens ein «unvergessliches Erlebnis» zu machen: Bei Globus an der Zürcher Bahnhofstrasse soll es bald auf jeder Etage ein Café oder Restaurant geben, im brandneuen H&M-Shop an der Pariser Rue La Fayette kann man Kleider flicken und ändern lassen, und Zara hat im Londoner Einkaufs- zentrum Westfield Stradford einen Laden mit Hightech-Spiegeln eröffnet. Probiert man dort einen Jupe an, so zeigt der Spiegel Blusen und Accessoires aus dem Onlineshop, die dazu passen könnten. Tally Weijl ihrerseits lockt Kundinnen mit einem Styling von Kopf bis Fuss: In Zürich und Lausanne können sie sich im Laden die Haare föhnen und die Nägel lackieren lassen. Und in Wien entsteht eine Nähstation, wo Mädchen ihre Tally-Jeans mit Aufnähern verändern können.
Flagshipstore ist das Zauberwort, das letztlich hinter diesem Konzept steht. Der Laden an bester Lage ist das Flagschiff, mit dem das Unternehmen in die digitale Zukunft segelt. Apple hat allen vorgezeigt, wie das geht: Man gibt einem einzelnen Produkt viel Platz, inszeniert es wie ein wertvolles Diadem, wickelt dann aber die meisten Verkäufe digital ab. Das bedeutet: weniger und kleinere Läden.
Schon jetzt stellt man in der Schweiz fest, dass die Verkaufsflächen schrumpfen. Aber werden wir die riesigen Kleiderschleudern wirklich vermissen? Und werden die Stadtzentren bald tot sein? Im Gegenteil, sagt Ines von der Ohe vom Beratungsunternehmen Wüest Partner. Die Krise sei auch eine Chance für nachhaltigere Geschäftsideen: «Die Schweizer Innenstädte werden nicht veröden», so die Immobilienexpertin. Denn mehr Leerflächen bedeuteten auch sinkende Mieten, für dieses Jahr rechne man mit einem Rückgang um 2.5 Prozent. «Für kleine Boutiquen und Nischenläden kann das eine Chance sein, an attraktiver Lage zu eröffnen.» Vielleicht nicht unbedingt an der teuren Zürcher Bahnhofstrasse, aber in einer Seitenstrasse oder der Altstadt von Aarau. Man werde in Zukunft einen neuen Mix sehen: deutlich weniger Mode, dafür mehr Restaurants und Cafés, Co-Working-Spaces und Yoga-Studios, Kleingewerbe und Pick-up-Stationen, an denen man die im Internet bestellten Waren abholt.
Der Chef von Tally Weijl sagt: «Es wird immer Läden geben, aber weniger.» Eine Filiale in Basel hat er bereits geschlossen, weitere könnten folgen.
Individuelle Strategien gegen die Krise
Nicht allen macht die aktuelle Situation Kopfzerbrechen. Kitchener, Apartment und Roma haben treue Stammkunden, die für siebzig bis neunzig Prozent des Umsatzes sorgen. Ihre Rezepte gegen die Krise:
Kitchener (Bern/Zürich): Zuverlässige Accessoires. Wenn im März noch immer Schneeregen fällt, kaufen die Berner keine Jupes und Shorts. Ein Nécessaire hingegen hat immer Saison. Mit den Accessoires gleicht man beiKitchener die wetterabhängigen Schwankungen im Kleiderverkauf aus. Sie machen mittlerweile über einen Drittel des Umsatzes aus. «Das gibt Stabilität», sagt Sarah Huber, die das Geschäft gemeinsam mit ihrem Vater führt. Emailgeschirr, Blumensamenkugeln und natürlich der Klassiker: der Kitchener-Sack mit dem unverwechselbaren Indianerkopf, den man seit den 1980er-Jahren rund 500 000 Mal verkauft habe. Den Berner Shop für unaufgeregte Mode gibt es schon seit fünfzig Jahren. Während in den Boomjahren der Reingewinn acht bis zehn Prozent des Umsatzes ausmachte, seien es heute noch zwei bis drei Prozent, erklärt Jürg Huber. Schwierigere Zeiten also auch für das Berner Urgestein, aber noch lange kein Grund, aufzugeben.
The Apartment Store (Zürich): No sale. Der Ausverkauf beginnt in der Schweiz jedes Jahr früher. Ein Irrsinn, den die beiden Inhaber Hanspeter Limacher und Marcel Hofmann nicht mehr mitmachen wollten. Denn: «Gute Qualität und zeitloses Design haben immer Saison», sagt Limacher. Sie beschlossen, den Ausverkauf in ihrem Shop abzuschaffen. Das war vor zwei Jahren, und sie seien gut damit gefahren. Seit der Eröffnung im Jahr 2004 konnten sie den Umsatz kontinuierlich steigern. Im letzten halben Jahr sogar um über zehn Prozent.
Boutique Roma (St. Gallen/Zürich): Exklusivität. Die Boutique Roma ist ein Familienbetrieb. Inhaberin Rosmarie Torzuoli steht auch noch mit siebzig jeden Tag im Geschäft in St. Gallen, ihr Mann, ihr Sohn und ihre Schwiegertochter unterstützen sie. Bevor die Familie vor fünfzehn Jahren den Ableger in Zürich eröffnete, pilgerten Modefans aus der ganzen Schweiz nach St. Gallen. Denn bei Roma hat man schon immer Designerstücke gefunden, die sonst keiner führte. Exklusive (teure) Marken sind seit 1974 ihr Erfolgsrezept. «Mein Sohn entdeckt junge Designer, die noch keiner kennt, und ich pflege die Beziehung zu Klassikern wie Dries van Noten. Wir ergänzen uns perfekt.» Einzig die Schuhe, sagt Rosy Torzuoli, die würden nicht mehr so gut laufen. Das Geschäft an der Multergasse in St. Gallen mussten sie aufgeben.