Stil
Kochbuch-Klassiker Tiptopf – Für Heldinnen des Alltags
- Text: Barbara AchermannFoto: Daniel Valance
Der Klassiker «Tiptopf» ist für die Heldinnen des Alltags gemacht. Dazu zählt sich auch unsere Redaktorin Barbara Achermann.
Ich hätte auch sagen können, mein Lieblingsessen sei Fleischkäse mit Aromat und Ketchup. Die Kolleginnen schauten mich ungläubig an. Eine kicherte. Ich hatte den Eindruck, sie schämte sich für mich. «Der ‹Tiptopf› ist mein Lieblingskochbuch», hatte ich eben gesagt. Im festen Glauben, beim Brainstorming gäbe es keine Tabus. Ich war sehr naiv. Dazu muss man wissen: Unser Reportage-Team besteht ausschliesslich aus fabelhaften Köchinnen. Claudia zaubert jeden Abend ein romantisches 3-Gang-Menü auf den Tisch, Julia ist kein Experiment zu schwierig, sie wagt sich sogar an die Rezepte von Sven Epiney, und Stefanie macht den besten Marmorkuchen der Stadt. Ich bin jetzt die mit dem «Tiptopf».
Beim Schreiben dieser Zeilen fühl ich mich wie damals in der Primarschule, als ich beim Pfarrer die erste Beichte abzulegen hatte. Ich war mir keines Vergehens bewusst, und so pickte ich einen Satz aus dem Beichtbüchlein heraus, den ich zwar nicht verstand, der aber sehr klug klang: «Ich war unkeusch.»
Gut zwanzig Jahre später beichte ich öffentlich: Ich liebe den «Tiptopf». Und ich sehe erneut nicht ein, weshalb das peinlich sein soll. Es ist ein Schulkochbuch, das Schweizer Schulkochbuch schlechthin. Eine Enzyklopädie für kulinarisches Basiswissen, eine Anthologie helvetischer Haushaltskunst – und ein Kassenschlager. Oder wie meine Kolleginnen vermutlich sagen würden: Kommerz. Im September wurde das 2 000 000ste Exemplar ausgeliefert.
Der «Tiptopf» ist das einzige Kochbuch, das ich regelmässig benutze. Wie viel Butter benötigt ein Wähenteig, wie viel eine Béchamelsauce und wohin mit dem Kraut des Krautstiels? Was bedeutet blanchieren, was legieren? Aargauer Rüeblitorte, Basler Mehlsuppe, Berner Rösti, Zürcher Pfarrhaustorte – steht alles drin. Sogar ein Rezept für Schwarztee, so einfach und ehrlich, dass es mich zu Tränen rührt:
- 4 KL Teeblätter in Krug geben
- 8 dl Wasser aufkochen
- über die Teeblätter giessen
- ziehen lassen
- 2–3 Min. wirkt anregend
- 5–6 Min. wirkt beruhigend
Die Zutaten für «Tiptopf»-Gerichte braucht man nicht in zehn verschiedenen Delikatessen-Boutiquen zusammenzusuchen, man findet alles bei Migros oder Coop. Molekular-, Fusion- oder sonstige Schnickschnackrezepte gibt es keine. Deshalb ist das Buch auch nichts für Menschen, die einmal pro Schaltjahr die Kelle schwingen, um sich mit einem überdimensionalen Menü (meist irgendwas mit Filet und zwei Kilo Butter) vor einer Schar Gäste aufzuspielen. Der «Tiptopf» ist vielmehr für Leute, die in einer Hand das Kind, das Telefon und den Lippenstift jonglieren und in der anderen den Schwingbesen und die Bratpfanne. Bescheiden ausgedrückt: für Heldinnen des Alltags.
Fünf Frauen haben den «Tiptopf» geschrieben. Keine Tanja Grandits, sondern unbekannte Köchinnen und Hauswirtschaftslehrerinnen, die aber immerhin den Welt-Didaktikpreis gewonnen und die Schweizer Kochschule revolutioniert haben. Vor dem «Tiptopf», also vor 1986, war die Huusi ein Graus. Julia kriegt noch heute Schluckauf, wenn sie vom mexikanischen Hackbraten aus Brät und Büchsenmais erzählt. Claudia ist weniger traumatisiert, sie hat sich rechtzeitig an ihrer Kochlehrerin gerächt und deren handgemachte Ravioli mit Kaffeebohnen gefüllt. Ganz anders die Reminiszenzen der «Tiptopf»-Generation: Sie erinnert sich entspannt an fidele Kochlektionen mit Pizza und Mousse au chocolat.
«Tiptopf» sei nach der Bibel das wichtigste Buch, soll ein Schweizer Pfarrer einer der Autorinnen erzählt haben. Wie die Bibel darf man auch den «Tiptopf» nicht immer wortwörtlich nehmen. Die Rezepte sind so gestaltet, dass sie der Leserin einen poetischen Freiraum für Ergänzungen und Abänderungen lassen. Und wie alle guten Bücher polarisiert er. In der Schülerausgabe (es gibt auch eine für Erwachsene: «Der andere Tiptopf») sind alle Rezepte ohne Alkohol, was in der Romandie zu einer hitzigen Debatte führte. Ein Winzer verstieg sich gar zu einem Vergleich mit der inquisitorischen Bücherverbrennung.
Just in der Zeit drängte mich mein Mann, wir müssten nun endlich seinen Chef zum Abendessen einladen. Ich erinnerte mich an den aufwendigen Fünfgänger, den uns dieser ein halbes Jahr zuvor aufgetischt hatte, und geriet brutal unter Leistungsdruck. Gereizt fragte ich meinen Mann, was er denn zu kochen gedenke. «Etwas aus dem ‹Tiptopf›», sagte er, als gäbe es nichts Naheliegenderes. «Ein Ragout.» Wir ersetzten die Bouillon im Rezept durch Bordeaux, servierten dazu einen Kartoffelstock und einen simplen Blattsalat. Der Chef schöpfte dreimal, dann erkundigte er sich nach dem Rezept. «Von der Grossmutter», antwortete ich. Ich hatte damals noch nicht die Grösse, zum «Tiptopf» zu stehen.
Mehrere Autorinnen: Tiptopf. Schulverlag, 2011 (22. Auflage), 448 Seiten, ab ca. 30 Franken