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«Die Leute vor dem Zara-Laden haben mich an Crack-Junkies erinnert»

Stil

«Die Leute vor dem Zara-Laden haben mich an Crack-Junkies erinnert»

  • Interview: Leandra Nef; Fotos: Christian Werner  

Die deutsche Journalistin Katja Eichinger (49) vergleicht die Fleece-Weste mit der Pille für den Mann, Armbanduhren mit Penisringen und zitiert Sigmund Freud, wenn sie über Handtaschen als Symbol weiblicher Genitalien nachdenkt. Auch zu Fastfashion und Botox hat sie sich Gedanken gemacht. Klar, dass wir mit ihr über ihr kluges neues Buch «Mode und andere Neurosen» sprechen wollten.

annabelle: Katja Eichinger, was tragen Sie heute im Homeoffice?
Katja Eichinger: Eine schwarze Lederhose, ein rosa T-Shirt von Lutz Huelle mit der Aufschrift «Hot Pink» und einen schwarzen Pullover des britischen Labels Hades Wool. Hades wie der griechische Gott der Unterwelt. Darauf steht «X-Ray Spex», das ist eine ehemalige englische Punkband. Ich zitiere eine ihrer Songzeilen im Buch: «Some people say little girls should be seen and not heard. But I think …» Punk-Feminismus! Es ist unheimlich verführerisch, kleine Mädchen ständig darauf anzusprechen, wie süss sie sind. Aber das hilft ihnen nicht. Wir müssen sie für das loben, was sie sagen und tun.

Mode ist politisch – diesem Thema widmen Sie in Ihrem Buch ein ganzes Kapitel. Welches ist das absurdeste politische Statement, das Mode je hervorgebracht hat?
Ganz klar der Balenciaga-Hoodie für das World Food Programme. Ich stand im Kadewe in Berlin und hatte dieses Ding in der Hand – ich wusste nicht, wohin mit meinen Gedanken. Das war jenseits jeglicher Parodie.

Was halten Sie von den «We should all be feminists»-Shirts, die Dior vor einigen Jahren auf dem Laufsteg präsentierte? Auch sie wurden kontrovers diskutiert.
Einerseits ist das grauenhaft absurd, ich würde mir nie ein solches T-Shirt kaufen. Wir werden am Ende nicht danach beurteilt, was wir getragen, sondern wie wir gehandelt haben. Aber die gesamte Show, die Inszenierung, hat dem Feminismus etwas Glamouröses verliehen, etwas Erstrebenswertes. Und wenn es das ist, was Dior erreicht hat, dass wir die Gleichstellung der Frau erstrebenswert finden, dann hat das natürlich was Gutes. Man muss aber auch aufpassen, dass man sich nicht einfach ein T-Shirt überzieht und denkt: «Jetzt gehts in die richtige Richtung.» Tatsache ist: Die Welt wird noch immer von Männern regiert.

Und die tragen nun auch noch Fleece-Westen anstatt Anzüge – im Buch vergleichen Sie sie mit der Pille für den Mann. Wie konnte es so weit kommen?
Im Zuge der digitalen Revolution verstanden sich viele Firmengründer im Silicon Valley – Zuckerberg, Jobs – als Rebellen, Revolutionäre. Sie wollten die Welt neu erfinden, sich von den bourgeoisen Zwängen freimachen und lehnten entsprechend das Anzugsdiktat ab. An die Stelle des Anzugs rückte die Patagonia-Weste, die irgendwann auch an der Wall Street Einzug hielt. Dort kombiniert mit Gucci-Loafern, #patagucci. Macht ist seither unsichtbarer geworden, gefährlicher. Der Wolf of Wallstreet im Schafspelz – oder eben in der Fleece-Weste. Aber nur weil Zuckerberg ein blaues Shirt und Fleece trägt, ist er nicht weniger mächtig und sein Geschäft nicht weniger dubios.

Was tragen Sie, wenn Sie sich mächtig fühlen wollen?
Chanel. Eine Chanel-Jacke ist eine Geheimwaffe. Wie ein Teflon-Anzug. Und eine Anschaffung – ich habe meine secondhand gekauft –, die sich finanziell bezahlt macht. Sie hat mir schon bei vielen Verhandlungen geholfen, beruflich und finanziell. Die Jacken von Thierry Mugler funktionieren ähnlich. Wenn man sie anzieht, fühlt man sich wie eine Marvel-Superheldin. Kleidung ist sehr intim, sie beeinflusst, wie wir uns fühlen. Jedes Kleidungsstück ist ein Kostüm im grossen Drama unseres Lebens.

Über eines der wenigen Designer-Stücke, die ich besitze, die Noé von Louis Vuitton, schreiben Sie hingegen: «Ein Statussymbol ist sie nicht. Dazu ist sie viel zu penetrierbar.» Die Handtasche als weibliches Genital, das müssen Sie uns erklären.
Eine steile These, ich weiss. Aber mein Buch soll ja auch Spass machen. Schon Freud beschrieb in seiner «Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse» die Tasche als Symbol des weiblichen Genitals. Er und seine Denkansätze sind umstritten. Trotzdem: Männliche Statussymbole sind dagegen offensichtlich penetrativ. Sportwagen, Jachten, die Objektive teurer Kameras, allesamt phallisch. Und die teure Armbanduhr ziert den phallischen Arm wie ein Penisring. Bei der Status-Handtasche steht die Un-Penetrierbarkeit im Vordergrund.

Mal abgesehen davon, dass das alles Objekte sind, mit denen sich auch Frauen schmücken können, gibt es doch bestimmt auch «typisch weibliche» Statussymbole phallischer Natur.
Vielleicht der Lippenstift. Wobei, das ist kein Statussymbol, das ist ein Objekt der Lust – wie eine Zigarre. Beide haben etwas kurzlebiges, sind der Hauch eines phallischen Symbols, der schnell wieder verzieht. Man trägt keinen Lippenstift und denkt: «Hier komm ich mit meinem Phallus.»

Im Buch schreiben Sie: «Handtaschen speichern unsere Vergangenheit und gleichzeitig unsere paranoiden Fantasien, was in der Zukunft passieren könnte.» Von welchen paranoiden Fantasien erzählt Ihre Handtasche?
Im Moment bin ich dank Desinfektionsfläschchen und Masken gegen so ziemlich jedes Virus gewappnet. Hier bei uns in München ist die Maske Pflicht.

Schafft sie den Sprung zum Fashion-Statement? Es gibt sie mittlerweile von unzähligen Designerinnen.
Kommt darauf an, wie tief sich Angst und Paranoia in unserer Gesellschaft festsetzen. Wenn es lang dauert, bis ein Impfstoff entwickelt wird, dann kann ich mir das vorstellen. Im Moment verbinde ich die Maske aber noch immer mit dem schrecklichen Gefühl, das seit dem Lockdown in der Luft liegt.

Sie befassen sich auch mit Fastfashion. Inwiefern wird Corona diese beeinflussen?
Als mein Buch rauskam – das war mitten im Lockdown –, war ich überzeugt, dass wir nun mehr Wert auf Nachhaltigkeit legen. Aber ich wohne direkt neben einem grossen Zara-Laden. Zu meinem grossen Schock hat sich eine unglaublich lange Schlange davor gebildet, als die Läden wieder öffneten. Es hat mich an meine Zeit in Camden Town in London erinnert. Da haben wir gleich neben einem Park gewohnt, in dem sich die Crack-Junkies versammelt haben. Einmal am Tag fuhr der Dealer vor und alle stellten sich auf der Strasse in die Schlange. Genau so kam mir das vor. Dabei wirkt der Exzess der letzten Jahre gerade sehr fehl am Platz. Aber die Trends zeigen ja zum Glück in Richtung Nachhaltigkeit.

Wobei ja auch die am Ende nur dazu da ist, den Hyper-Konsum aufrechtzuerhalten, wie Sie treffend feststellen.
Exakt, und zwar, ohne dass man ein schlechtes Gewissen haben muss. Vielleicht können wir der Krise aber doch etwas Positives abgewinnen: Wir lernen, dass die eigene Existenz einen Einfluss auf das Wohlbefinden der anderen hat. Die Maske schützt uns ja nicht selbst, sondern die anderen.

Ganz anderes Thema: Botox, Kapitel 4. Sie werden nächstes Jahr fünfzig. Schon mal über eine Injektion nachgedacht?
Ich habe ein paar Freundinnen, die sich Botox injizieren lassen. Die kommen immer strahlend und high vor Glück vom Botoxen zurück. Da kann einem der kritische Blick in den eigenen Spiegel schon zusetzen. Und ich muss sagen, es gibt gute Beispiele, Joan Collins etwa. Aber es kann auch danebengehen. Eine alte Schulfreundin von mir, eine Richterin, sagte einmal zu mir: «Katja, wenn du jemals darüber nachdenkst, irgendwas machen zu lassen, komm zu mir. Ich hab einen grossen Stapel Klagen zu Operationen, bei denen was schiefgelaufen ist.»

Joan Collins als gutes Beispiel? Ich finde ihr Antlitz eher gruselig.
Ich habe sie jetzt schon mehrmals live erlebt, und sie war jedes Mal eine hoch glamouröse, wenn auch extreme Erscheinung. Nichts an ihr ist gewöhnlich. Sie ist sehr camp, klar, das muss man mögen. Es war mir in meinem Buch auch ungeheuer wichtig, mich nicht über Frauen lustig zu machen, die sich operieren lassen. Das ist so einfach, gerade wenn etwas schiefgelaufen ist. Die betroffene Person findet das wahrscheinlich selbst ziemlich schlimm. Sie hat sich vielleicht aus einer Unsicherheit heraus operieren lassen. Ich bin auch oft unsicher.

Bleibt die Frage: Ist es nun feministisch oder das genaue Gegenteil, sich operieren zu lassen? Selbstverwirklichung oder Sich-Beugen einem Schönheitsideal, das – wie Sie schreiben – entscheidend durch den männlichen Blick geprägt ist, durch die Fantasie der Game-Programmierer der 1990er- und 2000er-Jahre?
Mein Buch ist ja eine grosse Ode an die Ambivalenz. Für mein Studium habe ich mich mit den Kostümen der 1950er-Jahre beschäftigt. Die sind auf den ersten Blick völlig sexistisch: Pfennigabsätze, Wespentaille, Atombusen. Die typisch feministische Lesart lautet: Alles modische Massnahmen, um die Frau nach dem Zweiten Weltkrieg zurück an den Herd zu drängen. Ich habe mit den Zeuginnen jener Zeit gesprochen und gemerkt, dass ihnen der Glamour der 1950er, den sie sich in den Hollywoodfilmen abgeschaut hatten, ein unglaubliches Selbstbewusstsein gab, ihr Leben eigenständig zu leben, eine Ausbildung zu absolvieren. Es gibt immer die offensichtliche Lesart eines Phänomens – und die individuellen Geschichten dahinter. Genau diese Ambivalenz ist es, die wir auch bei der Botox-Frage aushalten müssen. Für die einen ist das Selbstermächtigung, weil sie in einer vom männlichen Blick geprägten Gesellschaft ihre Verwundbarkeit und ihren vermeintlichen «Makel» hinter einer Maske verstecken. Das weibliche Pokerface im Patriarchat. Für andere ist die Situation sehr viel trauriger. Sie beugen sich dem sozialen Druck oder der Angst, nicht mehr geliebt zu werden. Hier in München gibt es Kreise, da gehört Botox oder ein operiertes Gesicht schlicht dazu – ohne würde man sich ausgeschlossen fühlen.

Diese Ambivalenz, die Sie so zelebrieren, sie hat einen schweren Stand in unserer von Populisten geprägten Zeit.
Es ist ja wirklich interessant: Wie konnte das passieren, dass wir uns alle verhalten wie die Königin aus «Alice im Wunderland» – «Kopf ab, Kopf ab!»? Unser Handy gibt uns die vermeintliche Idee, allmächtig zu sein. Wir schwingen es wie ein Zepter. Aber wir sind nicht allmächtig. Das Einzige, was wir treffen können, sind minimale Konsumentscheide. Aber «Like oder Dislike», «Nike oder Adidas» – das ist keine Wahl. Diese Diskrepanz aus Macht und Ohnmachtsgefühl überfordert uns. Überlegen Sie mal, wann wir zu Moralisten werden? Oft beim Beurteilen des Verhaltens unserer Eltern. Weil sie für uns noch immer diese allmächtigen Wesen und wir schrecklich enttäuscht sind, wenn sie sich nicht so verhalten, wie wir es von ihnen erwarten. Dieses Entweder-oder, es ist eine infantile Reaktion.

 

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1.

Katja Eichinger: Mode und andere Neurosen. Aufbau-Verlag, 2020, 208 Seiten, ca. 30 Franken