Am obersten Zipfel Neufundlands kann man Wikinger und Wale entdecken – und die eigene Wildheit.
Die See rollt, und das Fischerboot wackelt gewaltig. Um mich herum stehen vier freundliche Raubeine in grünen Gummiklamotten. Der jüngste Fischer hält mir augenzwinkernd einen Kabeljau unter die Nase: «Entweder du küsst den, oder du küsst einen von uns». Mit so was muss man am obersten Zipfel von Neufundland rechnen. Dort, wo die einsame Strasse jäh aufhört. Alles ist wilder im Norden dieser ostkanadischen Insel: die zerklüftete Küste, die kantigen Felswände, die sumpfige Tundra, der Nordatlantik. Und die Sitten.
Vor tausend Jahren siedelten wilde Wikinger aus Norwegen an derselben Stelle, wo Fischer des Weilers L’Anse aux Meadows zur See fahren. An diesem Tag bin ich mit an Bord. Das Dutzend geduckter Holzhäuschen entschwindet wie ein Spuk im Morgennebel. Salzige Luft in den Lungen, Gischt im Gesicht. Das Kreischen von Möwen. Weit draussen gleiten die Netze aus der Tiefe ins Boot. Armlange Kabeljaus zappeln auf dem Boden neben meinen viel zu grossen Gummistiefeln.
Ich wurde gewarnt vor dem Screech-in-Ritual, mit dem man Ehren-Neufundländer wird. Man muss einen Kabeljau küssen. Einen Jig tanzen. Im Pub Skipper Hots einen Zungenbrecher wie «Owsyegettinondadayb’ys?» (Wie geht es dir heute?) nachsprechen. Das geht leichter dank Screech, dem Neufundländer Rum, mit schimmern den Würfeln aus 100 000-jährigem Eisberg-Eis. Gewarnt haben mich auch die Lieder des Dorfbarden Wayne Bartlett. Vor dem Cheminéefeuer im Coffee in the Cove singt er von Fischern, die ihre Boote mehr lieben als ihre Frauen. Und von Frauen, die ihren Fischern sagen: «Lass deine saukalten Hände von mir!»
Jetzt sind meine Handschuhe so schleimig wie die gelbe Gummihose und die Fischleiber, die ich aus dem Netz klaube. Ich torkle mit den Wellen und klammere mich an die Reling. Aber für dieses Abenteuer werfe ich meine Würde mit Wonne über Bord – samt den Sculpins, drachenartigen Fischen, die niemand essen will.
Ein Ballern dröhnt übers Wasser, wie hundert knallende Autotüren. Graue Kolosse brechen vor uns aus dem Ozean. Buckelwale! Mit den Seitenflossen schlagen sie aufs Wasser, um Fischschwärme aufzuscheuchen. Wir sind so nah, dass wir ihren fischigen Atem beim Ausblasen riechen.
Am Strand von L’Anse aux Meadows beobachten Leute das Spektakel. Zwischen grasbedeckten Erdhäusern tauchen Wikinger mit fliegenden Gewändern auf. Einheimische, die für Touristen die wahren Entdecker des Kontinents Nordamerika nachspielen – die Wikinger kamen 500 Jahre vor Kolumbus. Jetzt küsse ich tatsächlich einen Kabeljau. Und wische mir nachher nicht mal die Lippen ab.
DIE BESTEN TIPPS
HOTSPOT
L’Anse aux Meadows National Historic Site ist Weltkulturerbe der Unesco und Wallfahrtsort für Wikinger-Fans: Auf der Fundstätte, wo die Wikinger vor tausend Jahren siedelten, findet man nachgebaute Sodhütten in einer prähistorisch anmutenden Landschaft und hört einheimischen Darstellern beim Erzählen spannender Wikinger-Geschichten zu.
SCHLAFEN
Das Cottage Quoyle’s House war einst im Besitz der US-Autorin E. Annie Proulx. Hier schrieb sie an ihrem von Hollywood verfilmten Bestseller «Schiffsmeldungen».
— L’Anse aux Meadows, Tel. 001 70 97 54 31 05, www.valhalla-lodge.com/rentals, ganzes Cottage ab ca. 180 Franken/Nacht für bis zu vier Personen
ESSEN & TRINKEN
Im Restaurant Norsemen gibts gehobene Küche. Auf der Speisekarte stehen Meeresfrüchte, Fische und Fleisch vom Karibu (Rentier).
— L’Anse aux Meadows, Tel. 001 70 97 54 31 05, www.valhalla-lodge.com/restaurant, geöffnet vom 25. 5. bis 20. 9.
Preiswerter ist es im Restaurant The Daily Catch in St. Lunaire-Griquet. Auf den Tisch kommt, was gerade gefischt wird, und aus heimischen Beeren gibts feine Desserts.
— St. Lunaire-Griquet, Tel. 001 70 96 23 22 95, geöffnet vom 1. 6. bis 30. 9.
Im Coffee in the Cove werden frische Backwaren und Suppen angeboten. Zum Kaffee aus fairem Handel lauscht man Gitarrenspiel am Cheminéefeuer.
— Hay Cove, Tel. 001 70 96 23 23 52, www.facebook.com/ CoffeeInTheCove, geöffnet nur im Sommer
In den Pub Skipper Hots geht man wegen der Musik: Hier gibts Bands und neufundländische Weisen zu hören. Plus: Screech-in-Zeremonien für Touristen.
— Straitsview, Tel. 001 70 96 23 22 41
SHOPPEN
Im Norstead Viking Village in L’Anse aux Meadows findet man Wikingermützen aus handgesponnener Schafwolle, gefärbt mit einheimischen Flechten. Wodka aus Eisbergwasser und Screech-Rum hat der Hedderson’s Store in St. Lunaire-Griquet im Angebot. Den getrockneten Kabeljau kauft man am besten direkt von den Fischern. ANREISE Von Zürich nach Toronto, weiter mit Air Canada oder Westjet von Toronto nach Deer Lake, dort mit dem Mietwagen in sechs Stunden nach L’Anse aux Meadows.
ANREISE
Von Zürich nach Toronto, weiter mit Air Canada oder Westjet von Toronto nach Deer Lake, dort mit dem Mietwagen in sechs Stunden nach L’Anse aux Meadows.
1.
So idyllisch kann das wilde Leben sein: St. Lunaire-Griquet, das in der Nähe von L’Anse aux Meadows liegt
2.
Fischer mit seinem Kabeljau-Fang in den Händen: «Entweder du küsst den, oder du küsst einen von uns»
3.
Oft zu sehen: Buckelwale. Mit ihren Seitenflossen schlagen sie aufs Wasser, um Fischschwärme aufzuscheuchen.
4.
Screech, der Neufundländische Rum