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Jugendliche mit Übergewicht: die Geschichte des 13-jährigen Florian Goldenmann

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Jugendliche mit Übergewicht: die Geschichte des 13-jährigen Florian Goldenmann

  • Text: Claudia SennFotos: Flurina Rothenberger

Flo nimmts leichter. 76 Kilo! Das war mal. Der 13-jährige Florian Goldenmann ist daran, sein Übergewicht loszuwerden, das er schon sein halbes Leben mit sich herumschleppt. Ein modernes Heldenepos.

Das Schlimmste am Dicksein ist nicht, den eigenen schweren Körper täglich die zwei Stockwerke ohne Lift hinaufzuwuchten. Das Schlimmste ist auch nicht, Brüste zu bekommen, obwohl man ein Bub ist, oder seine Kleider in der Männerabteilung kaufen zu müssen.

Die wahre Hölle der Dicken, das sind die anderen

Florian Goldenmann, genannt Flo, 13 Jahre alt, 1. 62 Meter gross, 76 Kilo, Adipositas Grad II mit einem Körperfettanteil von 36 Prozent, begleitet das Wort «Fettsack» wie ein Mantra. Anfangs versuchte er die Demütigungen wegzulächeln. «In Wirklichkeit bin ich auch eine Bohnenstange», sagte er zu seinen Kameraden, «man hat mir nur zu viel Dünger gegeben.» Doch mit Humor liess sich der Grausamkeit nicht Herr werden. Nachdem er ein ganzes Jahr still vor sich hin gelitten hatte, griff er sich den Rädelsführer und prügelte Rothenbergerihn – obwohl sonst «total gegen Gewalt» – windelweich.

Es war ein Befreiungsschlag. Aber auch ein Zeichen, dass mit Flo etwas ganz und gar nicht mehr stimmt. Was, wenn bei der nächsten Schlägerei jemand ernsthaft verletzt wird? Und was, wenn nicht nur Flos Seele, sondern auch sein Körper unter den vielen Kilos zusammenbricht? Anfang 2011 stösst Florians Mutter Cornelia Goldenmann, genannt Conny, 41 Jahre alt, 1.71 Meter und knapp unter 100 Kilo, auf einen Zeitungsbericht über ein Programm namens «Food 4 Teens», eine Kombination aus Ernährungsberatung, Psychologie und Sport. Der Artikel zitiert einen Jugendlichen mit den Worten, «Food 4 Teens» sei keine Diät, «ich darf essen, was ich will, sogar Sauce». Interessant, denkt Conny. Sauce. Das klingt gut.

Florian will mit einem Programm namens Food 4 Teens abnehmen

Trotz Schlankheitswahn und Fitnesskult ist Übergewicht die Volksseuche Nummer eins. Kürzlich schlug sogar die OECD Alarm. In zahlreichen Mitgliedsstaaten trägt jeder zweite Erwachsene und jedes dritte Kind zu viele Kilos mit sich herum. Vor dreissig Jahren waren es bloss zehn Prozent der Bevölkerung. Die Schweiz steht im internationalen Vergleich recht gut da. Doch auch hier sind 29 Prozent der Frauen, 46 Prozent der Männer und 15 Prozent der unter 13-Jährigen zu dick.

Manche dieser Kinder haben schon Bluthochdruck oder erste Anzeichen einer Herzkrankheit. Sie leiden unter Atemproblemen, Gelenkschäden und Diabetes. Auch ihre Hormone spielen oft verrückt: Die Buben verweiblichen, und ihre Geschlechtsorgane bleiben klein. Bei Mädchen setzt die Menstruation nicht ein, obwohl ihr Körper längst reif dafür wäre.

Es sind hierzulande nicht unbedingt die Armen und die Ungebildeten, die unter krassem Übergewicht leiden. Anders als in Deutschland, wo es kaum möglich ist, ein Kind von den 242 Euro Hartz IV, die es pro Monat zum Überleben bekommt, gesund zu ernähren, kann sich in der Schweiz auch ein Sozialhilfeempfänger Gemüse leisten. Es sind hier vor allem die Einsamen,  Unglücklichen, vom Leben Gebeutelten.

Oberflächlich betrachtet ist Florian ein normaler Junge. Er geht gern fischen, spielt E-Gitarre, ist im Schützenverein. Und dafür, dass er behauptet, Mädchen seien für ihn noch kein Thema, hängen ganz schön viele Poster mit Bikini-Girls in seinem Zimmer. Doch der Rucksack an Problemen, mit denen er fertig werden muss, ist für sein Alter gewaltig. Flos Probleme sind grösstenteils die Probleme seiner Mutter.

Conny will nicht ins Detail gehen, lässt aber durchblicken, dass ihr schon in der Kindheit Dinge angetan wurden, «die man trotz aller Therapie niemals vergisst». Die Zeit heilt eben nicht alle Wunden. Manche erträgt man nur mit einem dicken Schutzpanzer zwischen sich und der Welt. Ihr Vater, den sie trotz seiner Alkoholsucht sehr liebte, starb mit 49 Jahren an einem Herzinfarkt. Ein Jahr später lernte sie Flos Vater kennen, ein liebenswerter Mann, aber suchtkrank, auch er. «Ist es nicht entsetzlich, wie sich die Geschichte wiederholt?», sagt Conny.

Als sie es nicht mehr ertrug, wie ihr Mann sich und seine Familie zerstörte, war Flo 15 Monate alt. Ein Jahr lang nahm er nach der Trennung sein Besuchsrecht wahr, dann brach er den Kontakt ab. Vier Jahre später starb er unerwartet. Bald darauf fing das bei Flo an mit dem Dickwerden.

Eigentlich möchte Conny nichts lieber als arbeiten. Doch seit ihrem 16. Lebensjahr hat sie Ohnmachtsanfälle. Ihre Ausbildung zur Krankenschwester musste sie deswegen abbrechen. Zwei-, dreimal pro Woche kippt sie um, wo immer sie gerade ist. Irgendjemand ruft dann einen Krankenwagen. Und Flo, der es von Geburt an nicht anders kennt, sorgt wieder einmal für sich selbst oder übernachtet, wenn es länger dauert, bei seinem Gotti.

Wer ist schuld daran, dass Flo so dick ist?

«Ich», sagt Conny. «Ich mache mir grosse Vorwürfe. Ich bin ein schlechtes Vorbild.» Warum kann sie sich denn nicht einfach zusammenreissen? So wie die Schlanken, die nur ein Reiheli Schokolade essen statt die ganze Tafel? Weil sich nur derjenige «zusammenreissen» kann, der das Privileg hatte zu lernen, wie das geht, sagt der deutsche Hirnforscher Gerald Hüther, der in Göttingen untersucht, warum manche Menschen nicht anders können, als sich krank zu essen. «Wie sehr wir unser Verhalten steuern können, hängt wesentlich davon ab, wie stark wir dazu im Lauf des Lebens ermutigt worden sind. Wie viel Unterstützung und wie viel Erfolg wir dabei hatten.» Solche Erfahrungen waren in Connys Leben bisher rar.

Im April 2011 fährt sie mit Flo zum ersten «Food 4 Teens»-Treffen nach Wohlen AG. Alle zwölf Jugendlichen, die ins Programm aufgenommen worden sind, gehtden sind, haben mindestens einen Elternteil dabei, denn Übergewicht ist ein Phänomen, das immer die ganze Familie betrifft, selbst wenn nicht alle dick sind. Viel beschäftigte Akademiker-Eltern neigen dazu, das Problem delegieren zu wollen, sagt Ewa Jönsson, Ernährungswissenschafterin bei «Food 4 Teens». «Sie wünschen sich, dass ihre Kinder per Knopfdruck und ohne grossen Aufwand schlank gemacht werden.» Aber so funktioniert das nicht. Abnehmen ist harte Arbeit, für alle Beteiligten. Während der neunmonatigen Intensivphase opfern Flo und Conny jeden zweiten Mittwochnachmittag für ihr neues, leichteres Leben.

Sauce ist erlaubt im Abnehm-Programm

Die guten Vorahnungen bewahrheiten sich. Sauce ist tatsächlich erlaubt. Und die Ernährungswissenschafterin aus Schweden erweist sich als sinnesfreudige Köchin mit einer Schwäche für Schweizer Pommes Chips. Das Einkaufen und Kochen mit ihr ist eine Offenbarung. Ein Liter Eistee – 500 Kalorien, so viel wie zwei Frühstücke! Die angeblich so gesunden Müesliriegel – nichts als mit Glukosesirup zusammengepappter Mist! Flo streicht ab sofort die Energy Drinks. Conny kocht jetzt nach dem Modell «Powerteller»: die Hälfte des Tellers Gemüse und Salat, ein Viertel Eiweiss und ein Viertel Kohlehydrate.

Sie sind nicht wie andere Familien, bei denen es gar keine Tischkultur mehr gibt, weil sich jeder aus dem Kühlschrank bedient. Sie stopfen auch nicht vor dem Fernseher Tiefkkühlpizzas in sich hinein. Gemeinsame Mahlzeiten waren Conny immer wichtig. «Wir haben doch nur noch uns», sagt sie. Ihr Problem ist die Menge. 80 Gramm Teigwaren und 100 Gramm Fleisch, wie empfohlen, das ist etwa die Hälfte dessen, was sich Conny und Flo früher auf den Teller häuften, «und wenns fein war, haben wir nachgeschöpft».

FDH wirkt auch bei Jugendlichen Wunder

Flo, bekennender «Blattsalat-Hasser», trägt die Schrumpfportionen mit Fassung. «Ich würde schon manchmal gern mehr essen», sagt er, «aber ich bleibe hart.» Einmal sündigt er mit einem Steak. Die kalorienarmen Trutenschnitzel kann er einfach nicht mehr sehen. Conny spielt mit, denn schwach werden ist immer noch besser als ganz aufgeben. Sie einigt sich mit ihm auf Pferdefleisch, das hat «sozusagen null Fett». Mit leuchtenden Augen erzählt Flo von diesem «400-Gramm-Flärre, der über den Tellerrand lampte». Allen anderen Versuchungen hält er tapfer stand.

Er trägt jetzt ein kleines Gerät am Gürtel, das seine Schritte zählt. 10 000 am Tag sollten es sein, sagt Bewegungstrainerin Margrit Seiler. Das klingt nach viel, kommt aber mit dem Schulweg und ein bisschen Velofahren ganz ohne Parforceleistungen zustande. Flo schafft die wor10 000 so gut wie immer. Anders sieht es mit der Sportaktivität aus, für die er sich verpflichten sollte. Boxen, Modern Dance, Unihockey – die Möglichkeiten wären grenzenlos. Aber Flo ist das zu blöd. Schon die «Food 4 Teens»-Turnstunden absolviert er mit mässiger Begeisterung, egal, wie offensiv die Trainerin jede kleine Verbesserung lobt. Ausserdem hat er mit dem Schiessen doch schon einen Sport, auch wenn der mit einem Minimum an Bewegung auskommt. Also schliesst er mit Margrit Seiler einen Deal ab: Zum Schützenverein im Nachbardorf fährt er immer mit dem Velo. Besser als nichts, findet Margrit Seiler. Mehr als genug, findet Flo.

Eine wichtige Gesprächspartnerin für Conny und Flo wird Monika Gygax, die Familientherapeutin. «Sie ist unsere Big Mama», sagt Conny. Gygax’ Hauptaufgabe ist es, das Selbstwertgefühl der Jugendlichen zu stärken, denn das ist bei vielen auf null. Wer sich für das Letzte hält, geht davon aus, dass es die anderen auch tun. Mobbing sei ein Riesenthema, sagt Monika Gygax. Ausserdem das Klima in den Familien, wo der jahrelange Kampf mit den Pfunden tiefe Gräben aufgerissen hat. Manche Eltern trauten ihrem Kind kaum noch etwas zu, andere überschütteten es mit Vorwürfen oder kümmerten sich um gar nichts mehr, bis die Situation eskaliert.

Bei «Food 4 Teens» versucht Flo nun die eigenen Stärken und Schwächen wiederzuentdecken. Er malt, diskutiert, füllt Fragebogen aus. In Rollenspielen lernt er, die fiesen Sprüche in der Schule zu kontern. Monika Gygax ermuntert ihn, in Selbstverantwortung Familienausflüge zu organisieren oder ein feines Znacht zuzubereiten. Und Conny soll dann bitteschön darüber hinwegsehen, wenn die Küche aussieht wie ein Saustall. Toleranz! Ermutigung! So entstehen Erfolgserlebnisse.

Beim dritten Treffen, im Mai, wird Flo gewogen. Es ist der Tag der Wahrheit. Sind all die nicht gegessenen Fruchtjoghurts und Frühstücksflocken die Sache wert? Und wie! Flo hat nicht nur abgenommen, er hat sogar mehr abgenommen als alle anderen! «Ich bin voll der Streber im Abnehmen », grinst er. Drei Kilo sind es im ersten Monat, in den folgenden Monaten verschwindet immer mindestens ein weiteres. Bis im September sind es 8,2 Kilogramm – «das ist gigantisch, das ist ein grossartiger Erfolg», sagt Ewa Jönsson, die Ernährungswissenschafterin.

Gewichtiger Erfolg für Florian

1. 63 Meter, 68 Kilo – Flo ist jetzt nur noch übergewichtig, nicht mehr adipös. Sein Körperfettanteil ist von 36 auf 26 Prozentpunkte gesunken. Wenn er so weitermacht, könnte er in einigen Monaten das Idealgewicht erreichen Hamsterbacken und Doppelkinn sind fast weg, und darunter kommt ein hübscher Kerl hervor. Das werden bald auch die Mädchen spitzkriegen. Flo schaut jetzt viel lieber in den Spiegel. Aber wird er es auch schaffen, nicht in alte Gewohnheiten zu verfallen, wenn das Programm zu Ende ist? «Flo packt das», sagt Monika Gygax. «Er kann zwischen seinen Problemen und jenen seiner Mutter unterscheiden», sagt Ewa Jönsson. Schwierigkeiten könnten auftauchen, wenn Flo sich von Conny lösen will. Aber er habe alle Werkzeuge, um sich zu einer starken, eigenständigen Persönlichkeit zu entwickeln.

Conny hat inzwischen die 100-Kilo-Grenze überschritten, trotz Powerteller und Schrittzähler. «Es nervt mich ja selbst, wenn die Hosen wieder spannen», sagt sie. «Aber ich kann einfach nicht anders.» Die innere Leere sei es, die sie mit Essen füllt. Flo hört sie zwar nachts am Kühlschrank rascheln, doch Conny achtet sehr darauf, ihre schwachen Momente vor ihrem Sohn geheim zu halten. «Ich bewundere ihn», sagt sie. Auf keinen Fall möchte sie seinen Erfolg torpedieren.

Es gibt einen Rückweg aus der Hölle der Dicken. In der Schule sagen sie jetzt öfter: Flo, hast du abgenommen? Wie hast du das geschafft? Er kriegt von Buben Komplimente, aber auch von Mädchen, sogar von Bohnenstangen.

Das, sagt Flo, fühlt sich einfach fantastisch an.

Hilfe für übergewichtige Kids

«Food 4 Teens» in Wohlen AG startet im Frühjahr 2012 mit einer neuen Gruppe. Die Kosten werden von der Krankenkasse übernommen. Voraussetzung ist massives Übergewicht und/oder bereits vorhandene Folgeerkrankungen.
www.food4teens-wohlen.ch
Der Schweizerische Fachverein Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AKJ) setzt sich für die Entwicklung professioneller Hilfsangebote ein. Auf der Website findet sich eine Liste aller zertifizierten Programme in der Schweiz.
www.akj-ch.ch
BMI-Rechner für Kinder:
www.gesundheitsfoerderung.ch

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«Ich bin voll der Streber im Abnehmen»: Heute ist Florian acht Kilo leichter …

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als vorher. (Hier mit seiner Grossmutter.)