Verrückt und beglückend, schmutzig und schön: Warum Jerusalem mehr denn je eine Reise wert ist.
Jerusalem ist verrückt und beglückend, schmutzig und schön zugleich. Keine andere Stadt bringt das Spannungsfeld des Nahen Ostens – und mit ihm die ganze Welt – präziser auf den Punkt. Denn Jerusalem ist der Nabel dieser Welt.
Es ist ein kurzer Spaziergang entlang der Stadtmauer bis hinunter zum Carparkplatz. Von dort fällt der Blick über die verwinkelten Flachdächer von Wadi Helweh, einem arabischen Quartier im Ostteil von Jerusalem. Seine Häuser zerstreuen sich in einer biblischen Hügellandschaft: ein Kalenderbild. Eine Gruppe Touristen entsteigt einem Car, gerüstet mit Kameras und Fotoapparaten. Zielstrebig bewegt sie sich auf die andere Strassenseite, wo grosse Schilder auf ein archäologisches Ereignis verweisen: «City of David» heisst das ehrgeizige Ausgrabungsprojekt, das von einer privaten israelischen Stiftung finanziert wird. An dieser Stelle, liest man im Prospekt, wurde Jerusalem gegründet. Hier sah der Prophet Jeremia den Untergang der Stadt voraus. Hier baute der Judenkönig David seinen Palast.
Dass Archäologen Letzterem bis heute keinen Fund zuordnen konnten, stört die 400 000 Touristen nicht, die jährlich den Park besichtigen. Sie werden von jungen Frauen und Männern durch die Anlage geführt und bekommen zu jedem Stein eine spannende Geschichte erzählt. Hauptattraktionen sind Mauerresten, unterirdische Gänge, ein antikes Wasserreservoir, Grabhöhlen. Wer von der markierten Route abweicht, wird erstaunt feststellen, dass sich auf dem Gelände mehrere Wohnhäuser befinden. Vor einigen stehen Offroader, deren Fenster mit Stahlgittern geschützt sind. Auf den Dächern flattern israelische Flaggen. Hauseingänge sind mit Kameras überwacht, Terrassen mit Stacheldraht verbarrikadiert. Mulmig wird einem beim Anblick des bewaffneten Sicherheitsbeamten, der am Ausgang des Geländes steht. Dieser Park, so denkt man, ist eine interessante Sache – doch was haben hier Maschinenpistolen und Stacheldraht verloren?
Die Antwort finde ich ein paar Schritte vom Haupteingang zur «City of David». In einem heruntergekommenen palästinensischen Kulturzentrum ist das Wadi Helweh Information Center einquartiert, wo abenteuerlustige Besucher «die wahre Geschichte der ‹City of David›» erfahren. Informationsbeauftragte ist Muna Hasan, eine junge Palästinenserin in engen schwarzen Jeans, Lederjacke, Turnschuhen. Sie studierte Physik an der Al-Quds-Universität in Jerusalem und spricht vier Sprachen fliessend: Arabisch, Hebräisch, Spanisch, Englisch. «Haben Sie die schön renovierten Häuser gesehen? Bis vor Kurzem lebten darin noch palästinensische Familien. Jetzt verschanzen sich dort jüdische Siedler.»
Tatsächlich steckt hinter der «City of David» die vermögende national-religiöse Siedlerorganisation Elad. Diese kauft in Wadi Helweh seit Jahren arabische Wohnhäuser, die von der Regierung aufgrund rigider Baugesetze annektiert wurden. In die zwangsgeräumten Liegenschaften ziehen radikale Siedler ein, private Sicherheitsfirmen schützen sie vor steinewerfenden Jugendlichen. Die Kosten begleicht der Staat. «Es ist klar, worum es hier geht», sagt Muna. «Aus dem arabischen Wadi Helweh soll ein jüdisches Quartier werden, staatlich gefördert und touristisch aufgewertet durch einen archäologischen Erlebnispark.»
Auf der Strasse vor dem Kulturzentrum spielen Kinder Fussball. Schwer zu sagen, ob die Risse im Asphalt von den unterirdischen Grabungsarbeiten stammen, wie Experten vermuten. Oder ob hier seit Jahrzehnten keine Sanierungen mehr vorgenommen wurden. Auch die Müllabfuhr scheint einen Bogen ums Quartier zu machen. Muna Hasan sagt: «Wir zahlen Steuern, genau wie die Israeli. Nur sehen wir vom Geld nichts. Wir haben Pflichten, wie die Israeli, aber dieselben Rechte haben wir nicht.» Ziemlicher Dämpfer, dieses Wadi Helweh, denke ich. Schliesslich soll das eine Reisereportage werden, kein politischer Stimmungsbericht. Doch geht das hier überhaupt?
Die blechernen Rufe der Muezzins heulen wie melodiöse Sirenen von den Minaretten der Stadt. Über uns, auf dem Tempelberg, leuchtet die Kuppel der Al-Aqsa-Moschee in der Abendsonne: ein weiteres Kalenderbild. Ob sie israelische Freunde habe, frage ich Muna Hasan? Sie schüttelt den Kopf. «Manchmal treffen wir israelische Menschenrechtsgruppen … aber Freundschaften sind das keine. Israel ist eine Besatzungsmacht. So können keine Freundschaften entstehen. Zuerst wollen wir unseren eigenen Staat. Mit Ostjerusalem als Hauptstadt. Dann sehen wir weiter.»
Der Taxifahrer schimpft auf dem Weg vom arabischen Wadi Helweh ins jüdische Mamilla-Quartier. Die Palästinenser würfen Steine nach israelischen Taxis. Allerdings scheinen mir seine Überholmanöver die eminentere Gefahr für einen Blechschaden. Der Fahrer reagiert begeistert, als ich ihm erzähle, gleich den Rap-Star Shaanan Streett zu treffen: Shaanan und seine Hip-Hop-Truppe Hadag Nachash sind die Beastie Boys von Israel. An ihre Konzerte strömen Tausende von Fans – auch Palästinenser. Wovon die Lieder handeln, will ich vom Taxifahrer wissen. Achselzucken. Ihn interessiere nur die Musik. Sagts und ignoriert ein Rotlicht. Es gibt Theorien, nach denen sich in Israel die politischen Spannungen im Verkehr entladen.
Wir sitzen im Café Beit Ha-Qahwa westlich der Altstadt, wo die Strassen saniert sind, die Häuser gepflegt. «Wir sind eine politische Band», sagt Shaanan Streett, ein sympathischer backenbärtiger T-Shirt-Typ. «Ich fühle mich verpflichtet zu kommentieren, was in unserem Land falsch läuft.» Zum Beispiel? «Wir Juden haben Angst vor den Arabern, die Araber haben Angst vor uns Juden – und den Palästinensern gehts immer dreckiger.» Das winzige Café gehört Shaanan Streetts Schwägerin, die es vor einem Jahr mit improvisiertem Charme und einem Schuss Berlin eröffnete. Hier isst man herrliche vegetarische Kleinigkeiten – Suppen, belegte Brote, Mezze –, eine einfache orientalische Küche, explizit «non kosher», wie es auf Facebook heisst. Solche Orte gebe es in Jerusalem immer weniger, sagt Shaanan Streett. «Die Stadt wird immer religiöser, immer radikaler. Ich wuchs in einem säkularen jüdischen Quartier auf. Heute leben dort nur noch Orthodoxe. Meine Band ist nach Tel Aviv abgehauen. Ein wunderbarer Ort, um vor der Realität zu flüchten. Man vergisst den Konflikt, dem man in Jerusalem täglich begegnet. Hier weiss man nie, wann die nächste Welle der Gewalt über uns hereinbricht.» Warum er selbst noch nicht nach Tel Aviv gezogen sei? «Jerusalem ist das echte Leben. Der Nahe Osten. Mehr Damaskus als Tel Aviv. Eine verrückte, eine schmutzige Stadt. Deshalb liebe ich sie. Deshalb bleibe ich in Jerusalem.»
Die Heilige Stadt: Mein erster Besuch vor drei Jahren war wie ein Fiebertraum. Wir hetzten durch ein Labyrinth von Gassen, benommen vom Singsang der Muezzins, dem Dröhnen der Glocken, dem Sound der Sprachen. Ging in diesem Suk nicht mal eine Bombe hoch? Jemand hatte sich ein Kreuz aufgeladen und schleppte es die Via Dolorosa hinauf zur Grabeskirche. Fromme Christen vergossen Tränen auf abgewetzten Steinen. Orthodoxe Juden drängten sich mit Touristen an der Klagemauer. Und darüber, auf dem Tempelberg, strömten die Muslime zum Mittagsgebet zusammen. Heiliger Bimbam! Hier brodelt die ganze Suppe religiöser Eiferei. Bloss weg hier. Bereits im Bus nach Tel Aviv wusste ich: Ich werde wieder kommen.
Ich stehe vor dem Damaskus-Tor und hole tief Luft. Denn das Damaskus-Tor ist auch eine Zeitmaschine: Wer es durchschreitet, tritt in die Vorvergangenheit; findet sich wieder in einem alttestamentarischen Ur-Gemenge von Menschen in orientalischen Gewändern, Tüchern, Schleiern, Kufijas. Dazwischen chassidische Juden im schwarzen Kaftan, Mönche in braunen Kutten, vollbärtige armenische Priester. Vorbei geht die Zeitreise an Broten und Fladen, Socken und Plastik-Kruzifixen. An Bergen von Orangen und Zitronen, Pfefferminze und Thymian. Im Reiseführer steht: «In der Altstadt teilen sich 25 000 Palästinenser, 3000 Juden, 2000 Armenier und 500 Christen eine Fläche von einem Quadratkilometer.»
Der Strom treibt mich zum Österreichischen Hospiz, einst Pilgerhaus und Residenz des österreichischen Konsuls, später ein Lazarett der jordanischen Armee. Hinter seinen Mauern versteckt sich das vermutlich einzige Wiener Café im Nahen Osten. Von den Decken hängen Kronleuchter, an den Wänden Sissi und Franz Joseph. Im Garten wachsen Palmen, junge Menschen trinken Cappuccino. Nahostkonflikt? Nicht hier! Auch nicht beim armenischen Barbier, wo ich mir den Bart abschaben lasse. Nicht auf dem Tempelberg, wo arabische Kinder hinter der Al-Aqsa-Moschee Fussball spielen. Der Blick über Dächer, pastorale Hügel und ferne Klöster: ein Gemälde der Versöhnung. Kein Konflikt am Horizont! Dann entdecke ich unter mir das Wadi-Helweh-Quartier mit seinem «City of David»-Park. Ich sehe die Häuser der Siedler und das armselige Kulturzentrum, wo Muna Hasan auf mutige Touristen wartet. Ich kann sogar die Risse in der Strasse erkennen.
Espresso-Stopp im Café Mizrahi, versteckt im jüdischen Yehuda Market. Es läuft gute Musik, junge Leute diskutieren, lesen, trinken Wein: Menschen, die weder Kippa, Sheitl, Kutte, Jesussandalen noch Palästinensertuch tragen. Habe ich erwähnt, dass man in Jerusalem traumhaft essen kann? Dass es hier hervorragende Kunstmuseen gibt? Pulsierende Ausgehviertel und tolle Architektur? Dass die jüdische Cinemathek arabische Independentfilme zeigt? Coole Cafés in der ganzen Stadt versteckt sind? Man braucht «den Konflikt» nicht an jeder Strassenecke zu suchen. Aber man müsste sich Scheuklappen umbinden, um ihn auszublenden.
Ein Buch mit dem Titel «3000 Jahre Jerusalem» von Irene Lande-Nash lässt die Auseinandersetzungen der letzten paar Jahrzehnte wie einen Klacks in der Geschichte Palästinas erscheinen. Ein Turborückblick: Jerusalem wird um 1900 v. Chr. zum ersten Mal auf einer ägyptischen Vase erwähnt. Der Zusammenhang ist nicht schmeichelhaft. Eine Fluchformel richtet sich mit den Worten «Sterben sollen sie» gegen den damaligen Herrscher der Stadt samt seinen Untertanen. Doch erst der israelitische König David führte Jerusalem um 1000 v. Chr. in die Weltgeschichte ein. Nach ihm herrschten Babylonier, Perser, Assyrer, Makädonier, Seleukiden, Römer, Araber, Kreuzritter, Osmanen, Engländer, Jordanier, Israeli über die Stadt. Die falsche Glaubensrichtung war meistens ein Todesurteil. Heute leben in Jerusalem knapp 800 000 Menschen. 65 Prozent Juden, 32 Prozent Araber und zwei Prozent Christen.
Eine davon ist Schwester Christiane. Sie stammt aus dem Schwarzwald und arbeitet für das Christian Information Center der Franziskaner Kustodie. Hier, im christlichen Altstadtviertel, sitzt sie jeden Morgen ausser sonntags und findet kaum eine Minute, in Ruhe ein E-Mail zu beantworten. «Zu uns kommen Touristen, Einheimische, Pilger, Neugierige, Gläubige. Möchte jemand eine Liste mit allen Gottesdiensten – anglikanische, ökumenische, orthodoxe –, wir haben sie.» Und Christiane hat auch zu jeder Frage den passenden Prospekt. Konzerte mit geistlicher Musik? «Einen Moment bitte, ich druck Ihnen was aus.» Christliche Hilfsprojekte in der Region? «Ich mach Ihnen gleich eine Kopie.» Die nächste Führung in der Grabeskirche? «Hier steht alles drin.»
Eben schlurft ein langbärtiger, barfüssiger Mann im wallenden Gewand zur Tür herein. Statist in einem Bibelfilm? Falsch. Ein christlicher Pilger. Er suche nach einer günstigen Unterkunft. Schwester Christiane druckt ihm eine Liste aus. «Man weiss nie, wer als Nächster zur Tür hereinspaziert», sagt sie später. «Manche Leute halten sich für Propheten. Da denkt man dann: Um Himmels willen, was jetzt? Meistens reicht es, diese Menschen zu beruhigen, ihnen zuzuhören, sie herunterzuholen.»
Ich frage: Ist Jerusalem nicht ein wahnsinnig anstrengender Arbeitsplatz? Die Frömmigkeit, der Platzneid, die symbolische Überhöhung? Dann realisiere ich, dass meine Frage keinen Sinn macht. So wenig, wie einen Arzt zu fragen, warum er in einem Spital arbeite. «Das hier», sagt sie, «ist das Land des Herrn. Die Gnade, hier arbeiten zu dürfen, lässt sich nicht in Worte fassen. Es ist ein Privileg, von so vielen Glaubensrichtungen umgeben zu sein. Die Konflikte gehören zur Stadt, wie sie zur Welt gehören. Jerusalem ist der Nabel der Welt.»
Es gibt keinen passenderen Ort, sich über den «Nabel der Welt» den Kopf zu zerbrechen, als die Lobby des King David Hotel. Hier, im Prunkpalast, versinkt man weltmännisch in dunklen Lederpolstern und fühlt sich wie Lawrence of Arabia. Man lässt den Blick durch die orientalische Eingangshalle schweifen, in der sich schon viele Könige, Präsidenten und Potentaten die Hand zum Frieden reichten. Neben der Réception, wo eine offene Bürotür die Neugierde des Beobachters weckt, hängt die Ahnengalerie der US-Präsidenten, die sich am Nahostkonflikt die Zähne ausbissen: Truman, Eisenhower, Kennedy, Johnson, Nixon, Ford, Carter, Reagan, Bush Senior, Clinton, Bush Junior. Obama dürfte folgen.
Der Bauunternehmer Muhammed Nuseibeh ist einer, der sie alle gesehen hat: die Staatsmänner, die kamen und gingen. Er ist eine palästinensische Instanz. Eine schillernde Nahostfigur, nicht wegzudenken aus dem Jerusalemer Tagesgeschäft. Kannte Arafat, Jimmy Carter, Papst Johannes Paul II. Baute arabische Wohnsiedlungen im Westjordanland, war Mitgründer der Al-Quds-Universität, ist Hotelier und Vorsitzender des Obersten Islamischen Rats. Und vor allem: Seine Familie öffnet und schliesst seit mehr als 1300 Jahren jeden Morgen und jeden Abend die Tür zur Heiligen Grabeskirche. Zur Erinnerung: An ihrer Stelle soll Jesus Christus gekreuzigt worden, gestorben und auferstanden sein.
Muhammed Nuseibeh ist ein kleiner, bescheidener Herr von 72 Jahren in Anzug und Krawatte. Sein Haus steht im Ostteil Jerusalems. Er bittet mich in ein üppig möbliertes Empfangszimmer, mehr Florenz als Orient, und versinkt in einem der barocken Sessel. «Kalif Omar», holt Muhammed Nuseibeh aus, «hatte im Jahr 638 verordnet, dass der Schlüssel zum bedeutendsten christlichen Heiligtum einer muslimischen Familie übergeben wird. Unserer Familie.» Grund seien die ständigen Streitereien innerhalb der Grabeskirche gewesen. «Wir dienten über Jahrhunderte als Vermittler und Schlichter zwischen den Konfessionen.»
Tatsächlich kommt es in der Kirche immer wieder zu unchristlichen Momenten, ausgelöst durch ein hierarchisches Verwaltungssystem. Diesem gehören die Griechisch-Orthodoxe Gemeinde, die Römisch-Katholische Kirche, der Franziskanerorden, die Armenisch-Apostolische Kirche, die Kopten, Syrisch-Orthodoxen und Äthiopisch-Orthodoxen an. Und in dieser Reihenfolge verhalten sich die Machtansprüche der Mönche, die im düsteren, vertrackten Gebäude leben: Griechen und Lateiner sind die Platzhirsche, während Äthiopier und Syrer über ein paar Nebenschauplätze verfügen. 2002 kam es auf dem Flachdach der Kirche zu einer Keilerei, nachdem ein koptischer Mönch seinen Stuhl in den Schatten eines Baums und somit ins Terrain der Äthiopier gerückt hatte. 13 Personen wurden verletzt: kein Kalenderbild.
Muhammed Nuseibeh sieht seine Familie als eine Art Uno der Grabeskirche. Ein Beispiel dafür, wie mittels unparteiischem Beistand der Friede bewahrt werde. «Ich war immer der Meinung, dass sich dieses Modell auch auf Ostjerusalem und das Westjordanland anwenden liesse: mit einer neutralen Verwaltungsmacht, die uns längerfristig in einen unabhängigen palästinensischen Staat führt. Heute bin ich überzeugt, dass es dafür zu spät ist. Araber und Juden müssen sich mit dem Gedanken anfreunden, zusammen in diesem Land zu leben. Als Nation zweier Völker mit den gleichen Rechten für alle.»
Muhammed Nuseibeh wirkt etwas verloren in seinem grossen Sessel, umzingelt von Familienfotos. Sein Haus ist in der Vergangenheit mehrmals von den Israeli zerstört worden. Irgendwie scheint er selbst ein wenig überrascht, noch immer hier zu sitzen. «Ich habe die britische Mandatszeit, den Unabhängigkeitskrieg, den Sechstagekrieg und den Yom-Kippur-Krieg überlebt. Mein Leben in Jerusalem war nie friedlich. Aber ich liebe die Stadt und bete, dass der Frieden bald kommt.»
Entlang der Ben Yehuda Street reihen sich Restaurants, Imbissbuden und Boutiquen. Geschäftiges Treiben kurz vor Beginn des Sabbat. Die Cafés sind voll, es werden Fladenbrote, Hummus und Oliven an der Sonne aufgetischt. Chassidische Patriarchen führen ihre Grossfamilien spazieren. Bausünden der vergangenen Jahrzehnte zeugen vom Bestreben, sich vom Orientalischen, Rückständigen abzuheben, eine moderne Metropole werden zu wollen; ein kultiviertes, vergnügliches, geniesserisches Jerusalem. Hier, im jüdischen Herzen der Zukunft, verübten palästinensische Extremisten immer wieder blutige Anschläge. Die Attentäter kamen nicht aus Gaza oder Hebron, sondern aus den arabischen Vierteln der Stadt. Sie waren Söhne Jerusalems.
«We need to talk», fordert ein Graffiti gleich neben dem Eingang zum Ludwig Mayer Bookstore. Besitzer des Ladens ist der gebürtige Berliner Marcel Marcus. Er sitzt an seinem Pult zwischen überfüllten Regalen, im Radio läuft klassische Musik. Er lebe mit seiner Frau in einem Teil der Stadt, der an ein palästinensisches Quartier grenze. «Früher gingen wir dort einkaufen», sagt er. «Seit der Zweiten Intifada aber nicht mehr. Die Stimmung ist geprägt von Misstrauen und Angst. Immerhin teilen sich arabische und jüdische Kinder noch den Fussballplatz. Nur spielen sie nicht mehr zusammen.»
Marcel Marcus trägt Strickpullover, Jeans, Turnschuhe, Kippa. Er war zwei Jahre Rabbiner in Newcastle, danach 17 Jahre in Bern. In der Zeitung las er einen Artikel über den Ludwig Mayer Bookstore – prominente Adresse für Studenten und Akademiker seit 1908. Die Besitzer des Antiquariats, erfuhr Marcel Marcus, suchten einen Käufer. «Ich fragte eine Freundin, die Buchhändlerin ist, ob ich mir diesen Beruf zutrauen dürfe. Sie drückte mir ein paar Fachbücher in die Hand und meinte, das würde ich schaffen.» 1996 übernahm er den Laden. «Nicht weil ich der Meinung bin, Jerusalem sei ein auserwählter Ort für uns Juden, sondern weil ich fand, dass zwanzig Jahre als Rabbiner genug waren.»
In den Regalen stapelt sich akademische Literatur: Geschichte, Politik, Sprachen, Theologie, viel Archäologie. Ich erzähle Marcel Marcus von den Grabungsarbeiten in der «City of David». Er winkt ab: archäologisch gesehen interessant, doch politisch eine Provokation. «Ich habe überhaupt ein Problem mit sogenannt heiligen Orten. Ich weiss nicht mal, wann ich zum letzten Mal an der Klagemauer war. Diese Streitereien um den Tempelberg – ich verstehe das alles nicht. Mich interessieren in Jerusalem nicht die Steine; ich mag die Menschen, das Chaos, die Kreativität.»
Nachtspaziergang durch die ausgestorbene Altstadt. Ihre 30 000 Bewohner wurden offenbar von ihren Häusern verschluckt. Gesänge aus verborgenen Talmudschulen. Katzen huschen durch die leeren Lauben. Ich betrete ein Café mit verheissungsvollem Namen: «Jerusalem Star». Zigarettenrauch schwebt zur Decke, Männer spielen Karten, sprechen leise arabisch. Die Alten tragen die Kufija, die Jungen Gel im Haar. An den Wänden alte Fotos: Kalifen, Sultane, Felsendom, Mekka, Arafat. Ein Ventilator surrt. Jemand gewinnt das Kartenspiel. Gelächter. Am Ende des Tages möchten alle ihren Frieden. Schalom, nickt mir der Kellner zu.
ESSEN & TRINKEN
Hummus Ben Sira
3 Ben Sira Street
Tel. 972 054 754 29 54
Frühstück auf hebräisch: Hummus, Eier, Tomaten, Gurken, Brot, Lachs, Oliven.
Café Mizrahi
Im Yehuda Market
12 Hashezif Street
Hier sitzt hippes Künstlervolk neben Marktarbeitern und Hausfrauen. Leckere frische Kuchen, guter Kaffee. Danke, Itay, für den Tipp!
Café Beit Ha-Qahwa
3 Yanai Street
Tel. 972 2 622 37 58
Hili Klatchkos kleine Café-Bar könnte auch in Berlin sein. Nur das Essen ist einfache mediterrane Küche. (siehe Haupttext).
Resto Bar
1 Ben Maimon Street
Tel. 972 2 566 51 26
www.restobar.rest-e.co.il
Angesagter Laden, leichte Küche, gute Weine, geöffnet auch am Sabbat.
Machneyuda
10 Beit Yaakov Street
Tel. 972 2 533 34 42
www.2eat.co.il/eng/machne-yuda
Mediterrane Küche mit marktfrischen Produkten, gemanagt von drei Spitzenköche. Ultra-hippes Szenevolk. Reservieren!
Restaurant Jerusalem Hotel
Nablus Road
Tel. 972 2 628 32 82
www.jrshotel.com/diningf.html
Authentisches arabisches Essen im wunderschönem Garten.
SCHMONZES
Altstadtmarkt
Der Suk im muslimischen Viertel der Altstadt ist ein orientalischer Bilderbuchmarkt und Jerusalems Hauptschlagader. Ein Abenteuer.
Jehuda-Markt
Grosser jüdischer Markt nach arabischem Vorbild: Gemüse, Früchte, Gewürze, Fingerfood. Dazwischen versteckte Cafés.
Ludwig Mayer (Jerusalem) Ltd.
4 Shlomzion Ha-Malka Street
www.mayerbooks.com
Viel akademische Literatur, aber auch Reisebücher, Bildbände, Strassenkarten zur Region (siehe Haupttext).
Educational Bookshop
19 Salah Ad-Din Street
www.educationalbookshop.com/
Literatur rund um die Themen Palästina, Nahost, Israel. Auch die Comic-Reportagen von Joe Sacco liegen hier auf. Nebenan führt ein kleiner Laden Nachdrucke alter Tourismusplakate aus
der Mandatszeit.
SEHEN
Israel Museum
Ruppin Boulevard
Tel. 972 2 670 88 11
www.english.imjnet.org.il
1965 als Nationalmuseum gegründet, 2010 mit einem 100-Mio.-Anbau neu eröffnet. Die Sammlung umfasst Schwerpunkte wie Kunst der Moderne, Archäologie, Judaika, Ethnografie. In der Braginsky Collection (des Zürcher Investors René Braginsky) findet sich die weltweit bedeutendste Sammlung alter jüdischer Schriften, die im November dann auch im Landesmuseum in Zürich zu sehen ist.
Rockefeller Museum
27 Sultan Suleyman Street
Tel. 972 2 628 22 51
Eines der grössten archäologischen Museen Israels. 1927 mit finanzieller Unterstützung von John D. Rockefeller erbaut.
German Colony/Ha-Moshava
Erbaut wurde dieses Quartier von der deutschen Templersekte im 19. Jahrhundert, heute ist es eines der angesagtesten Wohn- und Ausgehviertel der Stadt. Palmengesäumte Strassen, blühende Gärten, schicke Restaurants, Galerien, ein Arthouse-Kino (das Lev Smadar Theater, 4 Lloyd George Street) und viel szeniges Volk in den Strassencafés.
Season of Culture
Grosses Jerusalemer Kulturfestival vom 18. 5. bis 28. 7.
www.jsoc.org.il
Davids-Turm Museum
Altstadt, Jaffa-Tor
Tel. 972 2 626 53 33
www.towerofdavid.org.il
In dieser ehemaligen Festung von König Herodes befindet sich das Museum zur Geschichte der Stadt Jerusalem. Pflichtstoff!
HOTELS
Mamilla Hotel
11 King Solomon Street
Tel. 972 2 548 22 22
www.mamillahotel.com
DZ mit Frühstück ab 400 Franken
Eben erst eröffnet und bereits ein Star unter den gehobeneren Hotels der Stadt. Tolles Design, schöne Zimmer, fantastisches Frühstücksbuffet, Dachterrasse, Pool. Wenige Gehminuten von der Altstadt am Rande des pulsierenden Mamilla-Quartiers gelegen.
YMCA Three Arches
26 King David Street
Tel. 972 2 569 26 92
www.ymca3arch.co.il/
DZ mit Frühstück ab 160 Franken
1931 vom Architekten des New Yorker Empire State Building als Ableger der YMCA-Kette eröffnet. Es befindet sich gleich gegenüber dem berühmten King David Hotel, umgeben von einer schönen Parkanlage. Günstige und bewährte Jerusalem-Adresse.
REISEINFOS
Bischofberger Info Reisen
Organisiert seit 20 Jahren Rundreisen nach Israel, Jerusalem, Nahost und Arabien.
Beratung und Infos: Dufourstrasse 157 Zürich, Tel. 044 384 93 93, www.bischofberger-reisen.ch
Easyjet
Bietet zwischen Basel und Tel Aviv One-Way-Flüge ab ca. 100 Franken.
Ir-Amim
27 King George Street
Tel. 972 2 622 28 58
www.ir-amim.org.il
Diese israelische Organisation bietet englisch-sprachige Touren in den arabischen Ostteil Jerusalems. Ziel ist es, Touristen auf die umstrittene Siedlungspolitik Israels und die Lebensbedingungen der Palästinenser aufmerksam zu machen.
Wadi Hilweh Information Center
Ma’alot Ir David Street
www.silwanic.net
Das Zentrum befindet sich gleich unterhalb des Eingangs zur «City of David» (siehe Haupttext). Anmeldung ist ratsam.
1.
Blick über die Heilige Stadt vom Ölberg aus: Im Vordergrund die jüdischen Friedhöfe, dahinter der Tempelberg
2.
Der Suk hinter dem Damaskus-Tor: Ein Gemenge von Menschen, ein überwältigendes Angebot von Waren
3.
Der Felsendom auf dem Tempelberg: Von hier soll Mohammed in den Himmel gefahren sein
4.
Muna Hasan: Die Palästinenserin erzählt Touristen die «wahre Geschichte der ‹City of David›», einer Ausgrabungsstätte vor den Toren Jerusalems.
5.
Marktbummel: Als würde man in alttestamentarische Zeiten eintauchen
6.
Mit dem Gewehr auf Patrouille: Man braucht den Nahostkonflikt zwar nicht an jeder Strassenecke zu suchen. Aber man müsste sich Scheuklappen montieren, um ihn auszublenden
7.
Marcel Marcus: Einst Rabbiner, heute Besitzer des Ludwig Mayer Bookstore
8.
Jedem seine Kopfbedeckung: Auslage im Hutshop
9.
In Jerusalems Altstadt leben mehr Araber als Juden. Die Flagge mit dem Davidstern wird hier meistens von national-religiösen Israeli gehisst
10.
800 000 Menschen leben in Jerusalem: 65 Prozent Juden, 32 Prozent Araber, zwei Prozent Christen
11.
«We need to talk»: Ein Aufruf zur Völkerverständigung.
12.
Die Klagemauer: Religiöse Stätte des Judentums
13.
Die Grabeskirche: Der Schlüssel zum Heiligtum der Christen ist seit 1300 Jahren in der Obhut einer muslimischen Familie
14.
Breakfast in Jerusalem: Hummus, Fladenbrot, Salat
15.
Rapper Shaanan Streett: «Ich liebe diese Stadt».
16.
17.
Blick über das arabische Wadi Helweh Quartier vom Archäologie-Park City of David aus gesehen
18.
Tempelberg
19.
Café Beit-Ha-Qahwa
20.
21.
Blick vom österreichischen Hospiz auf die Altstadt
22.
23.
Grabeskirche
24.
Jüdischer Friedhof am Tempelberg
25.
Banksy-Grafitti an der Trennmauer zum Westjordanland
26.
27.