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Jean-Charles de Castelbajac: Eine Begegnung mit dem annabelle-award-2014-Designer

Jean-Charles de Castelbajac: Eine Begegnung mit dem annabelle-award-2014-Designer

  • Text: Christina Duss, Fotos: Paul Rousteau

Ob Papstgewand oder Prêt-à-porter: Der Inbegriff von Jean-Charles de Castelbajacs Modeschaffen ist Farbigkeit. Wir besuchten den annabelle-award-2014-Designer in Paris.

Der Designer unterbricht seinen Satz so plötzlich, als hätte in seinem Kopf jemand eine Notbremse gezogen. «Die Klimaanlage, Chris», sagt er, nun schon zum zweiten Mal. Zum zweiten Mal, seit das Gespräch vor fünf Minuten begonnen hat. Die Luft im Showroom des Ateliers am Pariser Canal St. Martin ist nicht erwähnenswert stickig, aber Jean-Charles de Castelbajac hat sich da was in den Kopf gesetzt. «Also wenn die nicht bald loslegt, müssen wir hier weg», sagt er zu seinem Head of PR, und zu uns: «Entschuldigen Sie, ich war heute bis sechs Uhr morgens an einem Dreh.» Aha, an einem Dreh. Bis sechs Uhr morgens? Der Designer ist mit 64 Jahren in einem Alter, in dem man sich eigentlich des Energiehaushalts willen nicht mehr bis Sonnenaufgang an Filmsets rumtreiben sollte. (Nach dem Interview werden wir ihn zufällig noch mal mit einem Strohhut auf dem Kopf und zusammen mit seinem jungen Team beim Rosétrinken treffen.) Da sind ja noch andere Verpflichtungen: Er ist Designer, Maler, Familienvater – aber vor allem muss der Mann seiner ungebändigten Neugierde und einem riesigen Wissensdurst nachkommen. Bei so viel geballter Energie macht es Sinn, dass seine Modewelt derart collagig und bunt ist und dass sie stets mit neuen, irren Ideen gefüttert wird. Jean-Charles de Castelbajac, der in eine der ältesten aristokratischen Familien Frankreichs und in Casablanca geborene Designer ist seit 42 Jahren im Geschäft. Er ist einer der Grossen in der Modewelt. Viele seiner Stücke wie der berühmte Teddybärmantel aus den Achtzigern sind legendär. Trotzdem hat er sich stets trotzig seinen Freigeist bewahrt. Im Atelier schraubt jetzt ein Techniker an der Klimaanlage rum. Und Jean-Charles de Castelbajac macht genau da weiter, wo sein Satz vor Klima-Gate aufgehört hatte: «… eure Kantonswappen sind grandios, die Streifen, ein Stier, sehr modern. Man muss bedenken, dass das alles 800 Jahre alt ist. Ich liebe auch das Schweizerkreuz. Das Wappen meiner Familie ist genau gleich komponiert, das Kreuz ist aber silbern, der Hintergrund blau.»

ANNABELLE: Sie sind gut informiert über die Schweiz.
JEAN-CHARLES DE CASTELBAJAC: Ich bin über jede Kultur und Folklore gut informiert.

Indem Sie viel lesen?
Weil ich mich brennend für Geschichte interessiere. Auch für Militärgeschichte. Eure Schweizergarde, sie ist für mich ein Symbol erstaunlichen Muts.

Ach ja?
Klar, sie beschützt den Papst. Entschuldigen Sie, dass wir nicht über Mode sprechen, aber meine Inspiration kommt aus der Geschichte.

Ihre eigene fängt in Casablanca an und geht danach an einer Militärschule für Kinder und darauf in einem Internat weiter. Haben diese Stationen Ihnen bei Ihrem Beruf als Designer geholfen?
In Sachen Disziplin? Ja, auch. Aber vor allem hat das meine Fantasie geschult. In der Internatsschule gab es keine persönlichen Dinge, keine eigenen Bücher, kein Spielzeug. Also habe ich gelernt, meine Vorstellungskraft einzusetzen. Viele Ihrer Entwürfe sind in Blau, Rot, Gelb gehalten.

Stammt Ihre Liebe zu Primärfarben aus jener Zeit?
Ich denke schon. Wie gesagt, ich bin in einer weissen Stadt, in Casablanca, geboren. Und ich erinnere mich an das erste Mal, als ich geflogen bin: an die Hostess und ihre gelbe Sicherheitsweste. Ich war vier. Ich nahm dieses Gelb und steckte es in meine Hosentasche (steckt das imaginäre Gelb in seine Hosentasche). Dann bin ich in Nizza angekommen. Das Polizeiauto war blau – zack, in meine Hosentasche. Im Internat war die einzige Farbigkeit das Glas der Kirchenfenster, und in jedem Gang gab es rote Feuerlöscher. In meine Hosentasche! Auf einmal gehörten alle diese Farben mir.

Waren Sie einsam in dieser Zeit?
Ja. Kennen Sie die Comicfigur Little Nemo von Winsor McCay? Little Nemo stellt sich vor, dass seinem Bett lange Beine wachsen und dass es rumläuft. So ein Bub war ich auch – in meiner Fantasie war alles möglich. Als ich später Charles Schulz, den Zeichner von Snoopy, traf und ihm von meiner Kindheit erzählte, begann er mich Linus zu nennen, so heisst der ängstliche Bub mit der Decke.

Ihr erstes Kleidungsstück, eine Jacke, schneiderten Sie aus einer Decke aus der Internatsschule. John Lennon kaufte sie …
Das war purer Zufall. Er entdeckte die Jacke in einer New Yorker Avantgardeboutique. Ich war 17, als er sie kaufte.

Wie kam es, dass Sie schon als junger Mann eine eigene Kollektion auf die Beine stellen konnten?
Meine Mutter hatte eine kleine Kleidermanufaktur. Sie machte sich Sorgen, weil ich meine Haare wachsen liess, 
Weltschmerz verspürte und gut aussah. In dieser Zeit bin ich aus dem Internat abgehauen, klaute Velos, war stets auf der Suche nach schönen Mädchen und liess mich von der Polizei zurückbringen. Also sagte meine Mutter: «Junge, verdien dir etwas Taschengeld, zeichne mir ein paar Entwürfe.»

Sie konnten gut zeichnen?
Nein. Ich habe kleine Collagen gemacht, denn alles, was ich konnte und wusste, war, wie man Dinge zufällig zusammenwürfelt. Das war die Basis meiner Kreativität. Ich habe gelernt, wie man sich die Aufmerksamkeit der Leute mit Zufälligkeiten sichert. Drei Tage nachdem wir in Paris präsentiert hatten, waren wir ausverkauft.

Man nannte Sie bald darauf den neuen Courrèges – den Nachfolger eines Mannes, der die Mode mit geometrischen Strukturen revolutionierte und den Mini in die Pariser Couture einführte.
Weil ich genau wie er Couture nicht mochte, sondern Kleider, die die Leute erreichen.

Wie tun Sie das heute?
Etwa indem ich seit diesem Jahr zusätzlich zu den zwei regulären Kollektionen Precollections auf den Markt bringe. Ich habe jetzt die Möglichkeit, mit diesen vielen verschiedenen Entwürfen mich nicht nur in einer kreativen Welt zu bewegen, sondern auch kommerziell aktiv zu sein. Ich bin dran, meine Kleider zu demokratisieren.

Wie arbeiten Sie als Designer?
Ich brauche mehr Zeit für ein T-Shirt als für ein Abendkleid. Ich behandle Mode nicht als etwas Sakrales. Das wurde mir klar, als ich 1997 den Papst einkleidete.

Sie steckten ihn in ein Gewand mit bunten Kreuzen.
Ganz genau. Als ich an jenem Weltjugendtag in Paris meine Arbeit von der Tribüne aus sah, realisierte ich den Sinn von Mode: Sie muss eine soziale oder menschliche Sinnsuche unterstützen. Schreiben Sie das, das ist mir wichtig.

Und eine ganze Meute von Ordensträgern liessen Sie in den Farben der Schwulen- und Lesbenbewegung durch die Gegend marschieren.
Ja! Der Papst sagte zu mir «Monsieur de Castelbajac, auf den Regenbogen gibt es kein Copyright.» Also das mit der Klimaanlage funktioniert nicht, jetzt gehen wir auf der Stelle in mein Atelier.

Monsieur de Castelbajac, sind Sie ein geduldiger Mensch?
(Lacht.) Ich habe ein Problem damit, lange in der Gegenwart zu verharren. Mich interessiert nur die Zukunft.

In Ihrem Atelier hängen aber viele Erinnerungsstücke aus der Vergangenheit.
Die damalige Popkultur war es, die mich antrieb, die Welt zu erobern. Als ich Andy Warhol 1971 begegnete, schien er mir die perfekte Energie zu haben: aktivistisch, aber nicht zu intellektuell. Seine Pop Art war ein Trojanisches Pferd.

Wie meinen Sie das? 
Viele Leute fragen mich, warum ich nie Schwarz brauche und immer diese farbenfrohen Sachen mache. Aber in der Farbe versteckt sich der Schmerz.

Wie beurteilen Sie die heutige Popkultur?
Kürzlich wurde eine Ausstellung im Maison Rouge von einem Computer kuratiert. Das war ein aufregender Augenblick. Und ich überlege mir: Wie kann ich an der neuen Welt teilnehmen? Schlussendlich bin ich doch einfach nur ein alter General, ich habe so viele Kämpfe gekämpft.

Welche denn?
Ach, die Vergangenheit ist mir egal. Meine Freunde von damals leben in mir drin: Keith Haring, Robert Mapplethorpe, Jean-Michel Basquiat, mein bester Freund Malcolm McLaren. Heute arbeite ich wieder mit wunderbaren Leuten, etwa Mathieu Cesar, er ist 24 und ein grandioser Fotograf.

In Ihren Kollektionen sind oft Einflüsse dieser Künstlerfreunde sichtbar. Wie sehen Sie die Sache mit dem Kopieren?
Wie ist Ihr Name noch mal?

Christina.
Christina, ich kopiere nicht, ich eigne mir Dinge an. Wenn ich Camouflage sehe, dann ist es meins. Die Art, wie Picasso zeichnet, sie gehört mir, Jean Cocteau – meins, Miró – meins. Alle machen Copy/Paste heutzutage. Ich aber verändere die Dinge und mache sie zu meinen eigenen.

Was raten Sie dem Nachwuchs? Bald wird ein junges Schweizer Talent, die Preisträgerin oder  der Preisträger des annabelle award, ein halbes Jahr bei Ihnen im Atelier mitarbeiten.
Wenn ich junge Designer sehe, die ich mag, kann ich sehen, woher ihre Idee kommt, aber sie kopieren nicht nur, sie machen sich die Dinge zu eigen.

Was, wenn sich jemand Ideen von Ihren Kreationen abguckt?
Good News! Nette Hommage! Ich sehe diese Neckereien als exzellente Herausforderung. So bin ich eben: Ich mag das unberechenbare Meer in der Bretagne lieber als das voraussehbare auf den Malediven.

Sie umgeben sich oft mit jungen Leuten.
Ja, immer. Ich ziehe junge Leute an und sie mich. Da ist keine Grenze zwischen uns, wir sind gleich. Bei vielen Abenteuern, in der Kunst oder der Musik, arbeite ich mit jungen Leuten.

Inwiefern sind Sie gleich? Immerhin trennen Sie einige Jahrzehnte.
Wir haben den Wunsch, erobern zu wollen. Teilen die Faszination für die bizarren Dinge. Die Liebe zur Unperfektion, den Hass auf absolute Schönheit.

Was stört Sie an der jungen Generation?
Mir machen vor allem die Leute meiner eigenen Generation zu schaffen.

Sie sind jetzt 64 Jahre alt. Ist das Alter auch mal eine Qual?
Gar nicht. Meine einzige Krankheit ist, dass ich zu kreativ bin. Auf der Strasse zeichne ich an die Wände, in meinem Büro zeichne ich auf den Tisch. Man kommt nie zur Ruhe. Ich schlafe erst um drei Uhr morgens, weil ich in der Nacht an Skulpturen oder Videoprojekten arbeite. Das Leben ist ein Geistesblitz. Ich bin kein Denker. Ich bin ein Aktivist. Schon als ich klein war, wurde das Essen auf jedem Teller zu einem Schloss, einem kleinen Haus, einem Vulkan. Ich musste den Teller neu gestalten, bevor ich essen konnte. Dieser kleine Bub ist immer noch in mir drin. Aber ich bin gleichzeitig auch ein erwachsener Mann und Chef eines Familienclans.

Und wo entspannen Sie gern?
Im Winter in Schottland. Ich mag Schotten, die sind rau, aber ehrlich – wie ich. Manchmal trage ich Kilts, ich habe wunderbare Beine, Sie sollten die sehen, die sind immer noch ganz toll beieinander.

ANNABELLE AWARD 2014 MIT JEAN-CHARLES DE CASTELBAJAC

Der annabelle award mit Jean-Charles de Castelbajac findet im Rahmen der Mercedes-Benz Fashion Days Zurich statt: am 13. November im Zürcher Schiffbau. Unterstützt wird der gesamte Event vom 12. bis 15. November von Mercedes-Benz als Titelsponsor sowie den Presenting-Sponsoren Paul Mitchell und H&M.

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1.

«Für ein T-Shirt brauche ich mehr Zeit als für ein Abendkleid»

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Luftig leicht: Die Resort Collection 2015

3.

Fantasie und Wissen – im Atelier sind sie beide allgegenwärtig. Den «Petit Larousse» hat Jean-Charles de Castelbajac illustriert

4.

Spuren der Kreativität auf dem Arbeitstisch: Atelier- Stillleben mit Wasserglas

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6.

Graphic Look: Aus der Precollection dieses Herbsts

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Starker Auftritt in starken Farben: Kreationen aus der Herbst/Winter- Kollektion 2014/15

9.