Als Stopover-Destination ist die einstige Kronkolonie vielen bekannt. Aber wie ist es, in der Stadt der Superlative zu leben? Unsere Autorin weiss es – und staunt doch stets von neuem.
Vorweg: Ich bin nicht unparteiisch. Ich wohne hier. Ausgesucht habe ich mir Hongkong zwar nur indirekt – indem ich einem Mann folgte, der hier schon vorher gelebt hatte. Aber gemocht habe ich es von Anfang an. Weil es eine Stadt im Meer ist. Mit Geräuschen wie Möwengeschrei, Schiffstuten und Wasser, das an die Hafenmauern schwappt. Ausserdem ist die Insel umgeben von anderen Inseln, auf denen Leute leben, die mehr Natur wollen – oder mehr Platz oder beides. Wir zum Beispiel wohnen inzwischen auf Lantau, auf der fast alle Touristen zumindest kurz mal vorbeikommen. Hier befindet sich nämlich der supereffiziente Flughafen. Ausserdem hat Hongkongs grösste Insel jede Menge grüne Berge, Strände und Strandbars, Fischerdörfer auf Stelzen oder frei laufende Wasserbüffel. Diese Parallelwelten oder die besten Wanderrouten wären eine eigene Geschichte wert. Aber eigentlich wollte ich nur erzählen, dass wir statt mit der U-Bahn auf einer Highspeedfähre in die Stadt kommen. Die prescht vorbei an grossen Containerschiffen, kleinen Fischerbooten, Ozeanriesen – und hält nach 25 Minuten Fahrt mitten in Hongkongs berühmtem Victoria Harbour.
Der Hafen war früher doppelt so gross, zu viele Quadratmeter hat die Stadt dem Meer durch Landaufschüttungen abgerungen. Platz hatte Hongkong ja nie genug. Auf Fotos aus den Sechzigerjahren würde man die beiden Seiten des Hafens nicht wiedererkennen, da war viel mehr Luft und Weite. Die Hauptinsel und die Festlandseite Kowloon sind im Laufe der Jahre immer näher aufeinandergerückt, wobei es zu diversen Kollateralschäden kam. Doch man kann das alte, ungeschminkte Hongkong schon noch finden. Zum Beispiel in Kowloon, von uns Expats auch «dark side» genannt, weil es dichter besiedelt ist und chinesischer wirkt als das Finanzzentrum drüben.
Kowloon, the «dark side»
Im Kowloon Park machen ältere Damen und Herren morgens um 7 Uhr ihr weltentrücktes Tai Chi. Einer von ihnen, ein Herr Wong, erzählte mir einmal, dass er nach dem Tai Chi seinen Kanarienvogel auf den Vogelmarkt bringe, damit der auch mal mit anderen Vögeln singen kann. Zum Schluss kaufe er ihm als Leckerli noch eine lebendige Raupe. Herr Wong sah in seinem Trainingsanzug dabei sehr zufrieden aus. Neben dem Vogelmarkt gibt es noch den Blumenmarkt, den Jademarkt oder den Ladysmarkt. Letzteren für Leute, die gern Fake-Prada-Taschen oder Selfiesticks erwerben wollen. Ich gehe vor allem hin, um Freunden von auswärts das Café Mido zu zeigen, einen wunderbaren Ort, der seit den Sechzigerjahren kein bisschen modernisiert wurde – man denke sich Möbel wie in einem amerikanischen Diner, hellblaue Plättli an den Wänden, selbst das Cola wird noch in der Glasflasche serviert. Und es gibt noch mehr Orte, die als Wong-Kar-Wei-Filmkulissen dienen könnten: Good Hope Noodle (146 Sai Yeung Xhoi Street) etwa, ein Nudelshop, der einfach nur mit Speisekarten aus Plastik tapeziert wurde.
Mongkok hat die schönsten Alt-Hongkonger Geschäftsschilder, angebracht in luftiger Höhe vor Alt-Hongkonger Bauhausgebäuden. An der Shanghai Street reiht sich ein Laden für skurrile Küchenutensilien an den nächsten. Im Stadtteil Sham Shui Po sind es Leder-, Stoff- und Schneiderbedarfgeschäfte. An jeder Ecke sieht man, wie geschäftstüchtig die Kantonesen sind. Und selbst die modernsten, höchsten Wolkenkratzer werden in Hongkong noch heute mit Gerüsten aus verbundenen Bambusstangen hochgezogen.
Wohnen möchte ich dort nicht, dafür ist es auf Dauer zu laut und zu voll. Doch wer die chinesische DNA der Stadt spüren will, sollte hier anfangen. Und zum stilvollen Abschluss benutzt man am besten die Star Ferry, die auch schon seit über hundert Jahren die beiden Seiten des Hafens miteinander verbindet. Sieben Minuten braucht das grün-weisse, fauchende Dieselschiff, dann ist man drüben bei den bunt erleuchteten Wolkenkratzern. In der Welt der Schönen, der Reichen und anderer Wichtigtuer. Von allen Städten weltweit hat Hongkong die höchste Anzahl an Multimillionären. Die höchsten Mieten. Die höchste Anzahl an Sternerestaurants pro Einwohner – die genauso gut besucht sind wie die unzähligen Malls und die Filialen des Luxuswarenhauses Lane Crawford.
Doch seitdem Studenten im letzten Herbst zehn Wochen lang eine der wichtigsten Strassen im Zentrum besetzt hielten, sehen wir die kapitalistische Oberfläche und Hongkongs Jugend mit anderen Augen. Eigentlich wollten nur einige Juraprofessoren einen Sitzstreik vor dem Regierungspalast am Hafen initiieren, um für ein allgemeines, freies Wahlrecht zu demonstrieren. Das hatte Peking Hongkong eigentlich schon zugesichert, als die Briten die ehemalige Kolonie 1997 an China zurückgaben. Allein, der Stadtpräsident regiert bis heute von Pekings Gnaden. Und im Fall des derzeitigen – CY Leung – agiert er auch noch bemerkenswert ungeschickt. Er oder einer seiner Mitarbeiter muss wohl ziemlich nervös geworden sein, als die Demonstranten vor dem Palast immer mehr wurden. «Und am Abend des 28. September haben sie dann einfach 87 Kanister Tränengas auf uns abgegeben. Ohne Vorwarnung!» Heman, ein 24-jähriger DJ mit für Chinesen ungewöhnlichen Locken, verliess sofort das Haus in seinem Vorort, um auf die Strasse zu gehen. Zusammen mit Abertausenden aus allen Schichten. Über Nacht wurde aus der Demonstration eine richtige Bürgerbewegung. Ihr Symbol war der gelbe Regenschirm, weil er ihnen geholfen hatte, das Tränengas abzuwehren.
Sympathischste Revolution aller Zeiten
Statt Autos bevölkerten die vierspurige Harcourt Road vor dem Regierungsgebäude dann lustige Transparente und Regenschirmkunstwerke. Die konnten die Autofahrer natürlich auch nicht beruhigen. Denn die Staus kosteten alle Nerven. Trotzdem war der Zuspruch immens. Als der Regen kam, spendeten viele Hongkonger spontan Zelte, Essen und warme Decken. Ältere Männer halfen den Jungen, Tische und Stühle zu zimmern. Daraus bauten sie eine Studiermeile – wo die Professoren ihre Vorlesungen abhielten und die Studenten und Schüler lernten. Sogar den Abfall haben sie getrennt. Kurz: Es war die vernünftigste, kreativste, sympathischste Revolution aller Zeiten.
Als wir Heman fotografierten, nach acht Wochen auf der Strasse, da waren im Hintergrund gerade die martialischen Kampfrufe der Polizisten zu hören, die sich für einen Räumungseinsatz einstimmten. Ich fragte ihn, ob er Angst habe. Doch er schüttelte den Kopf. Sie hatten sich ja auf absolute Friedfertigkeit verständigt, was konnte man ihnen da schon tun? Das ist wohl der Hauptunterschied zu China, wo die Staatssicherheit jederzeit Leute verschwinden lassen kann. In Hongkong, diesem China light, gilt noch das britische Rechtssystem.
«Wer dabei war, wird das alles nie vergessen, diese Woge der Gemeinsamkeit», sagte auch George Wong, ein asketischer Künstler und Architekt, dessen hinreissend bemaltes Zelt mit den punkigen Stadtgöttern und Jesus als Che Guevara bestimmt das schönste auf dem Platz war. «Nach dem Handover 1997 wollten die meisten Leute einfach nur eine Wohnung, einen guten Beruf, Familie – und ansonsten ihre Ruhe haben. Jetzt wird wenigstens überall schon mal über Demokratie diskutiert.» Natürlich sei es bis zum allgemeinen Wahlrecht noch ein langer Weg. «Doch wir würden jederzeit wieder aufstehen und die Umbrella Revolution von neuem aufleben lassen.» Will heissen: Die Regierung sollte diese junge Generation nicht unterschätzen.
Zumal sie sich zum ersten Mal gerade etwas entspannt. Zuvor wurde immer sehr viel Wert auf Karriere gelegt und unaufhörlich gearbeitet. Am besten sollte man schon im Kindergarten drei Sprachen lernen und sein Studium in Harvard sichern. Diese Ansprüche haben sich seit vergangenem Herbst relativiert. Bloss gut, dass Internet und Facebook – anders als in China – überall reibungslos funktionieren. Denn ab jetzt will man mitreden – und auch etwas Spass haben. Sie sind eben doch sehr stolz auf ihre Stadt. Grund dazu haben sie, denn da entstehen ja auch immer mehr spannende urbane Räume. Angefangen hat es wohl mit dem Escalator, der bis heute längsten Freiluftrolltreppe der Welt, die die Stadtregierung Mitte der Neunzigerjahre bauen liess. Man wollte damit die etwas erhöht liegenden Stadtviertel besser an die Hauptstrasse anbinden. Früher war das Quartier oberhalb der Queen’s Road eine ziemlich heruntergekommene Gegend fürs einfache Volk. Wer es sich leisten konnte, verzichtete darauf, in der schwülen Hitze zu Fuss hinaufzusteigen. Doch seit man mit dem futuristischen Rolltreppenbandwurm auf 800 Metern anstrengungslos und über Autos und Marktstrassen hinwegschweben kann, boomt Sheung Wan ungebremst. Selbst in höheren Etagen links und rechts der Rolltreppe haben sich Geschäfte, Restaurants oder Spas angesiedelt – bloss keinen Quadratmeter ungenutzt lassen! –, bei denen man in die Fenster blicken kann. Das ist fast wie Fernsehen.
An der Hollywood Road sollte man die Fahrtreppe verlassen und die angrenzenden kleinen Strässchen bergauf und bergab laufen und sich überraschen lassen. Manchmal geht es fast dörflich zu. Auf dem Graham Street Market kann man den Händlern zusehen, wie sie Tofu herstellen, Säfte pressen, Schweine zerlegen oder Fische köpfen – die dann in den letzten Garküchen um die Ecke verarbeitet werden. Im alten Man Mo Temple ist die Luft schwer vor lauter Räucherstäbchen, die die Einheimischen dort abbrennen. Und in den Tagescafés und Concept Stores haben endlich auch die Freiberufler mit ihren Laptops einen Platz.
Die alten Handwerker, die Drucker, Coiffeure oder der alte Mann, der Regenschirme repariert, die machen ebenfalls weiter, mitunter direkt auf der Strasse – manchmal, bis sie hundert sind. Dieses Nebeneinander aus Altersstufen, Berufen und Nationen, ultramodernen Hochhäusern und winzigen Buden ist etwas, das ich so von keiner Stadt kenne. Doch mein Lieblingsbeispiel für Hongkongs Parallelwelten kommt einige Strassen weiter, an der Hillier Street 13: In einem zugigen, halb offenen Strassenlokal stellt Mak Tai Kwong Hof, der 83-jährige «Cobra King», seit Jahrzehnten seine Spezialschlangensuppe (für fünf Franken) her. Wer will, kann sogar zusehen, wie die lebenden Schlangen aus ihren hölzernen Schubladenkästen geholt und zubereitet werden.
Würde man zwanzig Minuten weiter Richtung Westen laufen, käme man nach Sai Ying Pun, wo kürzlich der zweite Escalator eröffnet wurde. So erfolgreich war das Urmodell. Und es ist jetzt schon klar, dass Sai Ying Pun in den kommenden Monaten zum nächsten In-Quartier umgemodelt wird.
Ein neues Kulturleben
Wenn die Zeit reif ist, passieren Dinge hier wirklich über Nacht. Als Europäer kann man sich immer noch wundern, wie schnell Hongkong in jüngster Zeit zum Kunststandort aufgestiegen ist. Vor fünf Jahren, als ich ankam, gab es gerade mal eine Handvoll international renommierter Galerien. Das Kulturleben meiner Anfangsjahre bestand aus einigen grossen Vernissagen, bei denen die ganze Hautevolée zusammenlief, gestylt wie für die Pariser Schauen. Doch seit die Hongkonger Kunstmesse als Art Basel Hong Kong firmieren darf, ist alles anders. Ein Kunstevent jagt den anderen. Manche Restaurants haben jetzt eigene Kuratoren. Im «Bibo» etwa durften sich sogar Banksy, Basquiat und Damien Hirst verewigen. Im Pedder Building, einem der schönsten verbliebenen kolonialen Gebäude nahe der Queen’s Road, haben sich die «Blue Chip»-Galerien Gagosian, Lehmann Maupin, Pearl Lam, Ben Brown und Simon Lee pompöse Räume gesichert. Am 15. März wird es wieder so weit sein, wenn die dritte Ausgabe der Art Basel Hong Kong ihre Tore öffnet. Für eine Woche darf man dann Kunstweltstadt sein. Und für den Rest des Jahres eine liebenswerte, internationale Metropole, die nie aufhören wird zu überraschen.
Reisen, essen, schlafen:
1.
Lieblingslokal in Kowloon: Das Café Mido mit seinem wundervollen Sechzigerjahre-Ambiente
2.
Die Aussicht vom Peak
3.
Kreativer Regenschirm-Revolutionär: Künstler George Wong
4.
Erinnerung: Die Zeltstadt auf der Harcourt Road
5.
Kunst zieht Kreise: Das junge Kreativzentrum PMQ im Stadtteil Central
6.
Kunst trifft Kulinarik: Das Restaurant Bibo
7.
Es muss nicht immer eine riesige Shoppingmall sein: Secondhandladen in Sheung Wan
8.
Hier wird Rolltreppenfahren zum Erlebnis: Der 800 Meter lange Escalator
9.
Hoch hinaus: Die Standseilbahn Peak Tram fährt mit Schweizer Rollmaterial