Stil
«Influencer verdrängen die wirklich stylishen Personen»
- Redaktion: Viviane Stadelmann; Fotos: Scott Schuman
Er liebe das Unerwartete, sagt der Fotograf Scott Schuman. Unerwartet war für ihn auch der Erfolg, den er mit seinem Street-Style-Blog «The Sartorialist» feiert. Vor mehr als zehn Jahren hat er ihn als einer der ersten überhaupt aufgeschaltet. Wir haben mit dem Pionier über Berufsehre, gelungene Bilder und verlorenen Modezauber gesprochen.
annabelle: Scott Schuman, was war zuerst: Ihre Leidenschaft für Fotografie oder für Mode?
Scott Schuman: Es war definitiv zuerst die Mode. Als ich etwa 14 Jahre alt war, fing in an, in jedem Modemagazin zu blättern, das mir in die Finger kam. Ich bin in Indiana aufgewachsen. Mit Mode hatte da niemand gross was am Hut. Für mich waren die Hefte wie ein Reisemagazin: Die Welt hat sich mir dadurch eröffnet. Die verschiedenen Orte, an denen Leute leben, sich kleiden und wohnen – das hat mich begeistert.
Wo hatte Ihre Faszination für Fotografie ihren Ursprung?
Ich hatte es zu dieser Zeit nicht realisiert, aber die Leidenschaft für Fotografie hat sich wohl auch damals schon eingeschlichen, denn diese neue Welt der Modemagazine hat sich mir ja durch die Fotografien darin eröffnet. Ich verbrachte so viel Zeit damit, die Fotos anzuschauen, dass die Vorstellung, was ein Bild haben muss, sehr natürlich mitgewachsen ist.
Gab es einen bestimmten Moment, in dem Sie schliesslich selbst zur Kamera greifen wollten?
Als ich nach New York zog, wurde meine Leidenschaft für Fotografie stärker. Ich hatte aber nie wirklich ein Sujet gefunden, das ich fotografieren wollte, bis ich meine eigenen Kinder bekam. Mit etwa 32 Jahren fing an, mit einer kleinen Kompaktkamera meine Kinder abzulichten. Wir waren oft draussen in Pärken. Dann fing ich an, auch die Strassen zu fotografieren und die Mode auf der Strasse, die mir gefiel.
Hatten Sie ein bestimmtes Ziel, als Sie Ihren Blog starteten?
Nein, gar nicht. Zu dieser Zeit kamen die ersten Blogs auf, bekannte Fashionblogs gab es keine. Daher hatte ich keinen Grund zu denken, dass dadurch etwas Grosses entstehen würde. Es war und ist noch heute ein Bemühen, alle möglichen Personen und Stile einzubeziehen und inspirierenden Street Style zu zeigen. Ich glaube, das ist auch der grösste Unterschied zwischen den Modeblogs der ersten Generation und denjenigen der zweiten. Die Letzteren sehen es als einen Weg, berühmt zu werden und Geld zu machen. Unser Blog ist für die Community da. Ich glaube, darum ist er auch heute noch so erfolgreich.
Wie haben sich Ihre persönlichen Ziele mit dem grossen Erfolg des Blogs verändert?
Das eigentliche Ziel ist immer, mich als Fotograf weiterzuentwickeln. Ich wollte die Entscheidung stets selbst in der Hand haben, wo und wen ich fotografieren will. Der wohl lohnenswerteste Aspekt der Reise, die ich schon hinter mir habe, ist, dass ich mich neuen Projekten widmen und so selber herausfordern kann – und es an mir liegt, dafür ein Publikum zu finden. Soeben bin ich aus Indien zurückgekehrt.
Brauchen Sie diese Ortswechsel, um inspiriert zu bleiben?
Es gibt keinen bestimmten Ort, an dem ich mich am meisten inspiriert fühle. Es geht um eine Offenheit allen Menschen gegenüber. Aber der Moment, den ich am meisten geniesse, ist die potenzielle nächste Überraschung, die überall lauern kann. Im Studio kreiert der Fotograf das Bild erst im Kopf und arrangiert dann das Foto. Ein Street-Style-Fotograf reagiert auf ein Bild auf der Strasse, das plötzlich passiert. Ich liebe das Unerwartete.
Reagieren alle Leute immer positiv, wenn Sie unerwartet ein Foto machen von ihnen? Sie können ja nicht immer erst nachfragen, bevor Sie den Auslöser betätigen. Wie läuft das ab?
Ich versuche, die Situation zu lesen. Das hängt von verschiedenen Faktoren ab. Nonverbale Kommunikation funktioniert sehr gut. Die meisten Menschen können es in deinen Augen sehen oder an kleinen Gesten ablesen und haben einen Sinn dafür, ob du eine ehrliche Absicht hast, ein gutes Foto von Ihnen zu machen oder bloss eins zur Belustigung. Und wenn jemand in Eile vorbeihastet, stoppe ich die Person auch nicht extra.
Grad wenn jemand nur vorbeieilt, müssen Sie innert Sekunden reagieren. Vertrauen Sie da stets auf Ihren Instinkt, den richtigen Moment zu finden, oder kann man diese Fähigkeit trainieren?
Vielfach ist es eine Art Vorahnung, die einen überkommt. Wenn man am Laufen ist und sieht, dass das Licht richtig toll ist, Energie in der Luft liegt. Man eignet sich an, konstant nach dem Potenzial der Rahmenbedingungen für ein Bild Ausschau zu halten. Oft vergehen aber drei, vier Stunden zwischen zwei Fotos.
So lang?
Oh ja, ich drücke überhaupt nicht oft auf den Auslöser. Die Ausbeute eines guten Tages in New York sind möglicherweise zwei oder drei Bilder.
Was macht ein gutes Foto für Sie aus, bei dem Sie sofort wissen, dass Sie es publizieren?
Das weiss man meist sofort, sobald man das Bild anschaut. Für mich ist es deutlich, wenn das Foto kommuniziert, was ich in dem Moment gefühlt habe.
Sie gehören zu den Pionieren der Street-Style-Blogs und sind mit «The Sartorialist» schon seit 2005 online. Hatten Sie mal das Gefühl, dass Sie eine Pause von der Fotografie- oder Fashionbranche brauchen?
Nein, ich bin sehr dankbar für das, was ich tun kann. Es ist ein sehr romantischer Lifestyle, den ich leben darf. Rauszugehen und zu versuchen, Dinge wahrzunehmen, und die Schönheit in ihnen zu sehen. Und durch das Pendeln zwischen der Modewelt und fremden Kulturen verleidet mir weder das eine noch das andere.
Wie hat sich die Street-Style-Branche seit den Anfängen verändert?
Einerseits hat sich vieles zum Guten verändert, denn vor den Modeblogs gab es als Stilvorbilder für die meisten Leute nur Models oder Schauspieler. Heute kann man sich die Vorbilder suchen, die einem persönlich viel mehr entsprechen, möglicherweise aus einer ähnlichen Region kommen, eine ähnliche Figur haben, und inspiriert werden von normalen Menschen, die keine Personen des öffentlichen Lebens sind. Andererseits hat die Modewelt durch Social Media auch ein wenig den Zauber verloren, mit dem ich aufgewachsen bin. Leute tendieren dazu, eher an eine romantische Idee zu glauben, wenn sie die Wahrheit nicht genau kennen.
Wie meinen Sie das?
Als ich in den 80er-Jahren aufwuchs, sah man ganz vereinzelte Street-Style-Bilder. Man stellte sich eine Fülle an stylishen Leuten vor, die ein einzigartiges Gespür für Mode haben. Durch Social Media sieht man, dass eigentlich sehr wenige Leute einen originellen Stil haben. Viele Leute denken leider: Ein Armband ist gut, zehn Armbänder sind zehnmal besser. Die schiessen übers Ziel hinaus.
Geht das einher mit der branchinternen Aussage, dass viele Leute sich nur noch für die Street-Style-Fotografen kleiden und vor den Shows herumtänzeln?
Eine Menge Leute sagen das. Aber ich persönlich glaube das nicht unbedingt. Die Leute haben sich schon immer für die Modeschauen zurechtgemacht. Aber damals in den 90ern gab es zwar den grossartigen Bill Cunningham, aber wenn man die «New York Time» nicht gelesen hatte, sah man diese Fotos nicht. Jetzt gibt es 50 Fotografen, und alle Bilder landen innert Kürze im Netz. Man wird überschwemmt.
Hat sich die Art der Leute, sich zu kleiden, verändert seit den Anfängen?
Ja, klar. Mode ist konstant in Bewegung. Aber so entstand leider auch die für mich wohl grösste Schattenseite des wachsenden Street-Style-Markts: Heute haben die Stylisten ihren Einfluss an die Influencer verloren. Deswegen ist das Publikum an Fashionshows auch nicht mehr so interessant, weil Influencer mit ihrer riesigen Reichweite Stylisten oder im Hintergrund agierende Modeleute ersetzen, die aber – und ich hasse es, das zu sagen – einfach viel stylisher und besser gekleidet sind.
Was wünschen Sie sich für die Branche und Ihre Zukunft?
Ich hoffe, ich kann immer noch das machen, was ich liebe, und dass es Leute geben wird, die Fotos vom echten Street-Style schätzen. Und dass die Möglichkeit, viel Geld zu machen, für viele Influencer irgendwann abnimmt und sie dann zu anderen Berufen zurückkehren, weil es nicht mehr lukrativ ist.
Sie haben von Bill Cunningham gesprochen, der auch in New York fotografierte und bekannt war für seine kobaltblaue Jacke. Was ist der Signaturelook von Scott Schumann?
Ich glaube, auch mein Stil hat sich gewandelt: Statt neuen Modetrends nachzujagen, kleide ich mich mehr meinem Körpertyp entsprechend. Wenn man meine Freunde fragen würde, was ich meistens trage, wäre die Antwort wohl auch: etwas Blaues. Das bringt meine blauen Augen zur Geltung.
– Scott Schuman (49) kommt nach Zürich. Im Rahmen der Photo18 hält er am 12. Januar einen Talk und stellt seine liebsten Fotografien aus mehr als zehn Jahres Street Style aus.
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