Moderevolution im Land der Saris: Hochglanzmagazine werden lanciert, internationale Luxuslabels eröffnen Boutiquen, heimische Designer erobern Europa. Ein modisches Sightseeing in Indiens Metropolen.
Eine der schillerndsten Figuren der indischen Modeszene trafen wir zufällig in Mailand. Bandana Tewari hielt in der linken Hand eine Zigarette, mit der rechten tippte sie blitzschnell auf ihrem Blackberry. Die Journalistin, die ein traditionelles Salwar-Kleid trug, arbeitet bei jenem Magazin, das Symbol für eine kleine Revolution ist: bei «Vogue». Als die indische Ausgabe der Stilbibel vor drei Jahren lanciert wurde, war klar: Im Sog des Wirtschaftsbooms gedeiht in den Metropolen des Landes auch eine neue, aufregende Modeszene. Bandana Tewari ist eine ihrer Protagonistinnen. Sie schreibt über Partys der neuen Mittelschicht, Ladeneröffnungen von Luxusmarken und It-Girls. Eine perfekte Reiseleiterin für unsere Geschichte über Indiens erwachendes Interesse an Stilettos und Stilisten. «Klar, melde dich unbedingt, wenn du in Mumbai bist.» Sie strahlte so begeistert, als würde man sich schon ewig kennen.
Kurz vor der Abreise ist Bandana Tewari weder per Handy noch über Facebook zu erreichen. Nach der Landung im 35 Grad heissen Mumbai leuchtet ein SMS von ihr auf dem Display auf: Bin an der Fashion Week in Buenos Aires, morgen zurück. Melde mich.
Das Modeland Indien wirkt erst mal erstaunlich traditionell. Die Inderinnen in Saris, die im Flugzeug noch auffielen wie roter Faden auf weisser Baumwolle, werden eins mit der Masse von Kurtas, Salwars und noch mehr Saris. Alle tragen flache Schuhe. Die Erklärung dafür liefert tags darauf Shaana Levy. Die Tochter eines Schweizers und einer Inderin lebt seit vier Jahren in Mumbai. «Am Anfang», sagt sie lachend, «trug ich regelmässig Highheels und viel Make-up.» Doch Indien sei staubig, stickig und heiss. «Hier musst du dich praktisch stylen.»
Shaana Levy, 26, langes glänzendes Haar, Model, Schauspielerin, Filmproduzentin und It-Girl, wuchs in Zürich und London auf und studierte in New York. Sie trägt ein langes schulterfreies Kleid in Weiss, darüber einen grossen grünen Stein an einer Halskette. In ihrem Schrank hängen vor allem typisch indische Alltagskleider wie Pluderhosen und Tuniken. Vieles lässt sie auf Mass schneidern. «Ein guter Schneider ist hier der beste Freund eines Mädchens.» Trotzdem shoppt sie auch auf Reisen im Ausland. Zwar gibt es in den hiesigen Fünfsternehotels und Shoppingmalls immer mehr westliche Luxuslabels zu kaufen. Aber das Angebot ist für sie noch zu wenig inspirierend. Über indische Fashionistas sagt sie: «Die meisten kopieren den Westen.» Die Kleider seien zu kurz, die Jeans zu eng, die Ausschnitte zu tief. «Und die Designertasche macht das Styling nicht besser.» Nicht nur Louis Vuitton, Gucci und Co. sind in den letzten Jahren nach Indien gekommen. Kürzlich hat auch Zara erste Filialen in Mumbai und Delhi eröffnet. Die spanische Modekette will Trends aus Mailand und Paris verhältnismässig günstig unters Volk bringen. Doch auf der Strasse entdeckt man diese Trends tatsächlich noch selten.
Shaana Levy shoppt vorderhand indisches Design. Wir fahren vorbei an prachtvollen Kolonialbauten mit Patina und Schneiderateliers, die aus nicht mehr als vier Bretterwänden bestehen. Neben einem Lebensmittelgeschäft, in dem Zigaretten stückweise verkauft werden, hält der Fahrer. Dies ist der letzte Ort, an dem man eine Boutique erwartet. Doch hinter der Eingangstür des Concept Store D7 liegen hundert Quadratmeter Moderne. So chic der Name klingt, so minimalistisch die Einrichtung im Laden sein mag, an den Ständern hängen sehr bunte, sehr exotische Kreationen. Sieben bekannte indische Designer haben sich hier zum Boutiquenkollektiv zusammengeschlossen und machen die Zukunft stark von der Vergangenheit abhängig: Mit körperbetonten Schnitten halten sie sich an westliche Modevorstellungen. Gleichzeitig bleiben sie der farbigen Kleidertradition ihres Landes treu. Der wichtigste unter ihnen, Manish Arora aus Delhi, der von der Branche ehrfurchtsvoll als John Galliano Indiens bezeichnet wird, zeigt seine Kollektionen längst in Paris. «Nicht alles von ihm ist tragbar», sagt Shaana Levy und hält sich vor dem Spiegel ein wild gemustertes Kleid mit eckig geschnittenen Schultern vor den zierlichen Körper. «Aber Arora hat eine Handschrift. Und das ist hier noch selten.»
Shaana muss los. Sie will im Studio letzte Änderungen an einem neuen Kinofilm besprechen. Doch vorher ruft sie noch rasch Nikasha an, eine ihrer Lieblingsdesignerinnen, um für uns einen Termin zu vereinbaren. «Sie entwirft sehr schöne tragbare Mode.» Während sie zwischen Tuk-Tuk-Rikschas und schnatternden Mädchen in Schuluniform verschwindet, piepst ein SMS von Bandana in der Handtasche: Sorry, können uns erst morgen treffen. Habe einen furchtbaren Jetlag.
Die wichtigsten Modewochen Indiens, die Lakmé Fashion Week in Mumbai und die Wills Lifestyle India Fashion Week in Delhi, finden seit gut zehn Jahren statt. Doch nun reisen internationale Modejournalistinnen an. «Sogar Suzy Menkes von der ‹International Herald Tribune› oder Hilary Alexander vom englischen ‹Daily Telegraph›», sagt die Designerin Nikasha Tawadey (36). Wir treffen sie anderntags in ihrem Laden, der in einem Hinterhof liegt und nicht grösser ist als ein Wohnzimmer. Nikasha Tawadey hat eigentlich Psychologie studiert. Ins Modebusiness sei sie vor ein paar Jahren «zufällig geschlittert», nachdem sie in der Boutique einer Freundin selbst geschneiderte Kleider zeigte. Ein Einkäufer des englischen Edelkaufhauses Selfridges, der sich auf Recherchereise befand, sah die Kreationen und bat sie, eine Kollektion für sein Kaufhaus zu entwerfen, das Indien als Thema feierte. 2006 zeigte Nikasha Tawadey ihre erste eigene Kollektion an der Modewoche in Mumbai und fand in der oberen indischen Mittelschicht schnell eine Fangemeinde, die sich ihre Kreationen ab 200 Franken leisten kann: schlichte Kleider mit feinen Stickereien und weiten Schnitten in edlen Materialien. Nikasha Tawadeys Kleider muten indisch an, aber sie verzichtet auf Bollywood-Opulenz, die viele ihrer Kollegen zelebrieren. Vor zwei Jahren durfte sie ihre Kreationen mit einer Handvoll weiterer indischer Designer an der Modewoche in New York präsentieren und wurde von der «Elle» als beste zeitgenössische indische Designerin ausgezeichnet.
Bereits hat Macy’s San Francisco ein paar ihrer Kreationen eingekauft. Doch Nikasha Tawadey ist nicht nur Designerin, sie kümmert sich auch um den Aufbau, das Marketing und die Buchhaltung ihres Unternehmens. Es gibt noch kaum Agenturen, die diese Aufgabe übernehmen könnten. Noch produziert sie von Hand mit einem zwanzigköpfigen Team, das in einem Atelier in der Nähe arbeitet. Die Herstellung eines einfachen Kleides dauert ein paar Tage, die eines aufwändigen Outfits auf Bestellung bis zu ein paar Wochen. Will Nikasha Tawadey stärker ins Ausland expandieren und im atemlosen internationalen Modezirkus mithalten, der von Designern bis zu sechs neue Kollektionen pro Jahr verlangt, müsste sie mit grösseren Fabriken zusammenarbeiten. Sie müsste viel Geld investieren, um schnell Hunderte Teile pro Kollektion und Saison zu produzieren, von denen sie nicht weiss, ob sie verkauft werden. Mit diesem Problem haben aufstrebende Designer auf der ganzen Welt zu kämpfen. Aber in Indien ist die Situation besonders paradox: Das Land gehört nach China zu den wichtigsten Textilproduzenten der Welt. Die meisten Aufträge kommen jedoch von ausländischen Modeketten. Nikasha Tawadey will deshalb weiter die Handschrift ihrer Marke stärken. «Der Rest ergibt sich», sagt sie indisch gelassen.
Auch heute wird nichts aus dem ersehnten Treffen mit Bandana Tewari, der Szenejournalistin. Sie schreibt: Extrem busy. Wollt ihr fotografieren? Dann muss ich Bewilligung einholen.
Also Strategiewechsel: Einfach vorbeischauen bei der «Vogue», der Zentrale der neuen indischen Modeszene in Mumbai. 50 000 Exemplare werden vom Magazin monatlich gedruckt. Zum Vergleich: annabelle hat eine Auflage von 70 000. Jedoch: Allein Mumbai zählt dreimal so viele Einwohner wie die gesamte Schweiz. Noch ist die «Vogue India» also ein absolutes Nischenprodukt. Eine Ausgabe kostet umgerechnet zwei Franken, so viel wie die meisten indischen Familien pro Tag fürs Essen ausgeben. Am Morgen beim Frühstück hatte sich der Kellner im Hotel von uns schüchtern die neuste Ausgabe ausgeliehen. Er war damit hinter die Theke verschwunden. Vielleicht um halb nackte europäische Models zu sehen, die eine Seltenheit darstellen in einer Gesellschaft, in der die meisten Frauen auf der Strasse nicht schulterfrei herumlaufen? Nein, falsch gedacht. Er interessiere sich für schöne Möbel, hatte er geantwortet. Darum kaufe er sich ab und zu alte Lifestylehefte bei Strassenhändlern und lasse sich einzelne Stücke von einem Schreiner in seinem Quartier nachbauen.
Bandana Tewari ist ausser Haus oder lässt das zumindest von einem Angestellten am Empfang ausrichten. Redaktorinnen stöckeln in Highheels vorbei. An den Wänden hängen Modefotos und ein Buddha-Bild. Vom Cover der «Vogue» lächeln mal Bollywoodstars, mal Hollywoodgrössen. Wobei Bollywood eindeutig die wichtigere Rolle zu spielen scheint.
Geschätzte siebzig Prozent aller Inderinnen tragen traditionelle Kleider. Sogar Frauen, die auf Baustellen Steine hacken, wickeln sich in sechs bis neun Meter lange Stoffe. Während sich westliche Modetrends auf den Strassen noch nicht durchgesetzt haben, wird der Sari in Dutzenden von Variationen präsentiert. Nach welchen Techniken er gewickelt wird, ist für Laien schwer zu verstehen. Einen Crashkurs für die einfachste Version gibts bei Kala Niketan, einem fast siebzig Jahre alten Fachgeschäft für Saris: Das Ende des Tuchs an der Hüfte mit einer Hand festhalten, den Rest um den Körper wickeln, das zweite Ende quer über die Brust ziehen und auf die Schulter legen und mit einer Nadel feststecken. Schon ist man angezogen, fühlt sich frei, leicht und doch so nobel, dass man sofort den Rücken durchstreckt. Eine Grösse passt allen: Gut möglich, dass Shaana Levy, das It-Girl mit den glänzenden Haaren, recht hatte, als sie bei unserem Treffen mutmasste, Inderinnen täten sich mit westlichen Trends vielleicht auch deshalb schwer, weil sie es nicht gewohnt seien, nach Grössen 34 bis 44 einzukaufen.
Der Verkäufer bei Kala Niketan lacht, als man ihn fragt, warum im grossen verwinkelten Laden ausschliesslich Männer die Kundinnen beraten. «Ach wissen Sie, die Inderinnen brauchen viel Zeit, um einen Sari auszusuchen. Männer haben mehr Geduld.» Ein paar Tausend Stoffe liegen fein säuberlich zusammengefaltet in Regalen, die bis zur Decke reichen. Er zieht die Stoffe so vorsichtig hervor, als seien sie teure Gemälde: Saris, die mit aus Gemüse gewonnenen Farben bedruckt sind, Saris aus Seide, Georgette und Chiffon für Hochzeiten und Taufen, mit Edelsteinen bestickte Saris, manche bis zu zwanzig Kilo schwer, und mit Mustern durchzogen, die aus der Zeit der Mogule stammen. Das Modell, das er aus der Ecke mit den modernen Saris zieht, wirkt neben den all den atemberaubend schönen traditionellen Stücken wie ein Töffli unter lauter Rolls-Royces: Es ist mit Cocktailgläsern und Palmen bedruckt.
Muza Andrabi musste zuerst in den Westen ziehen, um für sich eine Tradition aus seiner Heimat Kaschmir wiederzuentdecken. Der 34-Jährige hat ein paar Jahre in New York gelebt und dort als Squashlehrer gearbeitet. In diesem Schmelztiegel der Kulturen und Lebensarten, wo kaum jemand ursprünglich herkommt, sich aber alle wohlfühlen, erinnerte sich Muza Andrabi an die Webkunst exquisiter Kaschmirschals. Vor drei Jahren kehrte er mit seiner afroamerikanischen Frau nach Indien zurück – im Gepäck das Geheimnis für den geschäftlichen Erfolg, hinter das er in den USA gekommen war. «Es geht darum, offen und ehrlich auf die Kunden zuzugehen», sagt er in der Lobby des edlen Hotels Taj Lands End, wo er mit seiner Frau einen Zwischenhalt auf dem Weg nach Delhi macht. «Das fehlt vielen indischen Unternehmern noch.» Mittlerweile lebt Muza Andrabi im nordindischen Bundesstaat Rajasthan, wo er mit seinem Zwillingsbruder zwei Geschäfte für hochwertige Kaschmirschals eröffnet hat. Seine Frau, die im Unternehmen mitarbeitet, zieht ein paar besonders schöne Exemplare, alle in kleinen Ateliers in Kaschmir gefertigt, aus dem Koffer. Das Material ist so fein, dass man Sommer und Winter darin leben möchte.
Die gute Qualität hat sich schnell herumgesprochen. In Rajasthan, wo Touristen hinreisen, um das reiche Erbe der Maharadschas zu entdecken, betreten dank Mundpropaganda bereits Prominente seinen Laden. Der Agnelli-Enkel Lapo Elkann hat sogar angeboten, die Schals in Europa zu vertreiben. Doch Muza Andrabi hat abgelehnt. Er arbeitet bereits mit einer Schweizerin zusammen. Auf einer Indienreise hatte diese den Mut gefunden, ihren gut bezahlten, aber wenig inspirierenden Job aufzugeben. Nun kümmert sie sich unter anderem um den Vertrieb der Marke namens Andraab. Amerikanisches Erfolgsprinzip hin oder her: Muza Andrabi glaubt an das Schicksal. «Es passiert immer alles aus einem Grund.»
Die verschollene Bandana Tewari twittert auf Facebook: Verdammte argentinische Cocktails! Bin sicher, da war Benzin drin. Wir fragen: Und unser Treffen? Hast du mein SMS nicht bekommen? Hänge in einem Meeting fest.
Die Textilindustrie gehört zu den wichtigsten Branchen Indiens. Beim Anbau der Rohmaterialien berücksichtigen manche ausländische Unternehmen neuerdings zeitgemässe Kriterien: Das Schweizer Unternehmen Coop etwa lässt in Zentralindien die Baumwolle für seine biologische Linie Naturaline umweltfreundlich anbauen und nach sozial fairen Richtlinien verarbeiten. Dennoch haftet dem Land das Image von ausbeuterischen Sweat Shops an.
Die deutsche Unternehmerin Gunna Nayar ist seit Jahrzehnten bestens mit Indiens Textilindustrie vertraut. «Ausländische Auftraggeber wollen immer bessere Qualitäten zu immer tieferen Preisen», sagt die 67-Jährige auf ihrer Gartenterrasse mit Blick auf das Arabische Meer. Natürlich werde da vielerorts unfair produziert. «Aber die Kontrollen sind zum Glück strenger geworden. Und im Süden werden richtig moderne Fabriken gebaut.»
Im Westen ist Gunna Nayar vor allem als Schwiegermutter der englischen Schauspielerin Liz Hurley bekannt geworden, die mit ihrem Sohn Arun verheiratet ist. Doch in Indien ist sie längst eine Pionierin in der Textilproduktion. Gunna Nayar, die auf dem Gesicht das selbstsichere Lächeln jener trägt, die unter schwierigen Bedingungen reüssiert haben, kam in den Sechzigerjahren mit ihrem indischen Mann nach Bombay, als es noch kaum grosse Fabriken gab und Kleider in kleinen Ateliers hergestellt wurden. Aus Hamburg kannte sie eine junge Designerin namens Jil Sander, die sie fragte, ob sie nicht weisse Seidenblusen zusammen produzieren wollten. Auf ihren Erkundungsreisen sass Gunna Nayar in «Kaschemmen von Ateliers» neben ersten Vertretern renommierter europäischer Modehäuser, die versuchten, den Stickern und Färbern, die nur Hindi sprachen, ihre Wünsche in Französisch, Englisch oder Italienisch verständlich zu machen. Später produzierte sie selbst monatlich bis zu 100 000 Blusen, Taschen oder Hippiekleider für den europäischen Markt. Dass sie dabei in einer männerdominierten Branche Erfolg hatte, störte in Indien niemanden. «Stellst du hier etwas auf die Beine, bekommst du Respekt. Egal ob als Frau oder Mann.»
Bandana Tewari schweigt weiter. Immerhin textet eine Kollegin von der «Vogue», der wir frustriert geschrieben haben, sofort zurück: Treffen kurzfristig nicht möglich. Übermorgen?
Übermorgen sind wir bereits in Delhi, an der wichtigsten Modeschule des Landes: Am 1986 gegründeten National Institute of Fashion Technology (NIFT). Hier wird nur eingelassen, wer dem Sicherheitsmann, am besten mit ausgedrucktem Mail, glaubhaft machen kann, dass er tatsächlich einen Termin hat. Das mag an den Terroranschlägen von 2008 in Mumbai liegen. Vielleicht werden hier aber auch einfach die grössten Modetalente des Landes gut behütet. Auch Stardesigner Manish Arora hat hier erste Stoffe geschnitten. Im Textilmuseum der Schule hängen neben traditionellen Kleidern Entwürfe von Yves Saint Laurent, Jil Sander und Yohji Yamamoto. Im Atelier dröhnt «Every Little Thing She Does Is Magic» von Police aus einem Transistorradio. Die Studentinnen tragen Jeans und Flipflops und nennen als Vorbilder fast nur westliche Designer: Oscar de la Renta, Giorgio Armani und immer wieder den verstorbenen Moderebellen Alexander McQueen. Die ins Netz gestellten Bilder einer seiner letzten Schauen wurden von der Regierung zensuriert: Eine nackte Brust war zu sehen.
Indien ist kein freizügiges Land. In Filmen werden Sexszenen herausgeschnitten, internationale Firmen passen ihre Kampagnen dem Kodex einer multiethnischen und -religiösen Gesellschaft an. Auch geschäftliche Gepflogenheiten sind hier anders. Zuweilen ganz anders. Hemant Sagar erzählt halb amüsiert, halb genervt aus seinem Alltag als Modeunternehmer: «Verlange ich von einem Lieferanten eine Offerte, und er kann den Auftrag nicht erfüllen, dann sagt er nicht: Mir fehlt die Zeit oder das Knowhow. Er vertröstet, bringt immer neue Ausreden. Und irgendwann heisst es: Ein Verwandter ist gestorben.»
Hemant Sagar (53) ist der Sohn eines Pakistaners und einer Deutschen. Er wuchs in Delhi auf, zog mit 15 nach Berlin und machte schliesslich in Frankreich Karriere als Couturier. Eine aufwändige Kreation seines Labels Lecoanet Hemant, das er mit seinem Partner Didier Lecoanet aufbaute, kostet «so viel wie ein Kleinwagen». Vor zehn Jahren kehrte er nach Delhi zurück, weil er hier mehr gebraucht werde als anderswo. «In einem Land, in dem zehn Millionen Toiletten fehlen, kann man sich nicht über Männer beklagen, die auf der Strasse pinkeln», sagt er. «Man kann nur selbst etwas zur Entwicklung beitragen.» Sein Beitrag steht in Gurgaon, dem neuen Industrieviertel im Süden der Stadt. Vor wenigen Jahren gab es hier nur Siedlungen mit grossen Grünflächen, wo Familien sonntags picknickten. Nun zeugen moderne Bürohochhäuser mit eingemieteten Callcentern vom Wirtschaftsboom im Land, ebenso moderne Fabriken und Hotels für die vielen anreisenden internationalen Geschäftsleute. Das mehrstöckige 100 000 Quadratmeter grosse Designstudio, das Hemant Sagar vor drei Jahren eingeweiht hat, funktioniert wie ein französisches Couturehaus. Hier werden die günstigen und teuren Linien seiner eigenen Marke für den heimischen und internationalen Markt hergestellt, Auftragsarbeiten für andere Luxuslabels ausgeführt und Uniformen für Fünfsternehotels genäht. VIP-Kundinnen kommen für Spezialanfertigungen gleich selbst vorbei und verraten ungewollt so einiges über ihre modischen Vorstellungen. «Wird eine Kundin während der Anprobe von einer Freundin angerufen, sagt sie ihr nicht: Das Kleid ist smaragdgrün und hübsch. Sie sagt: Das Kleid kostet 1500 Dollar. Nach viel Geld, so sieht es für sie aus.»
Wie in anderen Schwellenländern habe Mode in Indien noch viel mit Statusdenken zu tun. «Man will mit Kleidern und Schmuck nicht zeigen, wer man ist, sondern, was man hat», sagt Hemant Sagar. Leute mit einem eigenen Stil werde man erst antreffen, wenn die Modebranche besser entwickelt sei: «Es gibt einen Grund, weshalb sich im Westen Designer, Stofflieferanten, Moderedaktorinnen und Einkäufer für eine Saison auf bestimmte Schnitte und Farben einigen.» Modeinteressierte könnten aus einer Fülle von teuren und günstigen Labels auswählen, bekämen in Schaufenstern, Magazinen und Blogs Anleitungen für ihr Styling. «Mode ist eine künstlich erzeugte Kultur, die zu kreativem Konsum anregen soll», sagt Hemant Sagar. «Doch dieses Spiel haben hier noch die wenigsten erkannt.»
Noch gibt es in Indiens Metropolen keine Modemeilen wie die Fifth Avenue in New York. Man sitzt leicht einen halben Tag im Taxi, um fünf spannende Adressen abzuklappern. Mit ein Grund, weshalb überall Shoppingmalls aus dem Boden schiessen. In einer der luxuriösesten, dem DLF Emporio in Delhi, treffen wir Sujata Assomull, die Chefredaktorin des indischen «Harper’s Bazaar». Sie ist für eine Präsentation im Laden von Giorgio Armani hergekommen und trägt ein Deuxpièces des italienischen Designers. Die 36-Jährige wuchs in London auf und studierte dort Politik. Vor fünfzehn Jahren blieb sie während einer Reise in der Heimat ihrer Eltern hängen. Vor einem Jahr wurde sie Chefin des neu lancierten indischen «Harper’s Bazaar». Mit Reportagen bringt sie ihren Leserinnen Trends, Designer und internationale Modehäuser näher. Sujata Assomull erklärt das Interesse an vertiefenden Beiträgen so: «Inder haben gern einen Gegenwert fürs Geld. Deshalb liefern wir ihnen nicht nur Bilder, sondern auch Hintergrund.»
Sujata Assomull zeigt in ihrem Magazin genauso viele westliche wie indische Designer. Auf dem Cover jedoch werden nur indische Models oder Bollywoodstars abgebildet. Und sie bittet ihre Redaktorinnen, an Anlässen im Ausland einen Sari zu tragen. «Schliesslich hat kaum ein anderes Land eine so reiche Textilgeschichte. Alle wichtigen Modehäuser in Europa lassen sich davon inspirieren. Also sollten auch wir unsere Traditionen stolz zeigen.»
Nach dem Abschied von Sujata Assomull surrt das Handy: eine Textnachricht von Bandana Tewari! Sie schreibt: Kann euch leider nicht treffen. Meine Grossmutter ist gestorben.
Die Reise unseres Reporterteams wurde durch Intens Travel ermöglicht. Flug- und Hotelangebote des Indienspezialisten von Kuoni unter: annabelle.ch/intens
Nähere Infos zu Shops und Designer in Indien:
- Nikasha Tawadey`s Boutique befindet sich an der 4 Pandurang Vilas Linking Road, im Stadtteil Khar, www.nikasha.com
- Kreationen von Manish Arora, dem „John Galliano Indiens“ gibt’s unter anderem im Concept Store D7 in Mumbai zu kaufen, (Turning Point, Kreuzung 1. und 16. Strasse, im Stadtteil Khar), www.manisharora.ws
- Weitere indische Designer im D7 in Mumbai: Moon River, Namrata Joshipura, Nidhi and Pankay Ahuja, Rabani und Rakha, Rajesh Pratap Singh, Tulsi by Neeru Kumar
- Infos über das Modelabel von Hemant Sagar: www.lecoanethemant.com
1.
Sujata Assomull, Chefredaktorin des indischen «Harper’s Bazaar»:“Kaum ein anderes Land hat eine so reicheTextilgeschichte”
2.
Die Boutique Bungalow 8 in Mumbai.
3.
Studentin am National Institute of Fashion Technology in Delhi
4.
Ein Modestudent drapiert an der Schneiderpuppe einen Plisseekragen
5.
Designerin Nikasha Tawadey.
6.
Paillettensticker im Atelier von Hemant Sagar
7.
Kaschmirschals der Luxusklasse: Unternehmer-Ehepaar Andrabi
8.
Hemant Sagar, Couturier in Delhi: “Man will mit Kleidern und Schmuck nicht zeigen, wer man ist, sondern was man hat”
9.
Die schweizerisch-indische Filmproduzentin Shaana Levy.
10.
Handarbeit und Sonnenkraft statt Waschmaschine und Tumbler: Wäscherei in Mumbai
11.
Sticker brauchen viel Fingerspitzengefühl…
12.
…und kreieren kostbare Meisterwerke.
13.
Kühle Sachlichkeit: Schneiderpuppe im NIFT-Treppenhaus