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Heute schon Kalorien gezählt?

Heute schon Kalorien gezählt?

  • Text: Stefanie RiguttoIllustrationen: Sarah IllenbergerErstellt: 9. März 2010

Der Grat zwischen ein wenig aufs Gewicht achten und einem gestörten Essverhalten ist schmal – und schnell überschritten.

Der Schlankheitswahn macht selbst vor Frauen mit Idealgewicht nicht Halt. Sind wir alle essgestört?

Ihre Figur ist perfekt. Eliane misst 1.64 Meter und wiegt 58 Kilo. Sie ist 29 Jahre alt, bildhübsch, hat Wirtschaft studiert und arbeitet als Beraterin. Eigenartig an ihr ist einzig die Tatsache, dass sie den ganzen Tag nichts isst. Sie trinkt Kaffee, raucht Zigaretten, aber sie isst nichts. Zumindest nicht vor 18 Uhr. Sie sagt: «Es ist schlimm, wie einen das Dünnsein glücklich machen kann. Als die Jeans lotterten, schwebte ich tagelang auf Wolke sieben.» Eliane weiss, wie gefährlich dieses Glücksgefühl ist. Aber sie kommt dagegen nicht an. Obwohl ihr Body-Mass-Index im idealen Bereich liegt, wäre sie gern ein paar Kilo leichter. «Ich will nicht, dass man von mir sagt: Sie isch chli e Rundi.»

Schon in der Pubertät setzte sich Eliane auf Diät. Ihre Mutter und die beiden älteren Schwestern waren gertenschlank, wenig Busen, androgyne Figur. «Doch an mir wuchsen diese Riesenbrüste heran und die viel zu breiten Hüften.» Die 12-Jährige fand sich «unheimlich dick», die Fotos von damals beweisen allerdings das Gegenteil: «Ich war ein normaler, schlanker Teenager.» Immer wieder überkommen sie Frustfressattacken. Sie hört auf, Sport zu treiben, und nimmt sofort zu. Während einer Magengrippe realisiert der Teenager, wie schnell man abnehmen kann, wenn man nichts isst. Von diesem Moment an verweigert sie das Nachtessen. Die Eltern sind verunsichert, das Familienleben leidet, Eliane friert die ganze Zeit.  «Jedes Brösmeli gab mir das Gefühl, ich hätte gesündigt. Im Bett knurrte der Magen, aber daran gewöhnte ich mich», erinnert sich Eliane.

Sie probiert alle möglichen Diäten aus. Rohkost, Trennkost, basische Ernährung, No Carb, No Fat, Saftkuren, Ananasdiät, Apfelessigdiät, Nulldiät, Weight Watchers, Metabolic Typing. «Ich lebte für ein paar Monate nach einem bestimmten Dogma, bis der Effekt nachliess.» In ihrem Regal stapeln sich die Ratgeber, doch die widersprüchlichen Lehren verwirren sie. «Lange habe ich nur Sojamilch getrunken, weil ich dachte, das wäre gesünder. Dann habe ich gelesen, dass das gar nicht soo gut sein soll.» Als Eliane 25 Jahre alt wird, kennt sie die Kalorienzahl sämtlicher Lebensmittel, steht morgens und abends auf die Waage. Sie weiss sogar, wie viel Gewicht sie über Nacht verliert, etwa zwei Kilo.

Eliane beendet das Studium, fängt bei einer Grossbank an zu arbeiten, wo sie bis heute tätig ist. Weil in der Kantine des Unternehmens sogar der Salat mies ist, lässt sie immer öfter das Mittagessen aus. Bis das Nachtessen zur ersten und einzigen Mahlzeit wird, Frühstück eingeschlossen. «Ich komme gut damit klar, kann mein Gewicht halten», sagt sie. Die Kalorien, die sie am Tag spart, nimmt sie am Abend zu sich. Ihr Mann kocht, immer mit Vorspeise, Dessert und Wein. «Das geniesse ich sehr. Und ich bin froh, dass ich nicht mehr den ganzen Tag darüber nachdenken muss, was ich essen soll.» Aber natürlich isst sie auch abends nicht irgendwas: «Wenig Kohlehydrate, dafür viel Gemüse.» Ihren Essplan würde sie nicht als normal bezeichnen. «Er ist wohl schon ein bisschen, mmh, untypisch.»Aus Sicht der Experten hat Eliane ein gestörtes Essverhalten. Essstörungen sind eine Krankheit, gestörtes Essverhalten ist eine Entscheidung. Beim gestörten Essverhalten folgt man einem (Diät-)Plan, einem Essdogma, aber nicht der Lust oder den Bedürfnissen des Körpers. Laut Erika Toman, Autorin des Buchs «Mehr Ich, weniger Waage», sind Frauen, die mit dem Essen und dem Gewicht kämpfen, keine Minderheit mehr. Das Thema sei bei vielen stark emotional überlagert, die gedankliche Beschäftigung mit dem Essen habe in allen Altersgruppen massiv zugenommen. «Die Ernährung ist für viele Frauen zu einer Dauersorge geworden», sagt Erika Toman, die auch das Kompetenzzentrum für Essstörungen und Übergewicht in Zürich leitet. Laut einer Studie der Universität von North Carolina versuchen 67 Prozent der Frauen zwischen 25 und 45 Jahren abzunehmen, dabei ist die Hälfte davon gar nicht übergewichtig. Auch von den 14- bis 22-Jährigen gibt eine Mehrheit an, dass sie unzufrieden ist mit ihrem Gewicht.

Ja, sind eigentlich alle Frauen essgestört? Jede ein Ernährungsapostel, eine Diätsüchtige, eine Foodamentalistin? Oder einfach nur Frauen, denen es nicht egal ist, wie sie aussehen und statt Weissbrot, trinkt Soja- statt Vollfettmilch, und auf Süsses verzichtet sie gänzlich. Fasten dagegen, das macht sie nicht mehr. «Das Hungergefühl ist scheisse.» Dick sein, das heisst für Madeleine, ein Versager zu sein. «Leider tickt unsere Gesellschaft so. Die Übergewichtigen sind ja dermassen zum Gesundheitsproblem geworden, dass es sogar Regierungsprogramme dagegen gibt.» Männer waren nie der Grund, sagt Madeleine. Keiner hat je gesagt: «Hui, du solltest ein bisschen schauen.» Im Gegenteil, die Partner fanden ihren Körper immer wundervoll. Der Druck von Freundinnen und Arbeitskolleginnen jedoch, den empfindet sie als massiv. «Wenn man von vielen Frauen umgeben ist, vergleicht man sich, wie ihre Figur ist? Es bitzeli luege, das macht fast jede. Nach den Schlemmerferien eine Woche lang auf Chips verzichten, für die Bikinifigur nach Winterende eine Saftkur machen. Nur: Wie viel «es bitzeli luege» ist noch normal? Der Übergang von der bewussten Wahl – für das Rüebli und gegen das Schoggistängeli – zum nicht mehr kontrollierbaren Zwang sei fliessend, sagt Expertin Erika Toman. «Es gibt viele Mischformen.» Oft sei es schwer zu sagen, ob es einfach nur ein Möödeli, ein Tick, ein Food-Lifestyle sei oder eben doch schon eine Manie, eine Krankheit.

«Die Suche nach dem Idealgewicht ist ein nie endender Kampf», sagt Madeleine, 50 Jahre alt, 1.68 Meter gross, 64 Kilo schwer. «Leider versöhnt man sich mit dem Älterwerden nicht mit dem Körper. Zumindest ich nicht.» Seit sie 13 ist, hat es keinen einzigen Tag gegeben, an dem sie sich nicht mit ihrem Gewicht beschäftigte. «Ich kann mir noch so oft sagen: Hey, deine Figur ist okay, entspann dich! Aber diese Lockerheit kriege ich nicht hin.» Um nicht vollständig besessen zu werden, hat sie sich Auszeiten geschaffen: In den Ferien zum Beispiel, da nimmt sie die Pasta, wie sie auf den Tisch kommt, mit jeder fettigen Sauce. «Einerseits ist da der göttliche Genuss, andererseits dieses unsäglich schlechte Gewissen.» Zu Hause dann, da ist sie wieder streng mit sich, zieht ihre Diät – eine Mischung aus Trennkost und Low Carb – diszipliniert durch. Sie isst Dinkelstatt Weissbrot, trinkt Soja- statt Vollfettmilch, und auf Süsses verzichtet sie gänzlich. Fasten dagegen, das macht sie nicht mehr. «Das Hungergefühl ist scheisse.»

Dick sein, das heisst für Madeleine, ein Versager zu sein. «Leider tickt unsere Gesellschaft so. Die Übergewichtigen sind ja dermassen zum Gesundheitsproblem geworden, dass es sogar Regierungsprogramme dagegen gibt.» Männer waren nie der Grund, sagt Madeleine. Keiner hat je gesagt: «Hui, du solltest ein bisschen schauen.» Im Gegenteil, die Partner fanden ihren Körper immer wundervoll. Der Druck von Freundinnen und Arbeitskolleginnen jedoch, den empfindet sie als massiv. «Wenn man von vielen Frauen umgeben ist, vergleicht man sich, man schaut automatisch mehr auf sein Gewicht.» Sie findet es «erschreckend», was Frauen über andere sagen, wie hart sie mit ihren Geschlechtsgenossinnen ins Gericht gehen.Wenn sich normalgewichtige Frauen dick fühlen, Kalorien zählen, dauernd ans Essen denken, ihr Leben der Diät unterwerfen und das Thema zur Belastung wird, dann sei das alarmierend, findet Bettina Isenschmid. Sie ist Chefärztin des Kompetenzzentrums Essverhaltensstörungen am Spital Zofingen und Präsidentin der Fachstelle PEP (Prävention Essstörungen Praxisnah, www.pepinfo.ch). «Ganz viele Frauen essen nicht mehr normal, ausgewogen und ihren Bedürfnissen entsprechend. Und es sind keineswegs nur jüngere.» Wir alle würden uns zwischendurch «komisch» ernähren, Konzessionen machen, etwas weniger essen, weil wir nachher noch ein paar Piña Coladas trinken möchten. «Die Frage ist: Wie regelmässig macht man das?» Ohnehin hätten wir das Gefühl dafür verloren, was normalgewichtig ist, sagt Bettina Isenschmid. «Seit Jahren wird bei den Miss-Schweiz-Wahlen eine untergewichtige Frau gewählt.» Normalgewicht entspreche offenbar nicht mehr dem Schönheitsideal.

Die Welt des Essens ist aus dem Lot. Wir leben in einer Zeit, in der es normal ist, nicht normal zu essen. Sogar jene, die schlank sind, aber nicht auf ihr Gewicht achten (müssen), sind je länger, je mehr verwirrt. Man hat mittlerweile ein schlechtes Gewissen, wenn man im Supermarkt an den Weight-Watchers-Produkten vorbeigeht und zielstrebig auf Fleischkäse und Vollmilch zusteuert – «das macht im Fall nicht nur dick, sondern ist auch total ungesund», hört man die Ernährungsmissionare nölen. Man kommt sich gefrässig vor, wenn man den Freundinnen morgens um drei Uhr nach dem Ausgang vorschlägt, bei einem Kebab-Stand vorbeizuschauen («Wäh, Kebab!»). Und wenn man zum Fondue voller Freude einen Schümlipflümli bestellt, ist man nicht die Stimmungskanone, sondern der Miesmacher.

Ernährungsberater kommen gar nicht mehr nach, für jede neue Essstörung, für jede Neurose einen Namen zu finden:
Stressorexia: wegen Stress nichts essen.
Drunkorexia: Hungern für Cocktails.
Pregorexia: Schwangere, die Diät machen.
Vigorexia: exzessiv Sport treiben.
Night Eating: nächtliche Hungerattacken.

Tatsächlich gibt es so viele Störungen, wie es Frauen gibt. Da wäre zum Beispiel die Kollegin, die dauernd Milchschaum löffelt, um das Hungergefühl zu unterdrücken. In die Ferien verreist sie mit zwei Milchschäumern, falls einer den Geist aufgibt. Oder all die vielen Frauen, die nicht aufhören zu rauchen, aus Angst zuzunehmen. Lieber an Lungenkrebs sterben als dick werden! Alles, nur nicht aussehen wie Bridget Jones! Oder jene Bekannte, die ausschliesslich gesund isst (auch dafür gibt es eine Bezeichnung: Orthorexie). Ihr Schlaraffenland ist das Reformhaus, McDonald’s für sie inexistent, den Sonntagsbraten früher zu Hause empfand sie als Qual. Sie interpretiert Magenknurren nicht als Hunger, trinkt nur Wasser und bringt es nicht über sich, ein griechisches Jogurt zu kaufen, «einfach weil es ein Dickmacher ist». Und wenn man sie, die sehr schlank ist, fragt: «Bist du zufrieden mit deiner Figur?», antwortet sie: «Ich weiss es nicht.»Judith – 37 Jahre, 1.70 Meter, 61 Kilo – hat jahrelang jeden Mittag einen Salat mit Poulet gegessen, am Abend jeweils Fisch mit etwas Reis. «Ich schwor auf Low Carb.» Sie tut es für die Röhrlijeans, das kurze Lederjäckli. Mode bedeutet ihr alles. «Es ist Motivation und Frustpotenzial zugleich.» Und obwohl sie weiss, dass die heutige Grösse 38 viel kleiner ist als früher, will sie weiterhin reinpassen. Judith meidet Restaurants («zu wenig Kontrolle»), ebenso Wellness-Weekends mit der superschlanken Kollegin («das tut dem Selbstwertgefühl nicht gut»). Auch die Raclette-Essen mit den Arbeitskollegen waren immer eine Tortur. «Ich habe den ganzen Abend Gürkli auf dem Teller hin und her geschoben.» Als ihre Homöopathin sie fragt, welches ihr Lieblingsessen sei, weiss Judith keine Antwort. «Ich hatte keine Ahnung, was mir am besten schmeckt.» Sie hat jedes Lustgefühl verloren, Esswaren nur noch danach beurteilt, ob sie davon zunimmt.

2005 kommt ihre Tochter zur Welt, Judith zieht ihre Diät weiterhin durch. «Das Heidi-Klum-Zeitalter ist hart. Wer als Mutter nach der Geburt nicht bald wieder schlank ist, hats vermasselt.» Als ihr Mädchen sie beim Mittagessen fragt: «Mami, warum isst du keine Fischstäbli?» antwortet Judith: «Ich will meinen Bauch weghaben.» Worauf die Tochter ein paar Tage später sagt: «Ui, Mami, ich habe auch einen dicken Bauch! Machst du mir jetzt Salat?» Judith ist erschüttert. Dieses Essverhalten will sie ihrem Kind nicht weitergeben. Die Kehrtwende kommt mit der zweiten Schwangerschaft. «Ich hatte keine Sekunde lang Lust auf meinen Scheiss-Poulet-Salat.» Stattdessen: Lasagne, Kartoffelstock, Desserts. Es ist, als ob ihr Körper den jahrelangen Kohlehydratverzicht aufholen muss. «Dieses Erlebnis war ein Segen.» Judith hat wieder gelernt, eine Menükarte anzuschauen und sich zu fragen: Wonach gelüstet es mich? Und nicht: Wo hat es keine Kohlehydrate drin? Und trotzdem hat sie vier Monate nach der Geburt nur noch zwei Kilo zu viel auf der Waage. «Es macht für meinen Körper offenbar keinen Unterschied, ob ich mich an einen Diätplan halte oder einfach ganz normal und in Massen esse.» Jahrelang hat sie sich gequält, nur um schliesslich zu erkennen, dass sie auch ohne Diät schlank bleibt. Heute Mittag gibt es bei ihr zu Hause Würstli im Schlafrock mit Salat. «Und nachher ein Schoggi-Amaretto.» Das hätte sie sich früher nie gegönnt.

Wer ist eigentlich schuld daran, dass die Ernährung für so viele Frauen dermassen ein Krampf ist? Die einen rufen: die Werbung! Andere: die Magermodels! Kate Moss ist ja bekannt für den Satz: «Nichts schmeckt so gut wie Dünnsein.» Oder sind die Nahrungsmittelkonzerne verantwortlich, die mit ihrem Diät- und Healthfood Geld scheffeln wollen? Oder warum nicht gleich die ganze westliche Gesellschaft, die einen dicken Bauch als Zeichen von Unvermögen und mangelnder Selbstkontrolle taxiert (während er etwa in Indien für Wohlstand steht). Wieder andere geben die Schuld den Müttern, die am Mittagstisch ihren Diätsaft trinken und nachher vor dem Spiegel jammern: «Ich bin zu dick!» Ja, einen Schuldigen findet man immer. Dabei entscheidet jede Frau bei jedem Essen für sich allein, was sie sich in den Mund schiebt oder eben nicht. Andere Verhaltensticks – sei es Nägelkauen oder das vorlaute Mundwerk – versuchen wir in den Griff zu bekommen, nur bei der Ernährung geben wir uns den Marotten widerstandslos hin und merken nicht einmal, dass diese selten das Gewicht, dafür meist die Laune beeinträchtigen. Dabei sollte Essen doch vor allem auch: Spass machen! Schliesslich unterscheidet genau das den Menschen vom Tier: Essen ist für uns mehr als Energiezufuhr. Essen ist Kunst, Emotion, das Highlight des Tages. Um das zu wissen, muss man weder Gourmetkoch noch Ernährungsberater sein: Meine Urgrossmutter war ihr Leben lang schlank, bewegte sich viel, ass täglich Gemüse – liess sich aber von keinem Arzt die grosszügigen Portionen Butter und ihr geliebtes Gnaagi verbieten. Sie wurde 95 Jahre alt.