Die Geschichte des Afro
- Fotos: Jörgen Brennicke (1), Mark Wilson/Getty Images (1), Michelle Vignes/Gamma-Rapho via Getty Images (1)
Eine Haarexplosion auf dem Kopf? Oder neue Souveränität dank Afro? annabelle-Chefredaktorin Silvia Binggeli schreibt, warum Frauen mit afrikanischer Krause abendfüllend über ihr Haar sprechen können, warum das kollektive Trauma bis zur Sklaverei zurückführt und wie sich das nun ändert.
Zieh eine Strähne Haare aus der Bürste, die Haare sollen sauber sein, keine Produktrückstände aufweisen; leg sie in ein Glas Wasser, warte eine halbe Stunde und schaue, wo im Glas die Strähne schwimmt: Sinkt sie auf den Boden, ist dein Haar sehr porös, schwimmt sie in der Mitte, ist die Porosität normal, schwimmt sie obenauf, dann hast du es mit niedriger Porosität zu tun.
Sie wundern sich, womit Sie es hier zu tun haben. Mit einer wissenschaftlichen Studie? Nein. Mit afrikanischem Haar. Und das ist eine Wissenschaft für sich. Obige Anleitung habe ich auf Youtube gefunden, wo ich mich jüngst öfters aufhalte, um mehr über die Beschaffenheit meiner Haare zu erfahren, fast schon ein bisschen süchtig. Hallo. Ich bin Silvia. Und ich habe afrikanisches Haar.
Genauer: eine Mischung aus afrikanischem Haar (von meinem Vater geerbt) und von europäischem (von meiner Mutter). So weit, so irrelevant, denken Sie. Haarprobleme kennt jede, mal hat man einen guten Tag, mal einen Bad Hair Day. Mal trägt man kurz, mal lang, färbt, pflegt ab und an mit einer intensiven Spülung, mal gelingt die Frisur morgens, mal nicht. Haare sind letztlich eine Nebensache, nicht lebensbestimmend? Bei afrikanischem Haar sind sie ein abendfüllendes Thema – und ja: existenziell.
Schon als Kind fassten mir andere, ohne zu fragen, ungeniert aufs Haupt, als wäre ich ein wandelnder Streichelzoo. Jöööö, wie süss, fühlt sich an wie Wolle, darauf kann man Trampolin springen. Meine Mutter hat mir stundenlang, hingebungsvoll die Haare beim Waschen entwirrt (mit sehr viel Conditioner) und zu Zöpfen geflochten, zwei oder einen ganzen Kopf voll. Solange «süss» angebracht war, war ich damit glücklich. Bis im Teenageralter, in den 1980er-Jahren, lässiges Hin- und Herschwingen der Haare zum erfolgreichen Erwachsenwerden gehörte und Freundinnen Dauerwelle trugen. Bei mir bewegte sich wenig, ich trug eher einen Helm auf dem Kopf oder einen Schwamm – so kam es mir jedenfalls im Vergleich mit anderen vor. Also reiste ich zur nächstbesten Coiffeuse, die sich mit meinem Haar auskannte (zwei Stunden mit dem Zug nach Genf) und liess mir die Haare strecken. Es begann eine Odyssee der Absurditäten: Um meine gestreckten Haare in Form zu behalten, musste ich sie nach dem Waschen auf Bigoudis aufwickeln und unter der Haube ewig trocknen lassen. Regnete es draussen, blieb ich besser im Trockenen, wäre ja schade gewesen um die ganze mühsame Arbeit, denn Feuchtigkeit verwandelte meine Haare innert Sekunden wieder in einen Schwamm. Bei meiner ersten Reise nach London verbrachte ich praktisch die ganze Zeit in einem Shop für afrikanisches Haar. Ein Mekka, das es so zuhause nicht gab. Ich investierte mein Feriengeld in gefühlte dreissig Kilo Crèmes, Shampoos und Gels. Und war glücklich, dass mir auf der Strasse viele Menschen mit gleichem oder ähnlichem Haar begegneten – die allermeisten trugen ihre Krause gestreckt.
Später, während eines Auslandsemesters in Amerika, kam mir ein Buch in die Hände: «Hair Story» von Ayana D. Byrd und Lori L. Tharps, ich traute meinen Augen nicht. Und begann zu verstehen. Die beiden Autorinnen zeichneten die Geschichte der Afroamerikaner anhand ihrer Haare nach: Der Begriff Dreadlocks, beschrieben sie, käme ursprünglich vom Ausspruch «how dreadful», wie schrecklich, den die späteren Besitzer über die Haare der Sklaven äusserten, wenn sie gezeichnet von der Reise vom Schiff stiegen. Frauen mit sehr starker Krause wurden für die Arbeit aufs Feld geschickt, solche mit weniger Wirrwarr auf dem Kopf durften Hausarbeiten verrichten. Die erste USMillionärin, die Afroamerikanerin Madam C. J. Walker, machte ihr Geld mit Streckcrème – diese wurde später basierend auf einer Lauge weiterentwickelt, die Schafzüchter zur Pflege von Wolle benutzt hatten. Während der Bürgerrechtsbewegung in den 1960er-Jahren entstand in den Vereinigten Staaten ein Graben zwischen Bürgerrechtskämpferinnen wie Angela Davis, die ihren Afro spriessen liessen, und solchen, die weiterhin, dem europäischen Schönheitsideal folgend, ihre Krause streckten. Krause erschien ihnen irgendwie ungepflegt, unpassend, minderwertig. Und genau diese Inkonsequenz gegenüber der weissen Übermacht kritisierten die radikaleren Kolleginnen.
Treffe ich irgendwo an einem Anlass, in den Ferien oder in einem Kaffee eine Frau mit Afrohaar, kommen wir sofort ins Gespräch. Egal, ob wir uns grundsätzlich mögen oder nicht, beim Haar finden wir unser gemeinsames Thema: Kennst du dieses oder jenes Produkt? Was machst du gegen den ständigen Verlust von Feuchtigkeit? Trägst du sie nachts auch nie offen, weil Bändigen am nächsten Tag sonst unmöglich ist? Ist dein Haaransatz auch schon von zu viel Chemie nach hinten gewandert? Andere mit «normalen» Haaren wundern sich, nicht ganz zu Unrecht – ach, herrje, haben die denn sonst keine Probleme?
Als Teenager war ich ein grosser Fan von Whitney Houston. Die Sängerin war für mich eine der ersten öffentlichen Personen, mit denen ich mich äusserlich identifizieren konnte. Ich wanderte mit Bildern von ihren tollen Frisuren in den Salon meiner Coiffeuse in Genf. Nur, um zu erfahren: «Excuse, aber das sind nicht ihre Haare, das sind sogenannte Weaves, eingeflochtene oder angenähte Haarteile, oder sogar Perücken.»
Wenn ich heute Bilder von internationalen Stars afrikanischer Herkunft mit Kolleginnen und Kollegen anschaue, von den Red Carpets und Konzertbühnen dieser Welt, necken sie mich und sagen: «Du wirst wieder behaupten, dass das gar nicht ihre echten Haare sind.» Ich entgegne: «Ich behaupte das nicht, ich weiss es!» Afrikanische Krause glänzt nicht von Natur aus seidig, sie fliegt nicht federleicht in der Luft. Wenn das passiert, dann sind Haarteile oder Perücken im Spiel. Punkt. Glauben Sie mir, ich habe jahrelang versucht, die Dinger zum Fliegen zu bringen. Funktioniert nicht.
Nicht, dass mit Haarteilen oder Perücken grundsätzlich etwas falsch ist. Schliesslich soll jede Frau selber entscheiden können, wie sie sich schön fühlt. Aber verwunderlich ist es schon, dass von zehn Frauen mit afrikanischem Haar in der Regel höchstens zwei ihre Krause stolz offen tragen, so wie sie von Natur aus geschaffen ist. Sängerinnen, Models, Politikerinnen, Präsidentengattinnen, Prinzessinnen, Autorinnen – sogar ihre Kinder – tragen gestreckte Haare. Als Beyoncé Knowles ihre Tochter Blue Ivy mit einem süssen Afro auf Bildern zeigte, brach ein Shitstorm über die Popqueen herein. Eine Mutter, die selber so viel Geld in ihren Haarstyle investiere, monierten sowohl Weisse wie Schwarze, könne ihre Tochter doch nicht so ungepflegt herumlaufen lassen, wie ein Schaf sähe das aus. Das war 2014. Gerade mal vor vier Jahren. Sicher: Ignorante Menschen gibt es überall, man sollte sich von ihnen nie die Laune verderben lassen und sich besser an konstruktive Kritik und Komplimente halten. Trotzdem habe auch ich schon Briefe in die Redaktion bekommen, in denen stand, meine Frisur würde doch meiner Position nicht gerecht werden. Oder: Am besten, ich würde die ganze Krause einfach abrasieren. Chris Rock, der amerikanische Komiker, der schon als Moderator durch die Oscar-Verleihung führte, zeigte in einer grossartigen Dokumentation («Good Hair», 2009), zu welch absurdem Verhalten das kollektive Trauma von Afroamerikanerinnen betreffend ihrer «ungepflegten » Haare führt: Sie schlafen nur auf Satinkissen, wickeln ihre gestreckten Haare nachts um den Kopf, damit der Look möglichst lange hält. Liebhaber dürfen ihnen nicht in die Haare fassen, damit sie nicht plötzlich eine Perücke oder fremde Haarsträhnen erfühlen. Der teure wöchentliche Besuch beim Coiffeur ist für viele Standard, verbrannte Kopfhaut von zu viel Chemie ebenso. Eine millionenschwere Industrie verdient an diesem Wahnsinn mit Wahnsinnsumsätzen von Streckmitteln und Haarteilen. Inspiration für die höchst unterhaltsame, aber ebenso erschreckende Dokumentation von Chris Rock war übrigens seine kleine Tochter, die ihren Vater eines Tages unter Tränen fragte: «Daddy, warum habe ich keine guten Haare?»
Was mich betrifft, so habe ich in meinen Zwanzigern dem harschen Strecken und der Lockenwicklerprozedur abgeschworen, es wurde mir zu anstrengend. Dennoch habe ich danach meine Haare etwa drei- bis viermal im Jahr leicht geglättet, Texturizing nennt sich das, damit sie umgänglicher sind. Seit einem Jahr bin ich ganz chemiefrei. Was massgeblich mit einer gesellschaftlichen Bewegung zu tun hat, die von Amerika aus seit den 2000er-Jahren nach Europa schwappt: Die Natural-Curl-Bewegung, wie sie auf Wikipedia umschrieben wird, ermuntert Frauen afrikanischer Herkunft, ihre Haare stolz so zu belassen wie sie von Natur aus sind: kraus. Bekannte Vertreterinnen wie Sängerin Solange Knowles, Schauspielerin Viola Davis oder Autorin Chimamanda Ngozie Adichie machen es vor – die preisgekrönte Adichie, die ursprünglich aus Nigeria stammt, aber in Amerika studierte und heute dort lebt, ging übrigens in einer Aussage so weit, zu behaupten, dass Barack Obama niemals Präsident geworden wäre, hätte seine Frau Michelle einen Afro getragen.
Sicherlich, man kann es mit der gesellschaftlichen Bedeutung von afrikanischem Haar übertreiben. Aber bedenkt man, dass es in Afroshops auch hierzulande bis heute Bleichcrèmes für die Haut zu kaufen gibt, ist es zumindest spannend, sich zu überlegen, was wohl in Amerika passiert wäre, wenn Mrs. Obama neben ihrem Mann mit Dutzenden von Zöpfchen in den Wahlkampf gezogen wäre. Als die Schauspielerin Lupita Nyong’o letztes Jahr für ein britisches Hochglanzmagazin posierte und die Fotografin im Nachhinein ihre Krause wegretouchierte, musste sich diese öffentlich für den Fauxpas bei der Oscargewinnerin entschuldigen. In Banken sieht man meines Wissens immer noch eher selten üppige Afros an Mitarbeiterinnen. Aber die Zeiten ändern sich. Über die Haare emanzipieren sich Frauen mit afrikanischem Hintergrund von exklusiven Schönheitsidealen. Unter Hashtags wie #naturalhair, #loveyourcurls, #kinkyhairsisters oder #nappypride berichten Bloggerinnen auf Instagram und Youtube über nichts anderes als über afrikanische Haare und ihre Möglichkeiten und finden damit ein Millionenpublikum.
Doch auch wenn kultureller Stolz nun Afros spriessen lässt – einfach in der Pflege werden die Haare dadurch nicht. In zehn Minuten mal schnell Haare waschen geht nicht. Vielmehr wollen in einem aufwendigen, oft stundenlangen Prozedere der Feuchtigkeits- und Proteinhaushalt im Einklang gehalten werden. Die Curl Community im Netz liefert in Tutorials wertvolle Tipps dazu. Die Schönheitsindustrie liefert der Bewegung Dutzende von neuen Produkten, zum Beispiel Shampoos ohne Sulfate, Produkte ohne Silikon, denn beides bekommt krausem Haar nicht. Populär ist auf Youtube der sogenannte Big Chop geworden – das dramatisch inszenierte Abschneiden von chemisch gestrecktem Haar, das der Natur Platz machen soll.
So weit gehe ich nicht, ich lasse meine chemisch behandelten Haare langsam herauswachsen. Ich klöne weiter über die aufwendige Pflege meiner Haare, habe aber mittlerweile mit Übung ein einigermassen effizientes Ritual gefunden; schliesslich habe ich auch noch ein paar andere Hobbies. Offen trage ich meine Haare noch zu selten, obwohl mir andere immer wieder ans Herz legen: Jetzt lass endlich den Haargummi weg! Irgendwie halten mich meine über die Jahre antrainierten Komplexe immer noch davon ab, insbesondere im Geschäftsumfeld, ganz selbstverständlich eine wilde Mähne spazieren zu führen. Aber ich arbeite daran. Manche Wege scheinen etwas verworrener zu sein.
Neu auf Netflix: «Nappily Ever After», eine Liebeskomödie von Haifaa Al Mansour, basierend auf dem gleichnamigen Roman von Trisha R. Thomas. Kein filmisches Highlight, aber ein spannendes Porträt einer Afroamerikanerin, die beschliesst, ihre Haare natürlich zu belassen und damit aneckt – erst mal bei sich selber
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