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Gedächtnis: Neurologe Lutz Jäncke über Erinnern und Vergessen

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Gedächtnis: Neurologe Lutz Jäncke über Erinnern und Vergessen

  • Interview: Mathias PlüssIllustration: Shout

Unser Hirn ist faul und die Erinnerung an unsere eigene Biografie trügerisch. Aber George Clooneys Telefonnummer würden wir garantiert behalten, sagt Neurologe Lutz Jäncke.

Lutz Jäncke, was ist Ihre erste Erinnerung?
Schwimmen mit meinem Vater. Da muss ich so etwa dreieinhalb gewesen sein.

Warum erinnern Sie sich gerade daran?
Vermutlich deswegen, weil das Wasser so kalt war. Daran sieht man, wie das Gedächtnis funktioniert: Je intensiver die Erfahrung, desto stärker prägt sie sich ein.

Wir erinnern uns also vor allem an starke Gefühle?
Ja. Die meisten Menschen haben besonders viele Erinnerungen an die Zeit zwischen sechzehn und zwanzig, die emotional sehr intensiv ist: erste Liebe, Berufswahl, Ausziehen von zuhause. Wenn starke Gefühle auftreten, schütten wir bestimmte Hormone aus, die im Moment des Abspeicherns einer Information die Verbindungen zwischen den Gehirnzellen verstärken. So erinnern wir uns später besser daran.

Gibt es den berühmten Madeleine-Effekt wirklich – kann ein Duft oder Geschmack das Tor zur Kindheit öffnen?
Ja. Der Geruch ist die einzige Sinneswahrnehmung, die ungefiltert ins Grosshirn gelangt. Und interessanterweise befindet sich das Geruchzentrum in unmittelbarer Nähe wichtiger Gedächtniszentren. Deshalb sind viele Kindheitserinnerungen mit Gerüchen gekoppelt.

Bei Ihnen auch?
Ja. Meine Eltern kommen aus Norddeutschland. Der Geruch der Nordsee hat sich bei mir tief eingebrannt. Wenn ich Meeresduft rieche, habe ich sofort sentimentale Erinnerungen.

Ein Kollege hat erzählt, er wisse noch ganz genau, wie der Sand im Sandkasten schmecke, obwohl er sich seit dreissig Jahren keinen mehr in den Mund gesteckt hat.
Das ist sehr gut möglich. Der Geruch spielt ja auch beim Essen, bei der Geschmackswahrnehmung, eine entscheidende Rolle. Bei mir äussert sich das darin, dass ich Fisch unheimlich gern habe. Andere Leute halten sich die Nase zu, wenn sie Bratfisch riechen – ich finds toll!

Auch in Beziehungen sollen Gerüche sehr wichtig sein.
Unbedingt. Ich glaube etwa, dass die meisten Männer das Parfum der ersten Freundin nie vergessen werden. Und die Erinnerung an die erste Freundin wird durch das Parfum relativ leicht geweckt. Was ein Problem sein kann, wenn die Nachfolgerin das gleiche benutzt.

Warum können wir uns nicht an die früheste Kindheit erinnern?
Manche Leute wollen das gar nicht glauben, aber es ist sehr gut belegt. Kleinkinder können keine langfristigen Informationen speichern. Die Netzwerke im Grosshirn müssen zuerst aufgebaut werden, und das dauert ein paar Jahre. Deswegen haben wir aus den ersten drei, vier Lebensjahren keine richtigen Erinnerungen, höchstens ein paar Erinnerungsfetzen.

Gleichzeitig hört man immer, wie unheimlich wichtig die ersten Lebensjahre seien.
Das stimmt auch. Sie müssen zwei grosse Gedächtnissysteme unterscheiden: das bewusste und das unbewusste. Das unbewusste Gedächtnis arbeitet gewissermassen nebenbei, und es fängt schon sehr früh damit an. Schon mit sechs Monaten beginnen wir, unsere Muttersprache zu lernen. Mit acht Monaten können japanische Kinder ein R nicht mehr von einem L unterscheiden. Das passiert alles unbewusst. Wir können viel mehr, als wir wissen.

Viele Menschen wissen noch genau, wo sie waren, als sie von den Anschlägen des 11. Septembers 2001 hörten. Warum?
Man spricht da von Blitzlicht-Erinnerungen. Sie entstehen, wenn aufregende Hinweisreize rasch und multimedial auf uns einprasseln. Dann werden all diese Informationen verkoppelt und besonders tief im Gedächtnis eingebrannt. Aber gerade 9/11 hat auch gezeigt, wie sehr wir unsere Erinnerungen verfälschen.

Inwiefern verfälschen?
Stellen Sie sich vor, Sie haben da ein Netzwerk von Informationen zu 9/11 gespeichert. Mit der Zeit beginnt dieses Netz ein wenig zu zerfallen, manche Einzelheiten gehen vergessen. Wenn wir uns nun erinnern wollen, müssen wir rekonstruieren. Dabei verwenden wir aber nicht nur die noch vorhandenen Erinnerungsfetzen, sondern wir ersetzen das Verlorene durch Informationen, die uns in diesem Moment zur Verfügung stehen – etwa durch das, was wir gelesen oder im Fernsehen gesehen haben. Untersuchungen haben gezeigt, dass sich die Erinnerungen der Menschen an 9/11 immer mehr angleichen. Die Individualität geht verloren.

Das Gedächtnis ist kein Computerspeicher, den man einfach abrufen kann?
Keinesfalls. Jede Erinnerung ist eine Rekonstruktion. Unser bewusstes Gedächtnis ist ein Weltmeister im Rekonstruieren.

Es gibt ja Leute, die sich felsenfest an Dinge erinnern, die sie gar nie erlebt haben.
Ein krasser Fall ist der Schweizer Schriftsteller Binjamin Wilkomirski, der ein Buch geschrieben hat über seine Kindheit im KZ. Man konnte nachweisen, dass alles erfunden war und er in der Schweiz aufgewachsen ist. Trotzdem glaubt er bis heute, er sei im KZ gewesen.

Glaubt er das ehrlich?
Ja. Wenn sich jemand etwas wirklich einbildet, kann man auch mit einem Lügendetektor nichts nachweisen.

Was es nicht gerade einfach macht, die Wahrheit zu finden.
Ja. Fünf Zeugen sehen einen Unfall, und Sie haben acht verschiedene Meinungen! Für ein Gericht ist das ein Riesenproblem – oder für Ihre Ehe; wenn Sie mit Ihrer Partnerin uneinig sind über einen Sachverhalt, den Sie beide erlebt haben, aber unterschiedlich erinnern. Das liegt aber nicht nur an der Konstruktionsfähigkeit unseres Gehirns, sondern auch daran, dass wir Geschehnisse schon unterschiedlich speichern.

Wie das?
Wenn eine Information unsere Grosshirnrinde berührt, verliert sie bereits ihre Unschuld: Sie wird subjektiv. Ich sortiere das gleiche Erlebnis komplett anders ein als Sie. Wir speichern Informationen interpretiert, und wir rufen sie interpretiert ab. Der ganze Erinnerungsprozess ist etwas hochgradig Individuelles. Deswegen bin ich überzeugt: Was wir gelernt haben, was wir erfahren zu haben glauben, macht unsere Persönlichkeit aus. Das Gedächtnis, das bin ich.

Aber wieso können wir Informationen nicht einfach eins zu eins speichern?
Man denkt ja zuerst, das sei ein Nachteil. In Wahrheit ist es ein Riesenvorteil. Wir könnten niemals alle Informationen behalten, die die Welt uns bietet – wir müssen aussortieren. Indem wir nur gewisse Schwerpunkte speichern und den Rest rekonstruieren, können wir die Gedächtniskapazität vieltausendfach erweitern.

Trotzdem gibt es Leute, die ein fotografisches Gedächtnis haben.
Die gibt es, aber sie sind extrem selten. Und sie sind nicht unbedingt glücklich damit. Stellen Sie sich vor, Sie müssten alles behalten, was Sie sehen, erfahren, erleiden, erdulden. Seien Sie froh, dass Sie so viel vergessen können!

Das Vergessen ist ein Segen?
Es ist enorm wichtig. Wir müssen vergessen, um Platz für Neues zu schaffen. Ich treibe es manchmal auf die Spitze und behaupte, Vergessen sei wichtiger als Behalten. Die Lehrer erschrecken dann immer.

Manchmal vergisst man etwas, und plötzlich, zack, fällt es einem wieder ein.
Das kommt vor. Man hat am Abend zuvor mit Freunden diskutiert über einen Politiker, keiner kommt auf den Namen, und am nächsten Tag fahren Sie im Tram, sehen auf einem Plakat zufällig sein Bild, vielleicht nicht einmal richtig bewusst, und auf einen Schlag ist alles da: der Name des Politikers, das gestrige Gespräch, wie Sie auf das Thema gekommen sind, was Sie eigentlich hatten sagen wollen und so weiter. Das ganze Informationsnetzwerk.

Es braucht also einen Hinweisreiz?
Nicht unbedingt. Manchmal kommts auch einfach so. Unser Gedächtnis ist ziemlich eigenwillig. Der holländische Schriftsteller Cees Nooteboom hats schön gesagt: «Eine Erinnerung ist wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will.»

Warum werden wir im Alter vergesslich?
Ich habe da eine eigene Theorie dazu. Viele Menschen, deren Gedächtnis im Alter nachlässt, sind meiner Meinung nach nicht dement.

Sondern?
Sie sind aus der Übung. Meine These ist, dass viele Menschen ab dem vierzigsten Lebensjahr nur noch auf die Pensionierung warten und ihr bewusstes Gedächtnis nicht mehr trainieren. Und dann beginnen die Netzwerke in ihrem Kopf zu zerfallen. Sie können dann auch neue Informationen nicht mehr gut einsortieren.

Sie werden vergesslich?
Ja. Und sie lernen nichts mehr. Es ist wie mit einem Fischernetz: Wenn es dicht geknüpft ist, bleibt eine Menge hängen. Sind die Löcher grösser, so flutscht viel mehr durch.

Warum trainieren die Menschen ihr Gedächtnis nicht mehr?
Weil es anstrengend ist. Unser Gehirn ist faul – es macht gern das, was es schon gut kann. Fernsehen, bügeln, Rotwein trinken, das geht von selbst.

Strengen sich denn die Jüngeren lieber an?
Na ja, sie werden halt dazu gezwungen. Die Statistiken sagen, dass wir in der Schule am meisten lernen, dreieinhalb bis vier Stunden am Tag. An der Uni sind es noch anderthalb bis zwei Stunden. Je älter man wird, desto mehr geht es runter. Sechzigjährige setzen sich gerade noch kaum messbare zwei Minuten am Tag bewussten Lernprozessen aus. Wir flüchten davor.

Umgekehrt gibt es Menschen, die noch mit neunzig einen hochwachen Geist haben.
Es ist eben nicht so, dass im Alter alles automatisch den Bach runtergeht. Gerade das bewusste Gedächtnis ist eines der Dinge, die im Alter sogar noch besser werden können, wenn man es pflegt. Manche alten Menschen können immer besser mit ihrem Wissen umgehen, weil sie es differenziert gespeichert haben – sie werden weise. Aber man muss ständig dranbleiben, darf nicht nachlassen.

Warum können sich Alzheimerpatienten oft noch gut an die Kindheit erinnern?
Das hat damit zu tun, dass als Erstes jener Gehirnteil zu schrumpfen beginnt, der für Lernen und aktuelle Informationen wichtig ist. Darum verschwinden die neuen Erinnerungen zuerst.

Ist des denn wie im Buch «Small World» von Martin Suter, wo der Kranke chronologisch, Jahr für Jahr, immer weiter in die Kindheit zurückgeworfen wird?
Es ist genau so. Oft verfallen die Patienten dann auch in ewiges Wiederholen ihrer Kindheitserlebnisse. Manche können sehr witzig und detailliert Anekdoten aus ihrer Jugend erzählen, und wenn Sie das hören, dann denken Sie: Der ist doch nicht krank! Aber die können überhaupt nichts Neues mehr aufnehmen.

Was halten Sie von Gehirnjogging?
Ich bin ein wenig gespalten. Das Problem ist, dass man beim Gehirnjogging meist mit sinnlosen Dingen umgeht. Sie müssen etwa irgendwelche Zahlen auswendig lernen, die überhaupt keine Bedeutung haben. Und das mag unser Gehirn überhaupt nicht. Wir sind viel besser ansprechbar, wenn wir etwas Sinnvolles lernen.

Zum Beispiel?
Eine Frau wird die Telefonnummer von George Clooney viel schneller auswendig lernen als eine Reihe von Zufallszahlen.

Und was ist das Positive am Gehirnjogging?
Es kann helfen, aus der Bequemlichkeitsfalle rauszukommen. Aber sobald Sie diese Schwelle überwunden haben, empfehle ich jedem, damit aufzuhören und etwas anderes zu lernen.

Was konkret?
Sprachen. Bergnamen beim Wandern. Einkaufslisten. Einfach was Sinnvolles.

Lutz Jäncke (55)


… stammt aus Wuppertal in Deutschland und ist seit zehn Jahren Professor für Neuropsychologie an der Universität Zürich. Er gehört zu den produktivsten und angesehensten Hirnforschern der Welt und bekam mehrere Auszeichnungen für seinen hervorragenden Unterricht. Wissenschaftlich interessiert er sich vor allem für Fragen des Bewusstseins, des Lernens und der Entwicklung des Gehirns im Alter. Jäncke hat Aufsehen erregt mit Untersuchungen, die zeigten, dass kaum etwas das Gehirn so fördert wie das Musizieren.