Für ein ganzes Leben und länger: Max Mara und der zeitlose Mantel
- Text: Leandra Nef
- Bild: Max Mara
Zum siebzigjährigen Jubiläum von Max Mara lüftet Kreativdirektor Ian Griffiths das Geheimnis der ikonischen Mäntel – und erklärt, warum das italienische Modehaus ganz schön Punk ist.
annabelle: Ian Griffiths, Max-Mara-Gründer Achille Maramotti designte seinerzeit für «solicitors’ and doctors’ wives», wie er gern zitiert wird. Sie entwerfen heute nicht nur für die Frauen von Anwälten und Ärzten, sondern auch für Anwältinnen und Ärztinnen. Inwiefern hat sich mit der Emanzipation der Frauen über die Jahrzehnte auch das Design verändert?
Ian Griffiths: Als ich 1987 zu Max Mara kam, drehte sich alles um Powerdressing. Es ermöglichte Frauen, sich in der Arbeitswelt zu präsentieren. In einer Männerwelt also, in der für Frau- en bis anhin kein Dresscode existierte. Aber dieser neue Dresscode war auch Uniform, alles sah aus wie im Film «Working Girl» mit Melanie Griffith. Bald forderten Frauen Businesskleider, mit der sie ihre Persönlichkeit ausdrücken konnten. Meine Arbeit als Designer wurde vielfältiger, vergnüglicher. Wichtig bleibt: Die Kleidung darf nie dominanter sein als die Frau.
Es heisst, Powerdressing hätte die Frauen massgeblich dabei unterstützt, zu den Schaltzentralen der Macht vorzudringen. Wird die Mode nicht überschätzt?
Dank Max Mara konnten sich die Frauen morgens anziehen und mussten – genau wie die Männer in ihren Anzügen – keinen weiteren Gedanken daran verschwenden, ob etwas zu eng, zu weit, zu kurz oder zu lang war. Sie konnten sich auf ihre Arbeit konzentrieren. Die Kleidung spielte nicht die Haupt-, aber eine wichtige Nebenrolle.
Vor vierzig Jahren entwarf Ihre Vorgängerin Anne Marie Beretta den Mantel mit der Produktionsnummer 101801. Was macht ihn bis heute zu einer Ikone?
Die Form. Die Proportionen. Eine Ikone resultiert meist aus einem Prozess: Ein Design entwickelt sich von Saison zu Saison, bis alles an ihm perfekt ist. So war es auch mit diesem Mantel. Er erreichte seine Perfektion im Jahr 1981, als er unter dem Namen 101801 der Öffentlichkeit präsentiert wurde.
Warum aber ist seine Form, sind seine Proportionen perfekt?
Dieser grosszügige, zweireihige Mantel, der fast bis zu den Knöcheln reicht, steht Frauen mit unterschiedlichen Figuren, grossen wie kleinen. Wir haben seit 1981 nichts mehr an ihm verändert.
Aber Sie haben Variationen des Mantels kreiert.
Ja, etwa für die Resort-2022-Kollektion, in der das Reisen eine wichtige Rolle spielt. Die Variation aus Jersey passt sich unterschiedlichen Klimata an und knittert nicht im Koffer.
Und der reversible 101801-Mantel für die aktuelle Anniversary Collection?
Ich habe ihn besonders für jüngere Kundinnen entworfen, denen die Zeit fehlt, ihre Tage und Outfits zu planen. Wenn es zu regnen beginnt, können sie den Mantel wenden, das wasserfeste Nylon gegen aussen tragen. So wird der Mantel nicht beschädigt.
Eine weitere Max-Mara-Ikone ist der Teddy-Bear-Coat, den Sie 2013 lanciert haben.
Die Ausnahme bestätigt die Regel: Er wurde ohne weitere Modifikationen sofort zur Ikone, wir haben beim ersten Mal alles richtig gemacht. So etwas widerfährt einem Designer oder einer Designerin vielleicht alle fünf bis zehn Jahre. Vielleicht auch nur einmal im Leben.
Ian Griffiths«Die Kleidung soll Ausdruck der Person sein, die sie trägt, nicht jener, die sie entwirft»
Was hat Sie zum Design des Mantels inspiriert?
Ich schaute mir die Mäntel an, die Max Mara in den Achtzigern fertigte – aus einem Stoff, mit dem in Deutschland Teddybären hergestellt wurden. Es war an der Zeit, sie wieder einzuführen. 2013 waren schmale Formen angesagt, der Teddy Bear Coat widersprach mit seinem enormen Volumen also allen Trends der Zeit. Unser Verkaufsteam war entsetzt, die Kundinnen begeistert.
Warum wussten Sie, dass der Moment für ein Revival gekommen war?
Es wuchs ein Gefühl der Unruhe und Angst in der Welt. Und damit ein Bedürfnis nach Komfort, danach, umhüllt zu werden, sich geborgen zu fühlen. Der Mantel bietet diesen Komfort. Und gleichzeitig den diskreten Glamour eines Hollywoodstars an einem dienstfreien Tag … ich denke gerade an Greta Garbo im Kamelhaarmantel.
Unsere Zeit ist von Krisennarrativen geprägt. Mit dem Klimawandel, den Kriegen und der Pandemie müssen sich die Menschen heute mehr Sicherheit von der Mode wünschen denn je. Wie reagiert Max Mara?
Wir entwerfen Kollektionen, die Saison für Saison Kohärenz und Kontinuität vermitteln und so Unsicherheiten überwinden. Darauf können sich unsere Kundinnen verlassen. Gleichzeitig ist es mein Job, jeder Kollektion einen neuen, überraschenden Twist zu verleihen, ohne dass sie zu eigenwillig wirkt.
Wie meinen Sie das?
Vor allem junge Modeschöpfer:innen tendieren dazu, zu stark zu charakterisieren – zu übertreiben –, weil sie beweisen wollen, wie clever sie sind. Dabei liegt die Cleverness darin, sich zurückzuhalten. Die Kleidung soll Ausdruck derjenigen Person sein, die sie trägt, nicht jener, die sie entwirft – wie ein neutraler Rahmen, ein neutrales Schaufenster. So können sich Frauen jeden Alters, jeder Grösse und Figur vorstellen, sie zu tragen.
Trotzdem haben Sie die Kleidungsstücke und Accessoires der Anniversary Collection prominent mit dem Gründungsjahr von Max Mara geschmückt.
Tatsächlich. Max Mara möchte Frauen in Szene setzen, warum also sollten sie umgekehrt etwas tragen, auf dem gross «1951» steht? Weil es dabei nicht um den Bling geht, sondern um die Werte der Marke, mit denen die Frauen sich identifizieren und die sie so nach aussen tragen können. Aber schauen Sie sich in diesem Raum um (Max Maras Showroom in Mailand, Anm. d. Red.): Einige Taschen, Sweater und die Innenseiten der reversiblen Mäntel tragen die Zahl, die restlichen Stücke sind praktisch ungebrandet.
Achten Sie wegen Social Media heute auf die Fotogenität eines Mantels?
Unbedingt. Das ist ein weiterer Grund für den Erfolg des Teddy Bear Coat. Carine Roitfeld trug ihn am Tag nach der Laufstegpräsentation in Mailand und wurde darin fotografiert. Auch wenn Social Media damals noch in den Kinderschuhen steckte: Das Bild ging viral.
So auch jenes von Nancy Pelosi im roten Max-Mara-Mantel, den sie 2018 bei einem Kräftemessen mit Donald Trump trug.
Das war eine Überraschung! Ich hatte keine Ahnung, dass sie den Mantel tragen würde, wir wurden nicht vorgewarnt. Es war kein neuer Mantel, sondern einer, den sie Jahre zuvor gekauft haben muss; sie scheint sich ganz bewusst dafür entschieden zu haben, denn der Mantel ist auch psychologische Hülle: Feuerrot für den Tag, an dem sie dem Präsidenten Feuer unterm Hintern machte.
Über welche Frau, die Max Mara trägt, freuen Sie sich besonders?
Tatsächlich über Nancy Pelosi. Aber neben all den Politikerinnen, Hollywoodstars und Royals – und derer gibt es viele – ist eine Frau, die neben mir im Restaurant Max Mara trägt, die grösste Befriedigung.
Ian Griffiths«Ist Ihnen schon aufgefallen, wie schwierig es ist, Max-Mara-Mäntel in Secondhandstores zu finden?»
Wer ist sie, die typische Max-Mara-Frau?
Kein Brand könnte Mäntel in der Quantität verkaufen, wie wir es tun, wenn sie nur an einen einzigen Typ Frau verkauft würden – deshalb scheint mir auch unser Casting bei Shows und Fotoshootings fundamental. Grundsätzlich aber ist diese Frau taff, ambitioniert, perfektionistisch. Sie jongliert ein kompliziertes Leben zwischen Arbeit, Familie und Sozialleben. Menschen bewundern sie für ihre Eleganz, ihre Kultiviertheit. Und dafür, dass sie die Kontrolle über ihre Kleidung hat und nicht umgekehrt.
Worauf achten Sie beim Casting?
Es soll divers sein und die verschiedenen Märkte widerspiegeln, in denen unsere Produkte erhältlich sind. Es wäre arrogant zu erwarten, sich in einem bestimmten Teil der Welt vermarkten zu können, ohne dass sich die Frauen dort auf dem Laufsteg oder in den Werbekampagnen repräsentiert sehen.
Darum haben Sie 2017 Halima Aden gebucht, das Model mit Hijab?
Wenn ich durch Londons Strassen schlendere und einer Frau mit Max- Mara-Mantel und Hijab begegne, ist das nicht der Rede wert. Trotzdem haben wir zuvor praktisch nie eine Frau mit Hijab auf dem Laufsteg gesehen. Weil wir eben auch nie einem Model mit Hijab begegnet sind – und es wäre falsch gewesen, irgendeiner Frau ein Kopftuch aufzusetzen. Ein Casting Director stellte mir dann Halima vor. Ich flunkerte daraufhin meinen Chef Luigi Maramotti an. Er fragte, ob Halimas Lauf auffallen, viel Aufmerksamkeit erregen würde. Ich antwortete: vielleicht ein bisschen. (lacht)
Apropos auffallen: Wer durch Ihren Instagram-Feed scrollt, dem fallen Bilder auf, auf denen Sie David Bowie mimen.
Das war in meinen Teenagerjahren, auf dem Höhepunkt der Post-Punk-New-Romantic-Bewegung. Man sieht es mir heute nicht mehr an, aber im Herzen bin ich noch immer ein Punk. Ich verbrachte ganze Nachmittage damit, mich aufwendig zu schminken. Anschliessend schneiderte ich mir ein Outfit aus alten Vorhängen. Ich trug es für ein paar Stunden, vielleicht für einen Abend, danach warf ich es weg. Bei Max Mara propagieren wir das Gegenteil.
Tatsächlich.
Bei Max Mara designe ich Mäntel für ein ganzes Leben und länger. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, wie schwierig es ist, Max-Mara-Mäntel in Secondhandstores zu finden? Die Leute geben sie über Generationen weiter. Einen dort zu entdecken wäre für mich, als ob ich einen Hund aus dem Tierheim retten müsste. Ich würde ihn mitnehmen und in unser Archiv aufnehmen – oder ihn jemandem geben, der ihn schätzt. Den allerersten Max-Mara- Mantel, den ich designt habe, schenkte ich meiner Mutter, sie ihn meiner Schwester und die gab ihn an meine Nichte weiter. Es ist nicht alles bei Max Mara zu einhundert Prozent nachhaltig – aber ein Produkt, das so viele Jahre im Umlauf ist, ist es.
In der schnelllebigen Modebranche erstaunt es, dass Sie seit Ihrem Modedesignstudium, also seit über dreissig Jahren, für Max Mara arbeiten.
Ich kann mir nicht vorstellen, etwas anderes zu tun. Ich weiss nicht einmal, ob ich ein guter Designer bin. Ich weiss nur, dass ich ein sehr guter Designer für Max Mara bin. Als ich Achille Maramotti traf, kam es zu diesem einmaligen Zusammentreffen zweier Geister, die exakt dasselbe denken.
Ein englischer Punk denkt gleich wie ein italienischer Geschäftsmann?
Es ist weniger paradox, als es klingt. Achille Maramotti wollte Kleidung für Frauen entwerfen, die sich den Mund nicht verbieten lassen, die den Status quo hinterfragen, die Welt verändern. Eine ziemlich radikale Agenda für die damalige Zeit. Diese punkige Note steckt bis heute in allem, was wir tun.
Eine Konstante in der Modebranche: Ian Griffiths, Kreativdirektor bei Max Mara, arbeitet seit 1987 für das italienische Traditionshaus. Er lebt in Italien, Spanien, London und auf seinem Landsitz im englischen Suffolk.