Ein Besuch bei Jil Sander: «Ich bin gelassener geworden»
- Text: Leandra Nef
- Bild: Peter Lindbergh © Peter Lindbergh Foundation
Jil Sander verbot ihren Models die Sexyness, verlor das Recht am eigenen Namen und musste schliesslich doch noch lernen, selbst einkaufen zu gehen – wir trafen die Grossmeisterin der Purity zum grossen Gespräch in ihrer Hamburger Villa.
Man weiss, man ist an eine gute Adresse geladen, wenn einem gleich zwei mitgeteilt werden: Die offizielle und die, die man dem Taxifahrer nennen soll, damit er an der Hintertür hält und nicht «unten am Gartentor», gegenüber dem Hamburger Alsterpark, von dem aus man erst noch durch besagten Garten hochlaufen müsste.
Und wenn die Standardhecke nicht reicht, das Grundstück abzuschirmen, sondern stattliche Bäume die Patriziervilla verstecken, die dahinter trotz beachtlicher Grösse kaum auszumachen ist.
In dieser Villa werkt – nicht wohnt – Jil Sander. Die Jil Sander, die vor einem halben Jahrhundert das gleichnamige Modelabel gründete, es später verkaufte, im Disput verliess und schmerzlich vermisste. Über die viel gewerweisst wurde – hat der Verlust sie geknickt? Wurde sie verbittert? Und viel geschrieben, 2023 etwa in der unautorisierten Biografie «Jil Sander. Eine Annäherung» der deutschen Journalistin Maria Wiesner.
Diesen Herbst nun publizierte Jil Sander selbst ein Buch, es trägt den verheissungsvollen Titel «Jil Sander by Jil Sander». Eine Werkschau der vergangenen Jahrzehnte, mehr Bildband als Autobiografie, 525 Bilder auf 360 Seiten, einordnende Bildlegenden.
Aber kein klassisches Coffee Table Book, wie Sander später betont, sondern eines, «das die Atmosphäre und den lebhaften Rhythmus einer Modeschau» imitiert, bei der man ja auch nicht alles mitkriegt, «aber von Einzelheiten fasziniert ist».
Unaufgeregte, aber glasklare Präsenz
Ein lichtdurchfluteter, mit einigen wenigen Designmöbeln eingerichteter Raum im ersten Stock der Villa, Blick in den Garten. Jil Sander betritt ihn mit der unaufgeregten, aber glasklaren Präsenz einer Person, die niemandem mehr etwas beweisen muss, die weiss, was sie in ihrem Leben erreicht hat. In ihrem Leben, das nun schon einundachtzig Jahre dauert.
Jil Sander wirkt jünger. Nicht, weil nicht viele schöne Falten und Furchen ihr Gesicht zeichnen würden, das tun sie. Vielmehr glaubt man in ihren blauen Augen eine junge Seele zu erkennen, einen neugierigen Geist, denselben Schalk und dieselbe Entschlossenheit, die sie sechs Jahrzehnte zuvor bewiesen hat, als sie ihrem Ziehvater, einem Autohändler und dem Lebensgefährten ihrer geschiedenen Mutter, als 18-Jährige den VW Käfer zurückgab, den er ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, und ihn stattdessen davon überzeugte, sie für zwei Jahre nach Amerika ziehen zu lassen. Hollywood, Manhattan Beach – «haben Sie den Film ‹Barbie› gesehen? Das war mein Leben».
Jil Sander«Kalifornien gab mir eine Ahnung von der Leichtigkeit, die mir in der europäischen Mode fehlte»
Nach ihrer Rückkehr arbeitete Jil Sander als Moderedaktorin für «Constanze» und «Petra». Weil ihr die Kleidungsstücke bei den Modeshootings missfielen, entwarf sie kurzerhand selbst eine Kollektion. Und machte sich mit gerade einmal 24 Jahren selbstständig, um an der Hamburger Milchstrasse ihr erstes Ladengeschäft zu eröffnen.
Nähen kann sie bis heute nicht, aber «gucken», wie es im Buch heisst. Die Zeit in Übersee habe sie «amerikanisiert», sagt Jil Sander, mutig gemacht. Insbesondere das «entspannte Kalifornien» habe sie geprägt: «In der Mode gibt es immer auch das Ostentative, Überladene, vor dem ich in meiner Jugend nach Amerika geflüchtet bin. Kalifornien gab mir eine Ahnung von der Leichtigkeit, die mir in der europäischen Mode fehlte.»
Dort habe sie gesehen, dass es auch anders geht, dass Frauen sich wie Männer für Understatement entscheiden können und dadurch freier und beweglicher werden. Mode sollte «nicht behindern, auch nicht in der Karriere», was besonders für Frauen ein Problem gewesen sei.
Furchtlos, ja «gigantomanisch»
Jil Sander weiss, wovon sie spricht. 1989 kotierte sie ihr Unternehmen an der Frankfurter Börse und war damit die erste Frau an der Spitze einer deutschen Aktiengesellschaft. Furchtlos sei das gewesen, «gigantomanisch», wie Sander rekapituliert, «ich war schliesslich nicht LVMH». Aber sie habe schon immer gross, global gedacht. Und sich zu behaupten gewusst, obwohl sie doch eigentlich scheu, sanft, harmoniebedürftig sei.
«Ich sah zart aus, alle wollten mir immer helfen – und ich habe mich darauf verlassen», gesteht sie. Zu ihren Weggefährt:innen gehören und gehörten Franca Sozzani, die 2016 verstorbene ehemalige Chefredaktorin der italienischen «Vogue», sowie deren Schwester und 10-Corso-Como-Gründerin Carla Sozzani, mit der sich Sander noch heute austauscht, der 2019 verstorbene deutsche Jahrhundertfotograf Peter Lindbergh und Anna Wintour, die seit 1988 auf dem Thron der amerikanischen «Vogue» sitzt.
Auch die Unterstützung ihrer zuletzt fast 500 Mitarbeitenden war ihr sicher. Alle seien sie engagiert gewesen, begeistert ob ihrer Arbeit, hätten sich bei Erfolgen für sie gefreut. Und was war Jil Sander für eine Chefin? Eine nahbare, klinkt sich ihre langjährige Mitarbeiterin Sandra Purificato ins Gespräch ein – um Jil Sander im nächsten Moment zu siezen.
«Vielleicht muss man dirigieren, um so weit zu kommen wie Jil Sander»
Aber man glaubt ihr das mit der Nahbarkeit, man spürt es. «Ich wollte nie im Glashaus sitzen», bestätigt Jil Sander. Sie habe ihren Mitarbeitenden viel Vertrauen geschenkt. Aber auch nichts dem Zufall überlassen: «Wenn es mir um etwas geht und ich mich auf das Ergebnis freue, gibt es nur den Weg der minutiösen Kontrolle», sagte sie der «Süddeutschen Zeitung» anlässlich ihres runden Geburtstags letztes Jahr.
Und uns: «Je mehr Erfahrungen ich gesammelt habe, desto sicherer ist mein Urteil geworden. Deshalb nimmt meine Kompromisslosigkeit im eigenen Kompetenzbereich eher zu.» Darum entwickelte Jil Sander ihre Stoffe selbst, darum liess sie jede Stoffrolle checken, bevor in den Produktionsstätten Mode daraus wurde.
Darum wollte sie bei der Bildauswahl für diese Seiten mitreden. Böse Zungen würden von Micromanagement sprechen, von Pedantismus gar, sie nennt es «conduction» – Leitung. Vielleicht muss man dirigieren, um so weit zu kommen wie Jil Sander. So oder so: «Ich bin gelassener geworden.»
Nicht nur komfortabel sollten ihre Entwürfe sein, sie sollten die Trägerin auch unterstützen: «Wie der Bildhauer Richard Serra und andere Künstler meiner Zeit habe ich dreidimensional entworfen», sagt Sander. «Denn Kleidung, die Raum einnimmt und aus jeder Perspektive interessant aussieht, verschafft der Trägerin mehr Präsenz.» Wer hingegen «falsch angezogen ist, wirkt schnell schwach». In ihrer Mode sollten Frauen sich stark fühlen.
Auf leise Art überraschen
Die Herausforderung sei gewesen, diese Präsenz in der Reduktion, ohne Dekoration, allein durch Schnitt und Silhouette zu schaffen. «Ich möchte auf leise Art überraschen, durch attraktive Proportionen, innovative Stoffe», sagt Sander. Sie hat sich damit den Spitznamen Queen of Less eingehandelt, mit dem sie nie so richtig einverstanden war – gerade bei der Qualität konnte es ihr schliesslich nie genug sein.
«Während andere auf Sex setzten, hiess es bei Jil-Sander-Schauen: ‹Keine Hüften!› oder ‹Denk an deine Mutter!›»
Dann, in den Neunzigerjahren, während Versace, Tom Fords Gucci und unzählige weitere auf Sex setzten, auf Models mit vollen Lippen, langen Wimpern und noch längeren Nägeln – das mit den gemachten Lippen und den langen Nägeln irritiert Jil Sander bis heute –, entliess sie ihre Models mit Anweisungen auf den Laufsteg wie «Keine Hüften!» oder «Denk an deine Mutter!».
Und selbst im Zeitalter von Social Media, in dem sich die Versessenheit auf Eyecatcher noch verschärft hat, hält sich Jil Sander an das, was sie unter dem Begriff Purity zusammenfasst. Die heutige Clean Girl Aesthetic, ein auf Social Media zur Schau gestellter, beinahe absoluter Minimalismus, müsste Jil Sander also zusagen? «Man muss aufpassen, dass es nicht zu spiessig wird», winkt sie ab.
Sie habe nicht nur «die kalifornische Idee für unsere Witterungsverhältnisse weitergedacht», sagt Sander, als Hamburgerin sei sie auch vom britischen Stil beeinflusst gewesen. Sie mochte die exklusiven Stoffe der Londoner Savile Row, an der sie 2001 einen eigenen Flagshipstore eröffnete, und die Tailored Jackets, zu denen diese verarbeitet wurden.
Sie entwarf selbst Jacketts, nur leichtere, reduzierte die Einlagenstärke. Im Gespräch betont sie, was längst klar sein dürfte: Dass sie trotz dieses Faibles mehr war als Anzugsdesignerin, mehr schuf als Businessmode.
Vor der Eröffnung ihres Flagshipstores in London etablierte sie einige andere, darunter 1993 ihren ersten an der Pariser Avenue Montaigne, auf den sie bis heute besonders stolz ist: Eine «regelrechte Kathedrale des Purismus», wie die «Süddeutsche Zeitung» schrieb, ein Belle-Époque-Gebäude mit einem Atrium theatralischen Ausmasses, wie es in der Werkschau heisst; deckenhohe Fenster, Wendeltreppe, viel Weiss, viel Licht – nichts darin habe an die intimen Schatzkästchen erinnert, in der Pariser Modehäuser zu jener Zeit ihre Kundschaft empfingen. Und auch die in der Decke verankerten eckigen Kleiderstangen sollen eine Innovation Jil Sanders gewesen sein.
Hamburg als Teil der Jil-Sander-DNA
Ihre Defilees veranstaltete Sander wider Erwarten nicht in Paris – jedenfalls nicht lange –, sondern in Hamburg: Die Französinnen konnten mit ihrer reduzierten Ästhetik zunächst nichts anfangen, heisst es im Buch. Also zitierte sie die Einkäufer:innen und Journalist:innen aus aller Welt in die Hansestadt, die Teil der Jil-Sander-DNA wurde. Doch die Designerin zeigte nicht nur abseits der Modemetropolen, sondern auch ungewöhnlich früh für die jeweilige Saison, die Pre-Kollektionen habe sie praktisch erfunden.
Früh erkannte Jil Sander auch, dass man das grosse Geld nicht mit Mode verdient. Schon 1979 setzte sie auf Kosmetik. «Ich habe die Hälfte meines Lebens in Flugzeugen zugebracht», sagt sie, «die Flugzeugluft hat meine Haut ausgetrocknet.» Dagegen wollte sie aber nicht mit Tüten voller Produkte ankämpfen. Und schon gar nicht mit solchen, die nicht hübsch aussahen.
Sander fand: Das mit der Kosmetikmarke «mache ich dann lieber selbst» – und lancierte mit dem britischen Pharmaunternehmen Beecham die Duft- und Pflegeserie Jil Sander Woman Pure, die sie mit ihrem eigenen Gesicht bewarb und «die uns unternehmerisch sehr geholfen hat». Wie ihre Designs waren Sanders Düfte leicht, nicht so schwer wie die französischen jener Zeit, die «wochenlang in der Luft hingen».
1999 dann das folgenschwere Joint Venture mit Prada, um neben Mode, Kosmetik und Parfum noch mehr Accessoires zu verkaufen, die besonders umsatzstark sind. Nach wenigen Monaten verliess Jil Sander das Gemeinschaftsunternehmen im Streit – um im Mai 2003 als Kreativdirektorin zurückzukehren, weil dessen Umsätze ohne sie eingebrochen waren.
2004 verliess Sander das Unternehmen erneut, sie konnte sich mit Prada nicht auf eine strategische Ausrichtung des Hauses einigen. Ihren Namen musste sie zurücklassen.
Wie ist es für eine, die «ohne Selbstbestimmung nicht leben» kann, wie sie sagt, die 1943 als Heidemarie Jiline Sander in einem Luftwaffenlazarett nordwestlich von Hamburg zur Welt kam und in der Nachkriegszeit aufgewachsen war, in der ebenjene Selbstbestimmung einfacher zu erlangen gewesen sei als heute, «weil jeder spürte, dass Veränderung nötig ist», das Markenrecht am eigenen Namen zu verlieren?
«Emotional», sagt Sander. «Wenn man ein Unternehmen selbst gegründet und gestaltet hat, trennt man sich nicht leicht davon. Es ist wie ein Kind, um das man sich weiter sorgt.» Aber sie sei mit ihrer Entscheidung im Reinen, habe das Geschehene verarbeiten können. Man glaubt ihr das. Auch wenn man spürt, dass da eine tiefe Wunde heilen musste. Aber anstatt zu brechen, anstatt bitter zu werden, wie einige vermuteten, hat Sander sich in neue Projekte gestürzt.
«Mein ganzes Leben war betreut. Ich konnte nicht mit einem Geldautomaten umgehen»
Projekt Alltag zum Beispiel. Wenn sie etwas bereue, dann, dass «die intensive Arbeit mich so in Anspruch genommen hat, dass ich kaum gelernt habe, mich mit Alltäglichem zurechtzufinden». Jene Hälfte ihres Lebens, die sie nicht über den Wolken schwebte, verbrachte sie in Hotels, chauffierte ein Fahrer sie von Termin zu Termin: «Mein ganzes Leben war betreut. Ich konnte nicht mit einem Geldautomaten umgehen und war nie durch einen Supermarkt spaziert.»
Das änderte sich, als Jil Sander ihr Unternehmen verliess. Sie staunte, als sie zum ersten Mal in einem Rewe stand: «Wer kauft all diese Joghurts, den Käse, das Fleisch?» Auch wenn sie noch immer nicht kocht, sich lieber um die Tischdekoration kümmert: «Ich bin praktischer geworden.»
Jil Sander lacht. Nachdem sie keinen Chauffeur mehr hatte, mehr von ihrer Umgebung mitbekam, stellte sie fest, dass sie all die Jahre – wenn sie zwischendurch in Paris war – gleich hinter dem Le Bon Marché gearbeitet hatte.
Als sie 2012 ein zweites Mal zu Jil Sander zurückkehrte, das unterdessen mehrfach verkauft wurde und zwischenzeitlich unter der kreativen Leitung von Raf Simons stand, eröffnete sie im Pariser Luxuskaufhaus einen ihrer vielen Jil-Sander-Shop-in-Shops.
Im Herbst 2013 verliess sie das Unternehmen ein letztes Mal, diesmal aus privaten Gründen. Es gebe im Leben Konstellationen, «die zu schwierigen Schritten zwingen», sagt Jil Sander über diese Zeit. 2014 starb ihre langjährige Lebensgefährtin Angelica Mommsen.
Ein kollegiales, herzliches Verhältnis
Hat sie sich die Kollektionen, die nach ihren kamen, angesehen? Natürlich, sagte Sander in einem Interview, es stehe ja ihr Name an der Tür. Gefallen sie ihr? «Ich beurteile andere Designer nicht», sagt sie beim Gespräch in Hamburg, «ich mische mich nicht in ihre Entscheidungen ein.»
Wer glaubt, aus diesen Sätzen Missgunst herauszuhören, irrt. Als die Autorin Jil Sander berichtet, eben erst Lucie und Luke Meier, die aktuelle Designspitze der Marke Jil Sander, zum annabelle-Interview getroffen zu haben, erkundigt sich Sander beinahe mütterlich nach ihnen. Die drei verbinde ein kollegiales, herzliches Verhältnis, erzählt sie.
Die Meiers hätten sie bei ihrer Einzelausstellung «Präsens», die 2017 und 2018 im Frankfurter Museum für Angewandte Kunst gezeigt wurde, besucht – und ihr vorab ermöglicht, im Jil-Sander-Atelier Musterteile fertigen zu lassen, weil sie nach dem Zerwürfnis mit Prada keinen Zugang mehr zu ihrem Archiv hatte. Wie Jil Sander beschreiben auch Lucie und Luke Meier ihre Entwürfe am liebsten mit dem Begriff der Purity, Reinheit.
Mode für alle
All die Jahre hätten sich die Leute immer wieder beklagt, dass ihre Kollektionen zu teuer seien, erzählt Jil Sander – und sie fast ein ganzes Arbeitsleben lang gepredigt, man solle sich halt einfach ein Stück daraus gönnen. «Aber dann war ich plötzlich arbeitslos», sagt sie. Und entwarf mehrere Kollektionen für den japanischen Moderiesen Uniqlo, zuletzt 2022, um ihre Mode nicht nur einem «kleinen Kreis von Luxuskunden», sondern unter dem Label +J «ganz demokratisch allen anzubieten».
«Quality for all» lautete der Slogan, Qualität im Design, in der Stoffentwicklung, der Verarbeitung; Sander trägt während des Interviews einen blauen Blazer und eine blaue Hose aus einer +J-Kollektion von vor zehn Jahren. Und während sich andere so weit wie möglich von schneller Mode distanzieren, proklamiert das Buch, Jil Sander habe mit +J «die Parameter der Fast Fashion neu geschrieben».
Stets in der Gegenwart
Das Buch. Soll es ihr Lebenswerk, ihr Vermächtnis festhalten? Die Vergangenheit, sie hat Jil Sander doch eigentlich nie interessiert. Nun, da sie für ihr Buchprojekt zwei Jahre darin wühlen musste, hat sie endgültig die Nase voll davon – nur auf die alten Fotos von sich greift sie gern zurück, fotografieren lassen will sie sich nicht mehr. Schon ihre Mutter habe stets in der Gegenwart gelebt, erzählt Sander.
Und sie selbst sei der Jetztzeit immer einen Schritt voraus gewesen. «Meine Kollektionen wollten frei sein von den Schlacken der Vergangenheit», sagt sie, auf keinen Fall «von gestern», ja, gar «eine Visitenkarte der anbrechenden Zukunft». Die Nachkriegszeit sei eine Gründer- und Pionierzeit gewesen, in der es «keinen übermässigen Respekt vor Traditionen gab».
In diesen Tabularasa-Jahren lagen Neuanfänge in der Luft.» Im Bildband lässt sich Jil Sander ausserdem mit einem Satz zitieren, der nicht unumstritten sein dürfte in einer Zeit, die sich, wie es ebenfalls heisst, «das Konsumieren abgewöhnen will»: «Man sucht das Neue, wenn man in den Kleiderschrank schaut.»
«Sie könne immer noch sehr gut gucken»
Jil Sanders Buch ist eine Werkschau, ja, aber keine Retrospektive auf ein Lebenswerk. Noch nicht. «Ich fühle mich nicht alt», sagt Sander. «Noch habe ich keine Rückenschmerzen, noch vergesse ich nichts.» Und das Wichtigste: Sie könne immer noch sehr gut gucken.
Nicht nur, dass sie gerade an mehreren Designprojekten bastle, über die sie noch nicht sprechen darf, von denen eines aber kurz vor dem Abschluss steht – auch privat bleibe sie Designerin, nehme ihre Umwelt bewusst und kritisch wahr. Sie fahre gern Auto, erzählt sie, interessiert sich für Fahrzeugmodelle. Sie will die Dinge optimieren, darum werde ihr nie langweilig.
«Work in progress» ist auch ihr Garten. Nicht der vor der Patriziervilla, auf den wir blicken, sondern der auf ihrem Landsitz in Schleswig-Holstein, der selbstredend mehr Park ist als Garten: Er erstreckt sich über mehrere Hektaren, über wie viele, soll an dieser Stelle nicht stehen.
Nur so viel: Der Chefgärtner von King Charles, damals noch Prince, hat vor mehr als vierzig Jahren den ersten Teil bestellt, ein gemeinsamer Freund, Moritz Landgraf von Hessen, hatte ihn mit Sander und Mommsen bekannt gemacht. Und wo andere Homestorys von sich schiessen lassen, bespricht Jil Sander ihren Garten mit dem Kunstmagazin «Apollo».
Ohne Aufnahmegerät aber mit viel Zeit
Wem das Vergangene zuwider ist wie Jil Sander, wird ungern lesen, dass sich eine Begegnung mit ihr anfühlt, als fände sie in einer längst vergangenen Zeit statt. Nicht, weil das Aufnahmegerät nicht mitlaufen darf und man stattdessen alles von Hand notieren muss. Sondern weil es selten geworden ist, dass eine Journalistin mit ihrer Gesprächspartnerin nicht um jede Viertelstunde feilschen muss, dass die sich wahrhaftig Zeit nimmt für einen. Zweieinhalb Stunden.
Jil Sander führt durch mit zeitgenössischer Kunst behangene Räume, zeigt Videos und Bilder vergangener Kollektionen. Darunter ihre allerletzte für Jil Sander, die Sommerkollektion 2014. Eine Lederjacke sticht besonders ins Auge, schwarz glänzendes Leder, innen Filz, Double Face, Form in Perfektion.
Ein Kompliment der Autorin quittiert Jil Sander mit der Bitte an ihre Mitarbeiterin, sie möge das Stück doch aus dem Atelier holen – man müsse eine Jacke schliesslich anprobieren, fühlen. Sie sitzt perfekt. «Like a million dollars», flötet Jil Sander. Zehn Jahre alt ist das Design, aber es hat kein bisschen an Gültigkeit verloren. Es könnte von gestern sein. Oder, und das liest Jil Sander sicher lieber: von morgen.
Jil Sander, Irma Boom, Ingeborg Harms, Nadine Barth: «Jil Sander by Jil Sander». Prestel Verlag, Oktober 2024, 360 Seiten, ca. 130 Fr.