Eine Tasche mit Kultur und Tradition: Die Noé von Louis Vuitton
- Text: Philipp Tingler; Fotos: Kai Jünemann
Die Noé-Tasche von Louis Vuitton hat Ikonen-Status. Was macht diesen Nimbus aus? Unser Autor ging in Paris auf Spurensuche.
Mode ist Pop. Sie schwankt hin und her mit dem Zeitgeist. Heute mehr denn je. Und über dem Gewoge stehen: Ikonen. Ikonen sind Klassiker, also von zeitloser Eleganz, aber sie sind noch mehr: Sie sind Signal und Symbol, auf den ersten Blick erkennbar, nicht nur für Eingeweihte. Sie stehen für etwas. Zum Beispiel die Noé-Tasche von Louis Vuitton. Eine Tasche, die eigentlich mehr ein Beutel ist und im Grunde ein bisschen aussieht wie ein Hafersack.
Die Noé wurde 1932 entworfen, ursprünglich, um fünf Champagnerflaschen zu transportieren, und dafür hat sie wahrscheinlich auch noch Sammy Davis Jr. gebraucht, die Rat-Pack-Legende der Sechzigerjahre, die mit der Tasche gesichtet wurde. Doch dies ist (in der Regel) nicht mehr der Zweck, zu dem junge Damen sie heute einsetzen. Heute wird sie beispielsweise von Julia Roitfeld, Model und Tochter der früheren «Vogue»-Chefin Carine Roitfeld, benutzt, um zur Fashion Week ihre Siebensachen mitzunehmen. Man sah Reese Witherspoon mit der Noé, ebenso Halle Berry oder Leighton Meester aus «Gossip Girl».
Le Sac Noé ist speziell beliebt bei jüngeren Vuitton-Kundinnen, besonders übrigens in der Deutschschweiz, wie ich aus gut unterrichteten Kreisen erfahre, als mich die annabelle-Redaktion anruft und fragt, ob ich Patrick-Louis Vuitton besuchen gehen will, den Ururenkel von Louis. Natürlich will ich das! Obschon ich, dies will ich gleich zu Anfang einräumen, ein leicht ambivalentes Verhältnis zum Hause Louis Vuitton habe. Wiewohl man dort eigentlich immer freundlich zu mir war und mich an den America’s Cup am Öresund eingeladen hat und zur Eröffnung des Flagship Store an die Champs-Elysées. Mein Zwiespalt rührt eher daher, dass ich im geistlosen Markenfetischismus der Achtzigerjahre aufgewachsen bin, und in dieser Zeit und auch noch nachher war das Monogramm-Muster von Louis Vuitton einfach ein bisschen – überpräsent, um es milde zu formulieren. Jedenfalls kein Ausweis von Distinktion. Vielmehr ein Signum dessen, was Thorstein Veblen einst Geltungskonsum nannte.
Monogramm-Muster sollte vor Fälschung schützen
Das Monogramm-Muster stammt übrigens nicht von Louis Vuitton selbst, sondern, ebenso wie das 1896 entworfene LV-Signet, von Vuittons Sohn, Georges Vuitton – der mit diesem neuen Design ironischerweise Fälschern das Handwerk erschweren wollte. Bis heute wird das Monogramm-Muster gern mit Louis Vuitton schlechthin gleichgesetzt – aber wird man damit der Marke gerecht?
Eine gute Gelegenheit zu sehen, wofür die berühmten Initialen tatsächlich stehen, ergibt sich beim Besuch in Asnières. Der Pariser Vorort Asnières-sur-Seine, mit dem Taxi eine runde Dreiviertelstunde vom Herzen der französischen Kapitale entfernt, ist der Stammsitz von Louis Vuitton. Im Jahr 1859 errichtete Louis hier seinen Workshop (man sagt bei Louis Vuitton immer noch Workshop, nicht etwa Fabrik) und dann, etwas später, auch den Familienwohnsitz. Bis 1977 war Asnières sogar die einzige Produktionsstätte weltweit. Das ist natürlich längst anders. Heute werden hier vor allem Spezialanfertigungen und Schrankkoffer sowie die Taschen aus exotischen Ledern und für Modeschauen gefertigt.
Im Workshop, wo bei den Einzelstücken tatsächlich noch viel Handarbeit involviert ist (und ein strenges Fotoverbot gilt), werde ich von Gwenaëlle, der PR-Dame, in die famose Lederkammer geführt. Dort liegen Lagen des hellen Rindsleders, das bei Louis Vuitton klassischerweise für Griffe, Riemen und Aufsätze verwendet wird und an dessen Alterung und goldener Patina man unter anderem das Original erkennt. Dort lagern ebenfalls exotische Tierhäute, blind machend teuer: Strauss, Rochen, Python, Alligator. Auf der Louis-Vuitton-Homepage werden Herrenschuhe in Alligator angeboten, die 8300 Dollar kosten.
Ich bin ein leidenschaftlicher Anhänger der freien Marktwirtschaft, aber ich finde, Alligatoren sollten im 21. Jahrhundert nicht mehr für Schuhe herhalten müssen, und Leute, die 8300 Dollar für solche Schuhe ausgeben, sollten verpflichtet werden, den gleichen Betrag an eine karitative Organisation ihrer Wahl zu spenden. Oder ein paar Tage lang am Rand der Autobahn aufzuräumen. Einleuchtend erscheint mir dagegen die Grundphilosophie der Marke Louis Vuitton, die mir Gwenaëlle wie folgt erläutert: «Alles, was wir machen, muss durch maximal zwei Personen bewegt werden können. Wir machen keine Möbel. Es geht um Mobilität.»
Über philosophische Fragen würde ich dann auch gern mit Patrick-Louis Vuitton sprechen, und zwar im benachbarten Familienhaus der Vuittons, das eigentlich aus zwei zusammengebauten Häusern besteht. Das Anwesen wird heute vor allem für Repräsentationszwecke benutzt, und die unteren Räume mit ihren organisch und floral anmutenden Stuckaturen und bunten bleiverglasten Fenstern sind ein wohlerhaltenes Stilbeispiel des Art nouveau, eine Museumszelle der Belle Époque. Ich selbst kann Jugendstil nicht leiden, aber dafür kann ja Louis Vuitton nichts. Es riecht auch ein bisschen wie im Museum. Entgegen der Maxime, dass man keine Möbel herstelle, stehen hier einige historische Schrankkoffer, die zu Truhen umfunktioniert wurden. Was übrigens nicht schlecht aussieht. Ich hätte gern so einen.
Schrankkoffer mit eingebauter Kaffeemaschine
Patrick-Louis Vuitton, Ururenkel von Louis Vuitton, ist in Asnières geboren und aufgewachsen. Er hat eine traditionelle handwerkliche Ausbildung zum Koffermacher hinter sich, absolviert im damals noch familieneigenen Workshop, natürlich, und ist seit rund vierzig Jahren für die Reisegepäck-Spezialanfertigungen zuständig. Das heisst für Sachen wie Schrankkoffer mit eingebauter Kaffeemaschine und solarbetriebenem Fernseher. Oder ein Köfferchen für die 40 iPods von Karl Lagerfeld. Die Klientel ist reich, aber ansonsten gemischt. Das, wie ich finde, Sympathische an Patrick-Louis Vuitton ist, dass er, jenseits von Glitz und Glamour der Monogramm-Welt, die Fragen des Gepäcks, namentlich der Einzelanfertigungen, als Fragen der Handwerkskunst betrachtet – was sie sind. Qualität, Tradition und Innovation sind seine Werte. Marketing erklärt er gern mal für überflüssig.
Ich will mit Monsieur Vuitton über Stil sprechen und das, was ein Objekt wie beispielsweise die Noé-Tasche seiner Meinung nach zu einer Stil-Ikone werden lässt. Das Ursprungsmodell der Noé, entworfen von Gaston Vuitton, dem Enkel von Louis, wurde in Asnières gefertigt. Wie erklärt sich Patrick-Louis Vuitton den Erfolg des Sac Noé, gerade auch in der Deutschschweiz?
Nun, zur Deutschschweiz äussert sich Monsieur Vuitton nicht weiter, vielleicht fällt das, wie so vieles hier, bereits unters Geschäftsgeheimnis. Sehr dezidiert hingegen erklärt er den generellen Ikonen-Status der Noé mit der schlichten Grundidee der Tasche. Patrick-Louis Vuitton selbst hat noch das Noé-Exemplar seiner Grossmutter und braucht es für den Transport von Flaschen, aber das Überzeugende der Noé sei ihre simple Vielseitigkeit, man könne sie ebenso gut als Sac de ville benutzen.
Bei Ikonen der Mode ist eine Zeitlosigkeit involviert, die auch viel mit Nutzen, Funktionalität und vielseitiger Einsatzfähigkeit zu tun hat – wodurch die reine Mode eben quasi aufgehoben wird. Die Noé als solche wurde über die Jahre zwar sanft modifiziert und kontinuierlich verbessert, gemäss dem Stand der Technik und den Bedürfnissen der Kunden (alles Weitere fällt wieder unters Geschäftsgeheimnis), doch, so sagt Patrick-Louis Vuitton, wenn man heute die Noé seiner Grossmutter neben ein aktuelles Modell stelle, sei das immer noch ziemlich die gleiche Tasche.
Es geht also einerseits um Konstanz und Tradition, andererseits um Brauchbarkeit – und schliesslich auch um die Trägerin. Denn zur Ikone wird ein Stück auch durch Geschichte, die Summe der vielen Episoden, die wir mit ihm verbinden, durch die Zeiten und Epochen und Menschen, die es besitzen. Kurz: Es geht um die Verdichtung von gestern, heute, morgen in einem Objekt. Die Noé, sagt Patrick-Louis Vuitton, sei ein Sinnbild für diese Union von Tradition und Innovation.
Für die Rückfahrt an die Champs Elysées teile ich mir den Wagen mit Gwenaëlle, der PR-Dame. Ich bemerke, mir käme Monsieur Vuitton, der offenbar selten lacht und von dem ich gelesen habe, dass er eigentlich Tierarzt werden wollte, ein wenig melancholisch vor. Was die PR-Dame natürlich überhaupt nicht findet. Es gibt keine Melancholie in der Welt der PR. Vielleicht, so denke ich, ist es für so einen traditionsbewussten Mann wie Patrick-Louis Vuitton auch nicht leicht zu verkraften, dass seine Familie das Unternehmen Ende der Achtzigerjahre verkaufen musste, weil sie völlig zerstritten war, wie man liest. Louis Vuitton gehört seitdem zum Luxusgüterkonglomerat LVMH, das die Mehrheitsrechte an über sechzig verschiedenen Luxusmarken hält, darunter Givenchy und Fendi.
Wir besuchen den Louis-Vuitton-Flagship-Store an den Champs-Elysées. Der Laden ist sehr gut frequentiert. Viele Touristen. Man kann hier ganz anschaulich die Expansion der Marke studieren: Louis Vuitton verkauft inzwischen unter anderem auch Schmuck, Uhren, Sonnenbrillen und Bekleidung für Damen und Herren. Als ich Gwenaëlle darauf anspreche, sagt sie: «Qualität und Hingabe sind die Werte unserer Marke.» «Aber mit diesem Motto», erwidere ich, «könnte man doch auch noch Klobürsten und Benzin anbieten.»
Qualität, Tradition & Innovation
In der Tat dürfte das Geschäft mit Sonnenbrillen, Gürteln und so weiter zu den umsatz- und gewinnträchtigsten Feldern gehören, wie bei allen traditionellen Luxusmarken, deren eigentliche Produkte sich nur reiche Leute leisten können. Andererseits trägt das natürlich zur Allgegenwart des Louis-Vuitton-Monogramms bei, und diese Schwemme ist, wie ich nun aus eigenem Erleben sagen kann, nicht repräsentativ für das, wofür Louis Vuitton als Marke im Grunde stehen will und sollte. Nämlich die Werte, mit denen Monsieur Vuitton 1854 sein Geschäft begann und die mir sein Ururenkel Patrick-Louis zitiert hat: Qualität, Tradition und Innovation.
Es gibt heute also quasi zwei Louis Vuitton. Einmal den ikonischen Koffer- und Taschenmacher. Und einmal die globalisierte Ladenkette. Wahrscheinlich kann eins ohne das andere nicht leben. Und während ich mir dies so überlege, denke ich an jenen Moment in meinem Gespräch mit Patrick-Louis Vuitton, der eigentlich der enthüllendste war. Patrick zitierte seinen Urgrossvater George: Im Metier der Vuittons gehe es darum, den Kunden in die Lage zu versetzen, seine Besitztümer im bestmöglichen Zustand von A nach B zu bringen. Worauf ich fragte: «Aber ist der ganze Punkt des Reisens nicht auch der, Sachen hinter sich zu lassen?» Pause. Stille. Nach einigen Sekunden sagt Gwenaëlle, die freundliche PR-Dame, die auch als Übersetzerin amtet (Herr Vuitton spricht, wie die meisten Franzosen, nichts ausser Französisch): «Ich … verstehe nicht …?»
«Geht es nicht beim Reisen gerade darum», frage ich also erneut, «dass man eben nicht sein ganzes Leben mit sich schleppt, sondern Neues entdeckt, aufbricht zu unberührten Horizonten und auch mal Sachen und Besitz hinter sich lässt?» (Ich meine, wenn ich immer meine 40 iPods um mich haben muss, kann ich doch auch gleich zuhause bleiben.) Darauf antwortet Monsieur Vuitton: «Jeder Mensch macht Sachen eben anders. Ich zum Beispiel mache Notizen mit Stift und Papier, Sie benutzen dafür Ihr iPhone.» Abgesehen davon, dass sein Ton wenig Zweifel daran lässt, welche Notizmethode er für die stilvollere hält, verrät diese Antwort vor allem eins: Die Frage gefällt ihm nicht. Und mir gefällt zunächst die Antwort nicht, weil ich sie banal finde. Bis mir klar wird: Das war keine Philosophen-, sondern eine Handwerkerantwort. Und das finde ich wieder gut.
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Die Noé von Louis Vuitton