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Eine Reise nach Lappland: The Iglu Has Landed

Stil

Eine Reise nach Lappland: The Iglu Has Landed

  • Text: Olaf Tarmas; Fotos: Axel Martens

Ein Kino aus Schnee, Iglus aus Glas, Wälder wie aus Zuckerguss: Hightech und Wildnis wohnen in Lappland ganz nah beieinander.

Eine halbe Stunde nachdem der Film begonnen hat, fängt es an zu schneien. Erst auf der Leinwand, auf der ein Film über samische Nomaden in Russland läuft. Dann auch im Kino. Ganz sachte rieselt es aus dem Himmel, die kleinen Flocken setzen sich auf Wimpern und Pelzmützen, tanzen im Lichtstrahl des Filmprojektors. Ein magischer Moment, wie er wohl nur hier, in Inari, möglich ist: Denn das Skábmagovat, das internationale samische Filmfestival, findet zu einem Teil openair statt.

Auf einer kleinen Lichtung im Wald, in einem Kino aus Schnee. Die Wände, die aufsteigenden Sitzreihen, der Boden: alles aus kaltem Weiss. Sogar die Leinwand besteht aus einer gepressten Schneefläche, auf der einzelne Kristalle funkeln – eine exzellente Projektionsfläche für Kinofilme. Die Sitzflächen sind mit Rentierfellen ausgelegt, an einer Bar aus Eis gibt es heissen Rumgrog, und für kinosaalübliche Dunkelheit muss niemand extra sorgen: Das 459-Seelen-Dorf Inari liegt 200 Kilometer über dem Polarkreis – Ende Januar, wenn das Filmfest startet, wird es dort ohnehin nur für einige Stunden am Tag hell.

Willkommen in Lappland!

Eine Reise in den nördlichsten Zipfel Europas, zu einem der letzten indigenen Völker des Kontinents – das ist der Besuch bei einer Kultur, die bei aller Technik noch immer nah an den Elementen siedelt, und sei es auf so spielerische Weise wie mit einem Schneekino. Zwar tummeln sich samische Künstler längst auf allen Feldern moderner Kultur, von Rap-Musik bis Möbeldesign. Doch der Bezug zur arktischen Wildnis und zu den alten samischen Traditionen schimmert immer durch – auch in den Filmen, die auf dem Festival gezeigt werden. 

«Für uns Samen bedeutet die Natur unendlich viel, viele der Filme spielen in der Wildnis», sagt Festivaldirektor Jorma Lehtola, den ich auf dem Weg zur nächsten Vorführung begleite. Und: «Film ist schon seit Jahren die stärkste Ausdrucksform der samischen Kultur, selbst in Inari wird Film an der Schule unterrichtet.» Vor zwölf Jahren gründete der Journalist das Festival, bei dem Filme von Völkern aus aller Welt gezeigt werden sollten, «die eine ähnlich naturbasierte Lebensweise haben wie wir». Ihm war gleich klar, dass diese nicht in einem normalen Kino gepielt werden könnten. Und so muss man auf dem Weg zur Vorführung erst mal durch den verschneiten Wald gehen.

 Applaus von 200 Handschuhpaaren

Es ist wie eine kleine Meditation. Verlaufen kann man sich nicht, Kerzen und Eisskulpturen weisen den Weg. Das Publikum, eingemummt in dicke Daunenoveralls, sieht nur auf den ersten Blick uniform aus. Unter Fellmützen und Kapuzen verbergen sich neben Einheimischen auch Inuit aus Kanada, Indios aus dem brasilianischen Regenwald, Aborigines aus Australien. Eine Multikultimischung aus allen Klimazonen der Erde, auf Eis gelagert. Am Ende der Vorführung produziert das Publikum ein seltsam stampfendes Geräusch, das an eine Rentierherde im Schnee denken lässt: Es ist der Applaus von 200 dicken Handschuhpaaren und trampelnden Füssen in Fellstiefeln.

Jorma Lehtola stellt mich meiner Sitznachbarin vor, der australischen Aborigine-Filmemacherin Darlene Johnson. Ist ihr nicht ein bisschen kalt bei Minus 20 Grad? «Ach, zuhause im Outback sind es jetzt über 45 Grad, da finde ich es hier herrlich erfrischend!», lacht sie. Und der Kulturschock? «Das ist das Erstaunliche», antwortet sie, «durch unsere enge Verbindung zur Natur und auch durch eine Geschichte, in der es viel Leid und Ausgrenzung gegeben hat, sind sich unsere Kulturen viel näher, als man denkt. Es gibt so etwas wie einen gemeinsamen spirituellen Nenner.» Unterdessen stapfen wir durch den Wald zur nahe gelegenen Siida, so die Bezeichnung für samische Siedlungen.

Modernes Museum

Doch uns erwartet kein Dorf, sondern ein riesiger, moderner Vielzweckbau aus Holz, Glas und Beton, in dem sich neben einem Kino- und Theatersaal auch das Museum der finnischen Samen befindet. Auch hier ist man meilenweit von einer verstaubten Folkloresammlung entfernt: Das Museum präsentiert sich in modernstem Design und mit einem raffinierten Ausstellungskonzept, das die gegenseitige Durchdringung von arktischer Natur und samischer Kultur herausstellt. Der fensterlose kreisrunde Hauptsaal ist in zwei Ringe unterteilt – aussen durchläuft der Besucher die Jahreszeiten der Polarregion, innen wird gezeigt, wie die Samen traditionell (und zum Teil auch heute noch) mit den extremen Bedingungen umgehen, mit Kälte, Dunkelheit und allzu kurzen Sommern.

«Ein ganz schön hartes Leben», entfährt es mir, als ich Fotos sehe, auf denen sich die Familie samt Kindern mit ihren Rentieren im Schnee abrackert, im Hintergrund eine armselige Erdhütte. «Aber nein», entgegnet Jorma Lehtola, «das Leben früher war weder leicht noch schwer. Es war normal. Hart erscheint es nur aus heutiger Sicht.» Der entscheidende Faktor, der dazu beitrug, dass die Samen im Lauf der Sechzigerjahre sesshaft wurden, war das Aufkommen von Schneemobilen, von denen das Museum einige Oldtimer zeigt. Erst sie erlaubten es den Samen, in festen Häusern zu wohnen und zugleich ihre halb wilden, umherziehenden Rentierherden zu überwachen.

 Blau-roten Sami-Tracht 

Natürlich gibt es längst auch Strassen hier oben, die sich zumeist schnurgerade durch die endlosen Wälder ziehen. Doch wer Lappland richtig kennen lernen will, wählt noch heute andere Fortbewegungsmittel als das Auto. Ich entscheide mich für einen Klassiker: den Rentierschlitten. Am nächsten Vormittag treffe ich mich mit Armi Palonoja, die einer alten Rentierzüchterfamilie entstammt und nebenbei Schlittentouren anbietet. Als ich zusammen mit einer kleinen Gruppe Touristen auf ihrer Farm ankomme, hat die stämmige Endvierzigerin in der typischen blau-roten Sami-Tracht schon eine Karawane für uns zusammengestellt.

Es ist ein besonders kalter Morgen, das Thermometer zeigt Minus 27 Grad, der Frost zwickt in der Nase, und das Material meiner Kunststoffwinterjacke beginnt seltsam zu knistern. Gut, dass Armi Daunenoveralls bereithält, in die man mitsamt seiner normalen Wintermontur hineinsteigt. Die Rentiere, die jeweils einen Schlitten ziehen sollen, sind überraschend zart gebaut. Ein wenig ängstlich blicken sie auf uns nahende Passagiere, wiegen nervös ihre verästelten Geweihe, die im Verhältnis zu den schmalen Köpfen viel zu gross wirken. Doch Armi hat alles im Griff. Sie ist der Boss, dem sich auch der eigensinnigste Rentierbock fügt – wer lebenslange Erfahrung im Zusammentreiben von grossen Herden hat, dem bereiten acht Rentiere keine Probleme. Und so führt Armi schon bald die untereinander vertäute Karawane an – zu Fuss.

Zuckergussskulpturen

Es wird eine entsprechend gemächliche Fahrt. Halb sitzen, halb liegen wir in den flachen, mit Fellen ausgekleideten Gefährten, die anmuten wie kleine Holzkähne ohne Kiel – Kufen würden im tiefen Schnee viel zu schnell einbrechen. Nach einem kurzen Anfangsruckeln schlingern wir hinter den Rentieren her. Anfangs finde ich das Tempo irgendwie albern – ich komme mir vor wie ein dick eingemummtes Kleinkind, das vom Mami durch den Wald gezogen wird. Doch dann lasse ich mich von der berückend schönen Landschaft hypnotisieren. Wie Zuckergussskulpturen muten die dick verschneiten Kiefern im lichten Wald um uns herum an, ihre knorrigen Stämme überfrostet, sanft leuchtend unter einem grauen Himmel. Immer weiter stehen die Bäume auseinander, immer zwergenhafter werden sie, bis die Szenerie nach einer Weile in baumlose Tundra übergeht.

Ich überlasse mich ganz der wohltuenden weissen Monotonie. Als die Sonne hervorkommt, kneife ich die Augen zusammen, so gleissend strahlt die tiefgefrorene Waldlandschaft mit einem Mal. Und wie ruhig es ist! Lautlos ziehen die Rentiere ihre Menschenfracht, nehmen nur ab und zu eine Schnauze voll Schnee auf. Doch dann wird die Stille von einer Sambamelodie durchbrochen – Armis Handy. Fluchend kramt sie es aus den Tiefen ihrer Tracht hervor. In den folgenden zwanzig Minuten telefoniert sie, während sie uns nebenbei zu einer Feuerstelle bugsiert, auf der sie Wasser kocht. Auch als ihr Handschuh dabei Feuer fängt, legt sie nicht auf, sondern steckt die qualmenden Finger lässig in den Schnee – Multitasking auf Samisch.

Samischen Schamanentrommel

«Sorry, morgen müssen wir einen Teil unserer Herde zusammentreiben», entschuldigt sie anschliessend ihr langes Telefonat. Während wir heissen Beerentee schlürfen, erzählt Armi von ihrer Familie und ihrer Arbeit. Und schliesslich, als es schon zu dämmern beginnt, singt sie für uns noch einen Joik. So nennen sich die seltsam kehligen, monotonen Gesänge der Sami, die «immer aus der Bewegung in der freien Natur entstehen», wie Armi erklärt. Ihre Stimme ist zart und durchdringend zugleich. Einen Teil des Gesangs begleitet sie auf einer samischen Schamanentrommel, deren pulsierender Klang ungemein beruhigend wirkt.

Manchmal, so erzählt sie, arbeite sie auch als Heilerin. «Ich habe schon als Kind bemerkt, dass meine Hände manchmal eine besondere Wärme ausstrahlen», sagt sie und berichtet, wie sie gelernt hat, diese Energie zu Heilzwecken zu nutzen. Während wir versunken ins Feuer starren, singt Armi einen Joik, dessen Melodie das Züngeln der Flammen imitiert. Bis zum Parkplatz, auf dem unsere Autos warten, sind es nur ein paar Minuten. Doch meine Gedanken haben sich längst in eine andere Zeit verabschiedet, weit vor Samba-Klingeltönen und beheizbaren Fahrersitzen …

 Hightech-Iglu

Dass moderne Technik und Naturerlebnis kein Gegensatz sein müssen, erfahre ich noch am selben Abend. Anstatt in einem Lavvu, einem samischen Zelt zu übernachten, probiere ich einen Hightech-Iglu aus – aus Glas. Ich finde ihn in Kakslauttanen, einige Kilometer von Inari entfernt. Zwanzig sanft glühende, Ufo-artige Kuppeln reihen sich dort auf einem tief eingeschneiten Waldgrundstück, auf dem Jussi Eiramo eine Art Resort betreibt. Der weissbärtige Finne ist so etwas wie der Tourismuspionier der Region – seit fast vierzig Jahren brütet er immer neue Ideen aus, die Reisende in diesen abgelegenen Winkel Lapplands locken sollen.

Lavvus, Schnee-Iglus, Luxusblockhäuser – Jussi bietet alle Formen der Übernachtung an. Doch nur aus den Glas-Iglus kann man am nächtlichen Himmel das Nordlicht beobachten, ohne sich bei bis zu 50 Minusgraden draussen die Füsse abzufrieren. «Man liegt gemütlich in seinem Bett, bei normaler Raumtemperatur, und hat zugleich einen Rundumblick in den Himmel», erklärt Jussi stolz seine Idee, die nach dem Tag im Schnee in meinen Ohren sehr plausibel klingt. Computerberechnete Scheibenmasse, speziell beheiztes Thermoglas – jahrelang haben Jussi und ein lokaler Ingenieur an der Iglu-Technik gefeilt, jetzt soll ich sie ausprobieren.

Glaskapsel

Er schliesst die Tür, ich bin allein in der seltsamen Glaskapsel, und die grosse Stille bricht aus. Ich kuschele mich in die merkwürdigerweise zebragemusterte Bettwäsche, knipse das Licht aus – und liege unter einem fein gesprenkelten Sternenhimmel. Das ist zwar wunderschön, doch hoffe ich insgeheim auf mehr, nämlich auf das ganz grosse Polarlichtkino. Immerhin geht nach einer Weile schon mal ein prächtiger Vollmond auf. Nur minutenweise nicke ich ein, denn ich will es auf keinen Fall verpassen, das Nordlicht, sollte es mich vielleicht doch noch beehren. Satistisch gesehen stehen die Chancen zu dieser Jahreszeit sehr gut. Doch als ich wieder aufwache, blaut schon der neue Tag.

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1.

So magisch kann eintönig sein.

2.

Auf dem offenen Feuer kocht schon das Wasser für den Beerentee …

3.

… den Rentierzüchterin Armi Palonoja für die Teilnehmer der Schlittenfahrt zubereiten wird.

4.

Hotelunterkunft der dritten Art: Die Glaskuppel überm Bett böte einen wunderbaren Blick auf das Polarlicht – wenn man es denn nicht verschliefe!

5.

Ganz der nomadischen Tradition entsprechend: Das Kino auf Zeit am Skábmagovat Festival im finnischen Inari. 

6.

«Film ist seit Jahren die stärkste Ausdrucksform der samischen Kultur», sagt Festivalgründer Jorma Lehtola.

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