Stil
Diese Frau strickt Ihren Pullover in einem Gefängnis in Peru
- Text: Andrea Bornhauser; Fotos: Carcel
… und wird dabei nicht als billige Arbeitskraft ausgebeutet. Kleine Labels wie Carcel aus Dänemark haben aus der Not eine Tugend gemacht und verbessern das Leben von Häftlingen wie Rocio.
»La mejor trabajadora» nennen sie ihre Mitinsassinnen, die beste Arbeiterin. Sie meinen damit die 27-jährige Rocio, die im Frauengefängnis von Cusco einsitzt, hoch oben in den peruanischen Anden. Weil sie ihrem früheren Freund, ihrer grossen Liebe, geglaubt habe, wie sie heute sagt. Damals, nach der Highschool, hat sie in seinem Kleiderladen in Cusco gearbeitet und ab und zu neue Frauen an ihn vermittelt. «Um im Laden mitzuhelfen», so glaubte sie. Bis zu dem Tag, als sie von der Polizei festgenommen und des Menschenhandels beschuldigt wurde. Die jungen Frauen, so hat sich herausgestellt, mussten in der Stadt als Prostituierte arbeiten. Ihren Freund hat Rocio nie mehr gesehen, er ist untergetaucht – sie hingegen muss noch weitere sechs Jahre ihrer insgesamt zwölfjährigen Haftstrafe absitzen.
Seit sie im Gefängnis für das dänische Highend-Label Carcel – einer Abwandlung des spanischen Worts Cárcel (Gefängnis) – strickt, vergehe die Zeit schneller, sagt sie. Zusammen mit 15 von insgesamt 300 Insassinnen des Gefängnisses fertigt sie für das kleine Label hochwertige Pullover nach skandinavischen Design-Entwürfen. Aus Baby-Alpaca-Wolle, die aus den feinsten Wollfasern der in den Anden freilebenden Tiere gesponnen wird.
«Es ist nicht neu oder aussergewöhnlich, dass Firmen ihre Kleider in Gefängnissen produzieren lassen», erzählt Louise van Hauen, die bei Carcel fürs Design zuständig ist, am Telefon. «Was uns unterscheidet, ist ein sehr hoher Qualitätsanspruch – und dass wir unsere Frauen angemessen bezahlen», so die 34-jährige Dänin. Sie wollen die Frauen nicht als billige Arbeitskräfte ausnutzen, aber sie wollen sie auch nicht nur selbstlos unterstützen. Carcel ist kein Charity-Projekt, sondern ganz klar ein Business.
Seit August 2017 kann die Strickware exklusiv online bestellt werden. Die Kundinnen – sie kommen aus Australien, Japan oder den USA – legen Wert auf minimalistisches Design und können sich einen Pullover für 300 Franken leisten. Einen, in dem der Name der Strickerin eingenäht ist. «Made by Rocio», beispielsweise. Bei Carcel ist die Arbeit mit den peruanischen Frauen mehr als eine Marketingstrategie: Dass die Labelgründerinnen zu ihren Arbeiterinnen eine persönliche Beziehung pflegen, davon zeugen auch deren Biografien, die auf der Label-Website erzählt werden. Ein Kleidungsstück ist somit unmittelbar mit einer persönlichen Geschichte verbunden.
Bei anderen Modehäusern ist man nicht so transparent. 1995 wurde publik, dass der international erfolgreiche Dessous-Brand Victoria’s Secret über eine Produktionsfirma namens Third Generation Teile seiner Lingerie-Kollektion von Insassinnen eines Frauengefängnisses in South Carolina (USA) hat nähen lassen. Zu den Kunden von Third Generation gehörte unter anderen auch die grosse US-Warenhauskette J. C. Penney. Insgesamt wurde in Gefängnissen angeblich Unterwäsche im Wert von 1.6 Millionen Franken genäht – wie viel die Insassinnen an ihrer Arbeit verdient haben, wurde hingegen nie bekannt. In verschiedenen US-Medienberichten war jedoch von «Sklavenarbeit» die Rede, von 12 bis 40 Rappen pro Stunde, wenn überhaupt. Die Aufträge wurden daraufhin gestoppt. Dass US-Häftlinge in Gefängnissen für Firmen aber nach wie vor Produkte erstellen, in den meisten Fällen für minimalstes Entgelt, ist ein offenes Geheimnis.
Bei Carcel geht man einen anderen Weg. Die inhaftierten Frauen, die in Cusco für das dänische Label stricken, bekommen neuerdings einen fixen Monatslohn von rund 900 peruanischen Sols, was in Peru einem existenzsichernden Gehalt von rund 270 Franken entspricht. Zusätzlich können sie von einem Bonussystem profitieren. «Normalerweise verdienen Insassinnen dieses Gefängnisses mit den üblichen Arbeiten die Hälfte des Lohns, den wir bezahlen, oder nicht einmal das», sagt Louise van Hauen. «Wir versuchen, uns nicht von gängigen Gebräuchen beeinflussen zu lassen, sondern bezahlen das, was wir für angemessen und fair halten.» Zu Beginn wurden die Frauen pro gestrickten Pullover entlöhnt. An einem Tag produzieren sie im Schnitt drei davon. «Seit sie nicht mehr einzeln und pro Stück bezahlt werden, fühlen sich die Frauen noch mehr als Teil eines Teams», ist van Hauen überzeugt. Das Bezahlungsmodell wird auf der Website des Labels detailliert aufgeschlüsselt.
Vor drei Jahren besuchte Veronica D’Souza, Louise van Hauens Geschäftspartnerin und Mitbegründerin von Carcel, die Frauen in Cusco zum ersten Mal. Als sie davor im Gefängnis angerufen hatte, um von ihrer Idee zu erzählen, meinte man am anderen Ende der Leitung lediglich: «Lass uns sprechen, wenn du hier bist». Man wollte keine Gespräche über den Pazifik hinweg führen. Als D’Souza kurze Zeit später tatsächlich von den Toren der Anstalt stand, wurden diese überraschend schnell für sie geöffnet. «Sie waren sehr kooperativ, zeigten Freude und ermutigten uns in unserem Vorhaben», erinnert sich van Hauen.
Die Idee, hochwertige Produkte in Gefängnissen herzustellen, entstand in Kenia, wo die befreundeten Frauen vor ein paar Jahren beide tätig waren: D’Souza mit einem Projekt für Frauen und Kinder in Not, van Hauen als kreative Leiterin eines lokalen Labels, das Highend-Produkte aus Leder und Canvas herstellte. Ein Besuch im Frauengefängnis brachte D’Souza zum Nachdenken. Sie war erstaunt über die Normalität, die im Gefängnis herrschte: «Frauen, die dort lachend und tratschend Dinge anfertigten, die niemand so richtig brauchte oder wollte», so van Hauen. Die Arbeiten der Häftlinge fanden – ausser bei kleinen Touristenshops und Angehörigen – keine Abnehmer. «Veronica fragte mich, was ich als Designerin aus diesen Ressourcen machen könnte. Sie fand es schade, dass so viel Können und Talent einfach brachlagen.»
Beide Frauen waren sich schnell einig, dass sie aus dem handwerklichen Geschick etwas herausholen wollten, das allen Beteiligten etwas bringt. Und es war für sie klar, dass dafür ausschliesslich hochwertige und natürliche Materialien verwendet werden sollten. Keine Acrylwolle, wie sie in Gefängnissen, etwa in Südamerika, zu Geschenkartikeln verarbeitet wird. Die Aufgabe bestand also darin, Orte zu finden, an denen die Armut besonders gross, die Verbrechensquote dementsprechend hoch ist und viele Frauen inhaftiert sind – und wo ein traditionelles Handwerk angesiedelt ist. Schnell fiel ihr Augenmerk auf Peru. Im südamerikanischen Land leben rund achtzig Prozent des weltweiten Alpaca-Bestands und seit Jahrhunderten verstricken Frauen die feine Wolle. «Zudem gilt die Region als Heimat des Cocastrauchs – aus dessen Blättern Kokain gewonnen wird», erzählt van Hauen. «Viele junge Frauen sehen im Drogenschmuggel einen Weg aus ihrer Armut, werden erwischt – und landen im Gefängnis.» Cusco schien also der passende Ort für ihr Vorhaben zu sein.
Zu Beginn der Zusammenarbeit waren die Peruanerinnen misstrauisch. Und eingeschüchtert. Weil Carcel der erste internationale Modebrand war, mit dem sie Kontakt hatten. «Sie trauten sich anfangs die Arbeit mit der edlen Wolle nicht richtig zu», sagt van Hauen. Sie hätten Angst gehabt zu versagen. «Es brauchte schon etwas Überzeugungsarbeit – und Zeit, bis sie merkten, dass es uns ernst ist.» Carcel hat eine feste Mitarbeiterin vor Ort, die die Produktion überwacht, die Frauen täglich im Gefängnis besucht und ein offenes Ohr für ihre Fragen und Sorgen hat. Das schafft Vertrauen. Als Louise van Hauen Anfang 2017 das erste Mal in Cusco war, um mit den Insassinnen auf den mitgebrachten analogen Strickmaschinen erste Prototypen herzustellen, hatten sie zusammen viel Spass. «Klar, es ist hart und traurig, diese Frauen in Gefangenschaft zu sehen. Viele von ihnen haben Depressionen – aber das Gefängnis selber ist kein depressiver Ort», erzählt van Hauen. Deshalb brachte die Dänin beim nächsten Besuch auch ihren zweijährigen Sohn mit, der mit den anderen Kindern im Gefängnis spielte. «Wir fühlten uns sehr wohl an diesem Ort. Ich habe alle unsere Arbeiterinnen ins Herz geschlossen und bin beeindruckt, wie sie aufeinander achten und wie neugierig sie sind.»
In kürzester Zeit hat sich ein Arbeitsklima entwickelt, das den Insassinnen neues Selbstvertrauen schenkt. Beide Seiten profitieren: Cusco lernt von Kopenhagen und umgekehrt. «Ich dachte zu Beginn, ein regelmässiges Einkommen und die finanzielle Unterstützung ihrer Familien würden reichen, um die Würde dieser Frauen wieder herzustellen», erzählt van Hauen. Aber so einfach war das nicht. «Es ist die Möglichkeit, überhaupt arbeiten zu können. Die Frauen schätzen es, etwas lernen zu dürfen, etwas Sinnvollem nachgehen zu können. Unser hoher Anspruch an ihre Arbeit steigert zudem ihr Arbeitsethos: Wenn ein Pullover nicht perfekt gestrickt ist, muss die Mitarbeiterin nochmals ran.» Die Grundstimmung der inhaftierten Frauen habe sich durch ihre Arbeit für Carcel spürbar verbessert. «Das ist auch für uns ein befriedigendes Gefühl.»
Letzten Februar, während der Kopenhagener Fashion Week, wurde in den Büros von Carcel angestossen. Auf den erfolgreichen Start des Labels mit der aussergewöhnlichen Geschäftsidee. Die Kleidung von Carcel gibt es nur online zu kaufen, keine Ausverkäufe, keine Saisons, keine Kollektionen – nur limitiert produzierte Serien, um eine Überproduktion zu vermeiden. «Für uns die einzige Art, wie ein Modelabel in Zukunft nachhaltig funktionieren kann», sagt van Hauen.
Soeben ist Veronica D’Souza zurück aus Thailand. In Chiang Mai, im Norden des Landes, hat Carcel in einem Frauen-Hochsicherheitsgefängnis eine zweite Produktionsstätte eingerichtet. Rund zwanzig Insassinnen – die meisten von ihnen sitzen wegen Drogenhandels – haben dort in den letzten Monaten nach Designs von Louise van Hauen an Prototypen getüftelt. Die Kleidung soll noch dieses Jahr lanciert werden. Gewoben aus den Garn der besten Seidenraupen, nach alter thailändischer Tradition.
Mode aus dem Gefängnis
Vor allem in den USA und in Grossbritannien hat es eine lange Tradition, dass Häftlinge Kleider und andere Produkte für grosse Brands herstellen. Bereits in den 1920er- und 1930er-Jahren haben Häftlinge für staatliche Betriebe sowohl ihre eigenen Uniformen als auch welche fürs Militär genäht. Anonym und gegen geringste Bezahlung.
Jetzt gibt es immer mehr Unternehmen wie Carcel, welche die Handfertigkeiten von Häftlingen in den Vordergrund stellen, fördern und fair entlöhnen. So fertigen etwa Insassen der grössten Strafvollzugsanstalt in Peru, San Pedro in San Juan de Lurigancho, die Kollektion für das Streetwear-Label Project Pietà an. Das US-Label «Prison Blues – Made on the Inside, worn on the Outside» lässt fair und transparent in einem US-Gefängnis nähen, und in England macht das Projekt Fine Cell Work von sich reden, das rund 400 Häftlinge in 29 britischen Gefängnissen mit kunstvollen Stickarbeiten für Designer und Museumshops beauftragt, entlöhnt und für die Zeit nach der Haft ausbildet.
Neu ist, dass das Produzieren in Gefängnissen von vielen Labels heute vermarket und nicht mehr wie früher in den USA verheimlicht wird. Kundinnen kaufen bei solchen Labels – sofern die Arbeitsbedingungen und die Qualität der Produkte stimmen –, grad weil sie die Insassen unterstützen möchten.
1.
Rocio (27) hat von ihren zwölf Jahren Haftstrafe die Hälfte abgesessen. Mehr über sie erfährt man auf der Website des Labels Carcel
2.
Dänisches Design, made in Peru: Mode von Carcel
3.
Keine Ausverkäufe, keine Saisons, keine Kollektionen und nur online erhältlich: Das Geschäftsmodell der Carcel-Gründerinnen Veronica D’Souza (links) und Louise van Hauen