
Das neue Heft ist da: Barbara Loop über das Spiel mit der Mode
Ab heute liegt die neue Ausgabe der annabelle am Kiosk. Lest hier das Editorial von Chefredaktorin Barbara Loop.
- Von: Barbara Loop
- Cover: Neige Thébault; Collage: annabelle
Vor Jahren entdeckte ich zufällig eine Boutique, die mir bald die Welt bedeuten sollte. Das unscheinbare Geschäft in der Berner Innenstadt führte die japanischen Brands, die ich liebe, und ein paar Marken, die ich noch nicht kannte. Beim ersten Besuch streckte mir die Verkäuferin eine Jacke entgegen, navyblau, dicker Stoff, guter Schnitt.
Ich trage diese Jacke noch heute. Ein wenig zerschlissen und ausgebeult erin- nert sie mich an die Frau, die mir die besten Stücke zuhielt und von Einkaufstouren in Paris erzählte, an ihren Elsässer Dialekt, der deutsche und französische Wörter auf ihren Lippen Cancan tanzen liess.
Das ist nur eine von vielen Geschichten, die mein Kleiderschrank erzählt. Die perfekten Jeans lassen mich an einen Septembertag denken, den ich mit einer Kollegin in Paris verbrachte, das schwarze Kleid riecht nach Sommer in New York.
Dicht verwoben sind diese Erinnerungen in die Stoffe, sie machen die Kleidungsstücke zu meiner ganz persönlichen Garderobe, die nicht nur meinem Geschmack, sondern der Zufälligkeit meiner Wege geschuldet ist. Die Kollektionen von den Runways in Mailand und Paris sind in gewisser Weise das Gegenteil davon, werden sie doch via Soziale Medien innert Sekunden zum Trend, innert Tagen zur Fast-Fashion-Kopie, innert Wochen inflationär.
"Mode hat die Kraft, uns zu verwandeln – und wir verwandeln sie, indem wir sie tragen"
Doch in der kommenden Saison scheint die Mode die Offenheit zu feiern. Nach dem Quiet Luxury Trend der vergangenen Saisons, der Eleganz diskret in Szene setzte und den Luxus indiskret feierte, hat nun selbst bei den High Fashion Brands die Individualität ihren grossen Auftritt.
Egal ob schlicht oder exzentrisch, die Mode setzt jetzt auf Persönlichkeit: das Souvenir vom letzten Urlaub an einer Kette ge- tragen, das Karohemd, die Strümpfe – es geht nicht darum, für teures Geld das richtige Kleid zu kaufen, sondern es mit individueller Note zu tragen. Mode hat die Kraft, uns zu verwandeln – und wir verwandeln sie, indem wir sie tragen. Das Spiel mit dem Potenzial der Mode, der Flirt mit allem, was man auch noch sein könnte – sie geben den Mood dieser Saison vor.
Vielleicht kommt darin eine Sehnsucht nach Verortung in dieser verrückten Welt zum Ausdruck. In Zeiten, in denen Grossmächte, globale Umbrüche und historische Krisen unsere Wahrnehmung bestimmen, liegt Sicherheit in dem, was uns nahe ist: in der kleinen Boutique, in vertrautem Gewebe, in den Geschichten, deren Autorinnen wir selber sind.
Welche Boutique in Bern ist gemeint? Mfg