Chanels Chefin: Die Frau, die Karl Lagerfelds Nachfolge antrat
- Text: Silvia Binggeli; Foto: Karl Lagerfeld
Die 56-jährige Virginie Viard ist neue Kreativchefin von Chanel. Sie tritt die Nachfolge von zwei der grössten Modedesigner der Geschichte an: dem kürzlich verstorbenen Karl Lagerfeld und der unsterblichen Coco Chanel.
Im Hintergrund trug sie die Verantwortung längst auf ihren Schultern. Immerhin hat Virginie Viard über dreissig Jahre lang an der Seite von Karl Lagerfeld gearbeitet. Sie war «seine rechte und seine linke Hand», wie er immer wieder anerkennend betonte. Kennengelernt hatte sie Karl Lagerfeld schon als Praktikantin. Die Tochter zweier Chirurgen fand Chanel damals eigentlich «zu pink». Sie hatte zuvor ein Jahr in London gelebt, war mit violetten Haaren zurückgekehrt und stand modisch eher auf Punk à la Jean Paul Gaultier. Dennoch blieb die Kostümbildnerin und Designerin treu an Lagerfelds Seite. Bis zu seinem Tod im vergangenen Februar.
Die Geschichte ihres Ziehvaters ist laut: Seit 1983 war Lagerfeld Kreativchef von Chanel. Nach Flautezeiten hatte er der Marke mit seinen konsequenten Kreationen wieder zu Weltglanz verholfen. Und sich mit spitzen Sprüchen, messerscharfen Gedanken und unkonventionellen Auftritten bekannt gemacht; sogar bei Modemuffeln. Sein Fächer, der weiss gepuderte Pferdeschwanz, die Lederhandschuhe, der hohe weisse Kragen, seine Katze Choupette. Karl Lagerfeld verstarb mit 85 Jahren. Sein Tod kam nicht komplett überraschend. Dennoch: Er war als Modedesigner, Fotograf und Künstler bis zuletzt so aktiv und tonangebend geblieben, dass niemand in der Branche mit seinem Ableben rechnen mochte. Dass Virginie Viard seine Nachfolge übernimmt, soll auch sein Wunsch gewesen sein. Die 56-Jährige ist bekannt für ihr aussergewöhnliches Talent. Und für ihre Zurückhaltung. Auf ihrem Instagram-Account finden sich zwei Bilder – auf beiden ist auch Karl Lagerfeld zu sehen.
Einen Tag vor ihrer ersten eigenen Show, an der sie die Cruise Collection präsentieren wird, gehen wir auf Spurensuche und stehen da, wo für das Traditionshaus alles seinen Lauf nahm: im Schaffensbereich von Gabrielle Coco Chanel, an der Rue Cambon 31 in Paris. Bis heute werden hier Haute-Couture-Modelle und Prototypen für die Prêt-à-porter-Kollektionen kreiert. Der berühmte verspiegelte Treppenaufgang lädt ein zu einem Blick in die Vergangenheit. Coco Chanel hatte die Endlosspiegel nach ihrem Einzug 1918 installieren lassen, damit die herunterschreitenden Modelle rundherum erstrahlten. Ausserdem konnte Mademoiselle so während der Defilees oben auf der Treppe, versteckt vor den Blicken der anderen, begutachten, wie ihre Kollektionen beim distinguierten Publikum unten ankamen. Beim Betreten ihrer einstigen Privaträume weiter oben, die den meisten verschlossen bleiben, ist es, als würde sie selber die Türe öffnen; alles ist im Originalzustand erhalten. Ein Salon, ein Esszimmer, eine Bibliothek, eine Küche. Kein Schlafzimmer. Genächtigt hat Coco im nahen Hotel Ritz, von wo sie morgens auf Hinterwegen zu ihrem Atelier schritt. War sie im Anmarsch, versprühten Angestellte ihr Parfum – Chanel Nº 5, das sie 1921 lanciert hatte und dessen Flacon an die achteckige Form des nahen Place Vendôme erinnert. Coco Chanel war abergläubisch. In ihrer Wohnung finden sich Kristalle und achteckige Spiegel. Sie hing nicht besonders an Materiellem, verschenkte Besuchern zeitlebens spontan Stücke aus ihrem Besitz. Dennoch ist ihre Wohnung Zeugnis von eklektischen Inspirationen geblieben, von tatsächlichen und geistigen Reisen in die Welt: Da stehen Trennwände und Tische asiatischer Herkunft neben Skulpturen von Rehen und Hirschen, antike Büsten, Marienfiguren, goldverzierte Stühle, Tischuhren, Lampen und Muscheln. Und natürlich das berühmte beigefarbene Steppsofa. Es war Inspiration für ihre Handtasche 2.55, bis heute ein weltweit begehrtes Modell bei 20- bis 80-Jährigen. Die Legende besagt, Liz Taylor sei bei einem Dinner hier im Haus einmal unruhig auf dem Stuhl herumgerutscht. Ob ihr das Essen nicht schmecke, wollte Gabrielle Chanel wissen. Doch, doch, alles sei vorzüglich, antwortete die Taylor. Sie sei nervös, weil sie am nächsten Tag die Queen treffe. Und nicht wisse, was sie anziehen solle. Coco Chanel riet ihr zu einem schlichten, eleganten Kleid und sagte: «Tragen Sie ausserdem Gelassenheit. Denn glauben Sie mir, die Queen wird auch nervös sein: Weil sie Liz Taylor trifft.»
DIE ERSTE KOLLEKTION
VON VIRGINIE VIARD:
ELEGANZ, BLUMIGE
LEICHTIGKEIT UND EINE
PRISE PUNK
Die vielen Legenden um ihr Leben, insbesondere um ihre Kindheit und Jugend, hat Coco Chanel mitkolportiert. Wahrscheinlich, um die Wahrheit zu vertuschen: Dass sie 1883 in armen Verhältnissen, als uneheliche Tochter eines Hausierers und einer Wäscherin, geboren wurde. Die Mutter starb, als das Mädchen zwölf Jahre alt war. Der Vater gab sie und ihre ältere Schwester in die Obhut eines von Nonnen geführten Waisenhauses und verschwand. Im Waisenhaus erlernte Chanel das Handwerk der Schneiderin. Mit zwanzig arbeitete sie in Moulins in der Auvergne, in einem Aussteuer- und Babyartikelgeschäft. Privat nahm sie Aufträge als Schneiderin an. Und sang abends im Grand Café der Garnisonsstadt. Ihre zwei bevorzugten Lieder: Qui qu’a vu Coco? Und: Ko-Ko-Ri-Ko. So kam sie zu ihrem Spitznamen Coco.
Im nahen Vichy, wo sie ebenfalls auftrat, traf sie Étienne Balsan, den wohlhabenden Spross einer Industriellenfamilie. Er führte sie in die noble Gesellschaft ein. Durch ihn lernte sie auch den Briten Arthur Boy Capel kennen, die Liebe ihres Lebens. Capel finanzierte 1910 die Gründung ihres Unternehmens. Zehn Jahre später verunglückte er tödlich bei einem Autounfall. Coco Chanel benannte ein Taschenmodell nach ihm: die legendäre Boy. Die Zigarette im Mundwinkel, die Perlenkette um den Hals, die Stecknadel in der Hand: Coco Chanel lebte unkonventionell, eigenwillig und wild und war ihrer Zeit auch als Designerin voraus. Sie gab den Frauen Bewegungsfreiheit. Und Eleganz: die weiten Hosen, die schnörkellosen Kleider aus Baumwolljersey, das kleine Schwarze. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges schloss sie ihr Atelier kurzzeitig. Sie soll mit den Deutschen kollaboriert haben, was ihr viele Kundinnen verübelten. Doch Mitte der Fünfzigerjahre schaffte sie mit einem weiteren modischen Markenzeichen das ultimative Comeback: mit dem berühmten Chanel-Kostüm aus Tweed. Marlene Dietrich, Brigitte Bardot, Grace Kelly, Romy Schneider und Ingrid Bergman trugen Chanel. Zu Mademoiselle Chanels Trauerfeier 1971 kamen Salvador Dalí, Yves Saint Laurent, André Courrèges und der Tänzer Serge Lifar. Ihr Leichnam wurde später auf den Friedhof Cimetière du Bois-de-Vaux in Lausanne überführt, wo Chanel eine Zeit lang gelebt hatte. Im Grand Palais in Paris wird seit Tagen die Szenerie für Viards Show aufgebaut. Im Ausstellungsgebäude, das 1900 für die Weltausstellung errichtet wurde, finden in den letzten Jahren traditionell die Haute- Couture- und Prêt-à-porter-Schauen des Hauses statt – inklusive Dutzende Polizisten in den Strassen, Sicherheitscheck und Passkontrolle am Eingang. Hier lud Karl Lagerfeld zu seinen Heimspielen. Er liess im Palais ganze Welten inszenieren, ein französisches Bistro etwa, eine Weltraumstation, einen Supermarkt, eine Bergdorf. Grenzen setzte höchstens die hohe Kuppel des Palais. Auf den Stühlen der Gäste lag als Geschenk jeweils ein Chanel-Parfum bereit – falls Mademoiselle unerwartet heranschreiten würde.
Auch Virginie Viard wird ihre erste eigene Kollektion hier zeigen. Während sie hinter den Kulissen vermutlich noch letzte Anpassungen an den Kleidern vornimmt, sitzen wir, die Gäste, bereits im Salon d’honneur, in eigens dafür geschaffenen historischen Zugwagons, bei einem Frühstück: Die Tische im «Chanel Express» sind weiss gedeckt, schnittfrische Blumen stehen neben Champagner-Gläsern. Nach Speis und Trank begeben wir uns über eine opulente Treppe hinunter in den grossen Saal, wo gleich die Show stattfinden wird. Wir sitzen auf Holzbänken an Gleisen, in imaginären Bahnhöfen aus vergangenen Tagen, die Abfahrt und Ankunft symbolisieren und verheissungsvolle Namen tragen wie Venedig, Saint-Tropez, Bombay, Edinburgh, Rom. Im Programmheft ist nachzulesen, wie sehr Coco Chanel zeitlebens Zugfahrten genossen habe. Keine andere Modedesignerin ist fünfzig Jahre nach ihrem Tod noch so in der Gegenwart präsent wie sie.
Virginie Viards erstes Model trägt die unverkennbare Handschrift der Marke: eine weisse Bluse mit Kamelie, Coco Chanels Lieblingsblume, unter einer schwarzen Jacke, dazu weite Hosen. Sie zeigt danach weit geschnittene Trenchcoats, die mit feinen Kettengürteln aus Gold zusammengehalten werden, weisse Schuhe mit der typisch schwarzen Chanel-Spitze, gesteppte Taschen in Rot, Schwarz, Blau, Sammelsurien von übereinander getragenen Hals- und Perlenketten. Das letzte Model trägt einen hohen weissen Kragen – eine Hommage an Viards Ziehvater. Es ist eine Kollektion von Eleganz, blumiger Leichtigkeit. Und einer Prise Punk. Am Ende verbeugt sich die Kreativchefin nur kurz vor dem klatschenden Publikum, in schwarzen Jeans, Boots, weiter Jacke und T-Shirt – einem lässigen Outfit, als wollte sie sagen: Vielen Dank. Aber ich habe hinten noch zu tun.
Den Rest des Tages verbringen wir in einer Gegend, in der man nachts lieber nicht allein herumspazieren möchte: in Pantin, am Rande von Paris. Hier ist in einem modernen Gebäude die Geschichte von Chanel archiviert. Gepflegt wird das Erbe des Hauses erst seit den Achtzigerjahren. Das Gebäude ist nirgends mit Chanel beschriftet. Doch finden sich hier die Schätze aus über hundert Jahren Modegeschichte. Gabrielle Chanel hatte zu ihren Kreationen wenig Sorge getragen. Nur etwa ein Zehntel der Sammlung stammt von ihr – der Rest von Karl Lagerfeld. Erhalten ist etwa eine einfache weisse Seidenbluse von 1916, die vorsichtig mit Handschuhen von einer der Verantwortlichen des Patrimoine hervorgeholt wird. Seide wohl deshalb, erklärt sie, weil Wolle zu jener Zeit rationiert war und für Soldatenkleidung aufgehoben wurde. In temperierten Räumen und in schonendes Material gelegt, finden sich hier erste Flacons, Schmuck, Taschen, Schuhe, Haute Couture, Prêt-à-porter. Ein Hochzeitskleid, bestehend aus 2500 Kamelien, das Karl Lagerfeld 2015 entworfen hat, das mit Koranversen bestickte Mieder, das 1993 an Claudia Schiffer für einen Skandal sorgte. Unterwegs tauchen immer wieder die fünf Farben auf, die Chanels Entwürfe bis heute prägen: Schwarz, das Mademoiselle nonchalant zur Farbe von Eleganz statt zu der von Trauer erkoren hatte. Weiss, das sie an die Hauben der Nonnen im Waisenhaus erinnerte. Beige, die Farbe des Sandes der Riviera von Deauville und Biarritz, wo sie Boutiquen führte. Gold, die Farbe der Schätze des byzantinischen Reiches, die sie faszinierten. Rot, die Farbe des Lebens, die Farbe des Blutes. Und die Farbe, die Coco Chanel auf ihren Lippen für unverzichtbar hielt. «Wenn du traurig bist», pflegte sie zu sagen, «dann trage mehr roten Lippenstift auf und attackiere.»
Virginie Viard liess ihre Models ohne rote Lippen defilieren. In puncto persönlicher Extravaganz grenzt sie sich klar von Mademoiselle ab. Das Erbe einer Mode, die Frauen stärken, nicht schmücken soll, führt sie jedoch entschlossen weiter. Und hat gleichzeitig längst begonnen, das nächste Kapitel zu schreiben. Schliesslich hat sie die Geschichte des Hauses über dreissig Jahre hinterfragt, interpretiert, aufgefrischt, zelebriert. Nur: Jetzt schaut ihr die Welt dabei zu.