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Brenda Milner: Ihr Herz gehört dem Hirn

Brenda Milner: Ihr Herz gehört dem Hirn

  • Interview: Helen AecherliFotos: Dan Cermak

Brenda Milner weiss, warum wir uns Namen oft nicht merken können und wie wir verlegte Schlüssel wiederfinden. Seit sechzig Jahren erforscht die britische Neurowissenschafterin das menschliche Gedächtnis.

Brenda Milner weiss, warum wir uns Namen oft nicht merken können und wie wir verlegte Schlüssel wiederfinden. Seit sechzig Jahren erforscht die britische Neurowissenschafterin das menschliche Gedächtnis. Vergessen kann ganz wohltuend sein, findet sie – und vergisst deshalb gern, dass sie 91 Jahre alt ist. Denn es gibt zu viel zu tun, um aufzuhören.

annabelle: Brenda Milner, ich habe heute den Kühlschrank aufgemacht und vergessen, was ich herausnehmen wollte. Muss ich mir Sorgen machen?
Brenda Milner: Um Himmels willen, nein! Sie waren wohl in Gedanken versunken, und diese Gedanken haben Sie abgelenkt. Ähnliches geschieht auch an Anlässen, wo man viele Menschen trifft: Man schüttelt Hände, tauscht Businesskarten, speichert dabei aber keinen einzigen Namen, weil man einfach zu vielen Eindrücken ausgesetzt ist. Diese Art des Vergessens ist trivial.

Wie beruhigend. Sie implizieren damit, dass es verschiedene Arten des Vergessens gibt?
Ja, das ist so. Eine weitere Art ist das kontextbezogene Vergessen: Man tendiert dazu, Dinge zu vergessen, die nicht in einem gewohnten Zusammenhang eingebettet sind. Ein Beispiel: Wenn ich ein Referat zu einem Thema besuche, in dem ich mich sehr gut auskenne, macht es mir danach kaum Mühe, den Inhalt genau wiederzugeben. Besuche ich aber ein Referat zu einem mir fremden Thema, fehlt mir der Bezugsrahmen, und ich kann mich nur schwer daran erinnern, auch wenn ich es sehr interessant fand. Also: Je besser ich mich in einem Gebiet auskenne, desto einfacher fällt es mir, Neues zu speichern.

Aber man kann sich doch auch als Anfängerin neue Dinge merken, oder?

Natürlich. Die Neuroplastizität, also die Formbarkeit des Gehirns und des Gedächtnisses, bleibt bis ins hohe Alter bestehen. Vorausgesetzt, man nutzt sie. Das Gehirn muss trainiert werden, sei es durch Erinnerungsspiele, Lesen, das Erlernen einer neuen Sprache oder von neuen Bewegungsabläufen. Denn wir haben auch ein prozedurales Gedächtnis.

Das heisst?
Unsere Studien haben gezeigt, dass es neben dem Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis auch eines für Personen, Ereignisse und Orte gibt, das so genannte episodische Gedächtnis. Und eines für motorische Fähigkeiten wie Schwimmen, Velo- oder Autofahren, eben das prozedurale Gedächtnis.

Das uns daran erinnert, dass wir Velofahren oder Schwimmen nie vergessen, wenn wir es mal gelernt haben?
Genau. Schwimmen zu lernen, ist zwar ein riesiger Aufwand, aber während des Lernens werden grosse Teile dieser Informationen ins Gedächtnis eingespeist und so gespeichert, dass sie später automatisch ablaufen können.

Es ist dann so, als erinnere sich der Körper eher an einen Bewegungsablauf als der Kopf.
Ja, so ähnlich kann es sich anfühlen.
Was passiert eigentlich im Gehirn, wenn es neue Informationen speichert?

Wenn wir etwas lernen, wird an den Synapsen, den Kontaktstellen zwischen Nervenzellen und anderen Zellen oder der Nervenzellen untereinander, die Signalübertragung intensiviert.

Das Gehirn wird auf Grund seiner Formbarkeit immer wieder mit einem Muskel verglichen.

Ich mag den Vergleich nicht. Das Gehirn kontrolliert die Muskeln und kann deshalb nicht wie ein Muskel funktionieren. Ich sehe es eher als gigantisches Netzwerk. Es besteht aus unzähligen Nervenzellen und Verbindungen, die sich vermehren, wenn man es nutzt. Die bauen sich nicht planlos auf, sondern scheinen einem festen Schema zu folgen. Wie das genau abläuft, wissen wir noch nicht. Diesen Prozess konnten wir erst in ganz rudimentären Organismen, etwa in Nacktschnecken, nachvollziehen.

Auf die Grösse kommt es an, heisst es doch so schön. Gilt dies auch für Gehirne?

Nein.

Lange Zeit hiess es, zwischen weiblichen und männlichen Gehirnen bestehe ein Grössenunterschied. Zu Gunsten der Männer natürlich.

Wenn Sie Millionen von Frauen und Männern miteinander vergleichen, sehen Sie, dass es keine signifikanten Unterschiede gibt. Was aber zutrifft: Frauen haben tendenziell grössere kommunikatorische Fähigkeiten, Männer ein besseres Raumgefühl. Und grundsätzlich gibt es in der männlichen Bevölkerung mehr Extreme: also mehr absolut brillante Menschen, aber auch mehr geistig Behinderte. Aber das ist nicht mein Fachgebiet.

Wo liegen Ihre Stärken?

(schmunzelt) In dieser Beziehung liege ich ganz im Durchschnitt. Ich habe ein miserables Raumgefühl und kann weder Auto fahren noch parkieren. Als ich die Fahrprüfung machte, rief der Experte immer wieder «Madame, Madame! Oh, Madame!» und raufte sich verzweifelt die Haare. Ich sagte: «Don’t worry, ich werde mich nie mehr ans Steuer setzen.» Daran habe ich mich gehalten und gehe noch immer jeden Tag zu Fuss zur Arbeit.

Sind Sie deshalb mit 91 Jahren noch so fit?

Möglich, ich war immer aktiv. Ich habe einen gesunden Lebensstil, esse gern Gemüse, nicht weil ich ein Nerd bin, sondern weil ich es mag. Ich trinke auch mal ein Gläschen Wein, und vor allem: Ich habe nie daran gedacht, mit Arbeiten aufzuhören. Ich glaube, das ist das Wichtigste.

Sie haben gesagt, das Gehirn bleibt bis ins hohe Alter formbar. Das Gedächtnis lässt aber dennoch unweigerlich nach, oder?
Das ist richtig, ja. Sie können im hohen Alter ein sehr gutes Gedächtnis haben, aber Sie werden nie mehr so gut sein wie mit zwanzig. Mit 20 sind wir auf dem Höhepunkt. Selbst die besten 40-Jährigen hinken den Jüngeren hinterher. Verstehen Sie mich bitte richtig: Ich spreche von der Gedächtnisleistung, nicht von Weisheit und Klugheit. Die Gedächtnisleistung nimmt mit zunehmendem Alter sukzessive ab, genauso wie die Balance oder das Schritttempo. Diesbezüglich hatte ich ein einschneidendes Erlebnis.

Erzählen Sie, bitte.
Vor zwanzig Jahren besuchte ich in Strassburg eine Studiengruppe, die sich mit motorischen Fähigkeiten auseinandersetzte. Wir waren zu Fuss unterwegs, und ich beklagte mich, dass mich alle überholten, obwohl ich doch dasselbe hohe Schritttempo hatte wie eh und je. Ich war stets eine schnelle Fussgängerin gewesen. Was sollte sich daran geändert haben? Eine Kollegin erklärte mir dann, dass mein Gehirn meinen Muskeln zwar noch immer dieselben Temposignale übermittelte, die Muskeln aber nicht mehr darauf reagieren konnten. Deshalb hatte ich das Gefühl, gleich schnell zu sein wie früher, obwohl sich mein Körper de facto verlangsamt hatte.
Quält Sie das Älterwerden?

Nein, ich denke kaum darüber nach. Ich habe auch nie mit dem Gedanken gespielt, mich hinter Schönheitsoperationen zu verstecken. Weder Botox noch chirurgische Eingriffe können doch das wahre Alter verbergen. Das Einzige, was mich eben wirklich ärgert, ist, dass ich nicht mehr so schnell gehen kann. Aber wir müssen uns dem Alterungsprozess stellen. Aufhalten lässt er sich nicht. Und das ist auch gut so. Stellen Sie sich vor, wir alle würden auf dem Höhepunkt unserer Schaffenskraft einfach tot umfallen. Das wäre doch schrecklich.

Haben Sie Angst vor dem Tod?
Ja, aber es hilft nicht, darüber nachzudenken. Niemand weiss, wann, wo und wie er stirbt.

Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?
Nein. Ich glaube, dieses Leben ist das einzige, das wir haben. Dann ist Schluss. Das ist das Gemeine am Sterben.

Waren Sie immer schon so pragmatisch?
Sagen wir mal: Ich bin empirisch.

Haben Sie deshalb Mathematik studiert, bevor Sie sich der Psychologie widmeten?
Mich hat die Mathematik angezogen, weil ich sie so elegant fand. Ich wäre gern eine grosse Mathematikerin geworden, realisierte aber, dass ich in diesem Fach nicht erreichen würde, was ich wollte. Ich hatte keine Lust, bloss eine mittelmässige Mathematikerin zu sein, sondern spürte den Drang, etwas Gutes, Nachhaltiges zu schaffen. Ich war sehr neugierig und interessierte mich für vieles, nur wusste ich nicht, worauf ich mich konzentrieren sollte. Als ich dann mit der Psychologie in Berührung kam, war mir sofort klar: Das ist es.

Eine akademische Karriere war damals, in den Vierzigerjahren, für eine Frau eher unkonventionell. War Ihnen das bewusst?

Ja, schon. Zwar war es in Manchester in meinen Kreisen normal, dass Frauen eine gute Ausbildung anstrebten. Für mich war es ungeheuer wichtig, gut zu sein in der Schule, da wir wenig Geld hatten und ich meine Ausbildung mit Stipendien finanzieren musste. Aber ich habe mich nicht aus ideologischen Gründen der konventionellen Frauenrolle widersetzt, mein Weg ergab sich einfach. Vielleicht dadurch, dass ich nie Kinder wollte, sondern mich immer viel besser mit jungen Erwachsenen verstand als mit Babys. Ich hatte auch nie vor zu heiraten. Das tat ich dann aber doch. So bin ich nach Kanada gekommen.

Haben Sie sich als Frau in der akademischen Welt benachteiligt gefühlt?
Das werde ich oft gefragt. Aber ich hatte in all den Jahren, und das sind nun doch schon einige, nie das Gefühl, diskriminiert zu werden, hatte nie Probleme, mich durchzusetzen. Ich machte einfach mein Ding, verstehen Sie?

Und an welchem Ding arbeiten Sie gerade?
Ich beschäftige mich unter anderem mit dem Phänomen der Object Location, das heisst mit dem Speichern und Verankern von Dingen und Begriffen im Raum.

Das müssen Sie näher erklären.

In der Klassik, als grosse Reden in Foren gehalten wurden und es noch keine Teleprompter gab, nutzten die Menschen dieselbe Technik: Sie stellten sich beim Einstudieren der Rede ein  Zimmer vor, mit dem sie vertraut waren, und platzierten ihre Gedanken in verschiedene Ecken oder Gegenstände. Als sie danach ihre Rede hielten, schritten sie im Geist den Raum ab und  sammelten ihre Gedanken und Assoziationen wieder ein. Nun gibt es aber auch die unbewusste Object Location. Dieses Phänomen spielt sich ab, wenn man sich im realen Raum bewegt. Sie haben sicher schon mal erlebt, dass Ihnen plötzlich etwas längst Vergessens in den Sinn kam, als Sie beim Spazierengehen wieder an einer bestimmten Stelle vorbeigekommen sind?

Stimmt!
Da sich unser Gehirn am realen Raum orientiert, speichert es auch schnell mal unbewusste Gedächtnisinhalte darin ab. Ich vermute, dass Tiere dank dieses Mechanismus ihr Futter orten. Und mit derselben Praktik könnten wir zum Beispiel auch die Schlüssel wiederfinden, die wir verlegt haben. Im Prinzip müssten wir nur den Weg zurückgehen, den wir gekommen sind, und wir würden das Vergessene wahrscheinlich wieder aufspüren.

Gibts auch so etwas wie die Gnade des Vergessens?

Natürlich. Es wäre eine zu grosse Bürde, wenn wir uns an alles erinnern könnten.