Auch blinde und sehbehinderte Frauen schminken sich gerne. Aber wie geht das am besten? In einem Make-up-Workshop bekommen sie Tipps von Claudia Jung. Wir waren bei einer Beratung dabei.
Esther vermisst das Schminken. Ein ganz einfaches Make-up, das sich auch im Alltag umsetzen lässt, das wünscht sie sich. «Wenn ich gut sehen würde, würde ich mich sicher öfter schminken», sagt sie. Seit über zehn Jahren, seit ihre Sehkraft wegen einer langjährigen Sehbehinderung immer mehr abnimmt, schminkt sie sich nicht mehr. Damals hat sie immer wieder von Freunden gehört, dass ihr Make-up nicht ganz sitze. «Es hiess immer öfter: Hier ist was daneben, und da ist etwas nicht gut. Das störte mich irgendwann und ich hörte auf.» Das will sie jetzt ändern. Denn nur der Lippenstift, den sie benutzt, der ganz einfach in der Handhabung ist und nicht verschmiert, reicht ihr nicht. Ausserdem will sie von der Expertin wissen, ob ihr der überhaupt steht, denn «den habe ich ja blind gekauft».
Darum ist Esther in den Make-up-Kurs für blinde und sehbehinderte Frauen von Claudia Jung gekommen. Hier wird ihr jeder Schritt ganz genau erklärt – von der Streichbewegung zum Auftragen der Foundation und der Handhabung eines Make-up-Schwämmchens bis zum genauen Auftragen des Lidschattens – und auf einer Gesichtshälfte vorgemacht. «So kann ich auch schauen, welche Farben dir stehen und welche Foundation passt», sagt Claudia Jung von Springbloom. In Zürich führt sie zum zweiten Mal den Make-up-Kurs für blinde und sehbehinderte Frauen durch. Ihr Engagement beginnt aber schon vor einigen Jahren. Am Jungfrau-Marathon im Jahr 2008 sieht sie auf der Kleinen Scheidegg einen blinden Läufer im Tandem mit einem sehenden Läufer ins Ziel kommen. Diese Szene berührt sie, und sie fasst den Entschluss, sich ehrenamtlich für Menschen mit einer Sehbehinderung zu engagieren. «Vor drei Jahren gründete ich dann den Lauftreff Limmattal. Heute hat der Lauftreff 25 blinde und sehbehinderte Läuferinnen und Läufer und 40 Guides.» Dieser Treff inspirierte Claudia Jung, Juristin und passionierte Läuferin, dazu, noch mehr zu tun. «Ich war auf der Suche nach einer Aufgabe, in der ich wieder kreativ sein kann, und begann eine Make-up-Artist-Ausbildung. Irgendwann kam mir die Idee, das mit der Arbeit mit blinden und sehbehinderten Menschen zu verbinden.» Ihre Zielkundschaft: eher Frauen, aber nicht ausschliesslich. Eher blinde und sehbehinderte Menschen, aber nicht ausschliesslich.
Mittlerweile hat Claudia Jung das Make-up aufgetragen, gepudert, Rouge und Lidschatten aufgetragen, die Wimpern getuscht und die Lippen eingefärbt. Dann, auf der anderen Gesichtshälfte, ist Esther dran.
«Du hast übrigens von Natur aus eine sehr jugendliche Haut», sagt Jung.
«Ah, schön. Das ist gut zu wissen», erwidert Esther.
«Da unten am Kinn musst du es noch besser verteilen und einarbeiten», weist Jung sie beim Auftragen der Foundation an.
Die grösste Schwierigkeit bestehe darin, die Balance zu finden. Dass man nicht zu viel und nicht zu wenig aufträgt, erklärt Claudia Jung, während sie Esther dabei beobachtet, wie sie die Foundation in die Haut einarbeitet. Dabei hat sie sich für ein Schwämmchen entschieden, obschon Claudia Jung ihr empfiehlt, mit den Fingern zu arbeiten, um besser zu spüren, wie viel sie aufträgt.
«Ich möchte es aber richtig machen», beharrt Esther, als Claudia ihr sagt, dass ihre Haut eigentlich gar keine Foundation benötigt. «Ich weiss von früher noch, wie toll es aussieht.»
«Ja, es steht dir auch gut. Ich gebe jetzt ein paar Tropfen Concealer auf deinen Handrücken», informiert sie Esther. Diese befühlt mit dem Finger die Konsistenz auf ihrem Handrücken und riecht gleich daran.
«Keine Ahnung, wie ich das jetzt wieder hinkriegen soll», sagt sie.
«Der Concealer ist ganz crèmig, der verteilt sich sehr gut. Das ist etwas vom einfachsten, wenn du dich schminken willst.»
«Das sagst du, aber das Schlimme ist ja, dass ich die Kleinigkeiten nicht sehe. Das ist schade.»
Viele blinde und sehbehinderte Frauen schminken sich laut Jung aus diesem Grund nur für den Ausgang und sorgen dafür, dass jemand da ist, der Feedback geben kann. Gibt es im Alltag niemanden, der sich das Make-up genau anschaut, dann bietet Claudia Jung ihren Kundinnen an, per Whatsapp-Videocall einen Termin zu vereinbaren. «Dann stehst du in eine gute Lichtquelle, und ich schaue, ob alles passt.» Ihre Idee ist es, diese Form des Feedbacks zugänglicher zu machen. Über eine Whatsapp-Gruppe beispielsweise, damit immer jemand da ist, wenn man Feedback braucht. Oder über eine App. «Die zündende Idee hatte ich aber noch nicht. Aber man ist halt auf andere angewiesen.» Blinde und sehbehinderte Menschen sind in vielen Situationen gezwungen, anderen zu vertrauen, sie entwickeln oft ein besonderes Sensorium hierfür: Wem kann ich vertrauen? Wer meint es gut mit mir? «Im Laden ist es immer schwierig. Viele Verkäuferinnen nehmen sich nicht wirklich Zeit für meine Bedürfnisse, gehen nicht auf mich ein. Da kaufe ich selten etwas», sagt Esther. Bei Claudia merke sie, dass sie ernst genommen werde und dass es ihr wichtig sei, dass sie gut aussieht, fügt sie an, während sie unter der Beobachtung von Claudia Jung ihren Wangenknochen abtastet. Drei Finger breit, vom oberen Ende des Knochens diagonal nach unten soll das Rouge aufgetragen werden, so die Anweisung.
«Und dann ist es auf der linken Seite gleich wie auf der rechten? Das ist für mich nämlich die grösste Schwierigkeit», sagt Esther.
«Ja, dann ist es ziemlich gleich. Ganz gleich wird es selten, auch bei mir nicht und ich sehe es. Es braucht viel Geduld, das Schminken zu erlernen, wenn man nichts sieht. Aber schau, du machst das so gut!»
«Schau», sagt Claudia Jung. Früher, im Lauftreff, hatte sie immer Hemmungen, solche Verben zu benutzen. Bis sie realisierte: Das darf man. «Dieses Vokabular benutzen auch sehbehinderte Personen. Früher hatte ich oft schlaflose Nächte, wenn mir so etwas rausgerutscht ist. Mittlerweile habe ich gelernt, diese Frauen und Männer als Menschen zu nehmen. Es macht gar keinen Unterschied, ob sie sehen oder nicht. Ich würde im Grunde genommen ja auch vergessen, dass sie nichts sehen, wenn sie mich nicht ständig daran erinnern würden», stellt sie lachend fest.
Esther ist mittlerweile fast fertig. «Das sieht so toll aus! Die meisten Frauen, mit denen ich arbeite, verzichten auf Mascara, weil es wirklich schwierig ist, die Wimpern blind zu tuschen. Aber du machst das so gut!», lobt Jung sie. Esther ist überrascht über das Kompliment und darüber, wie gut das alles ohne Spiegel klappt. Sie strahlt. «Ich spüre es, nach so langer Zeit gibt es mir ein gutes Gefühl. Das Gefühl, zurecht gemacht zu sein, das ich vorher nie mehr hatte. Ich kauf mir grad wieder eine Mascara.» Claudia Jung freut sich jedes Mal sichtlich mit ihren Kundinnen mit. «Wir haben noch keine Langzeitstudien, aber ich bin überzeugt, dass sich das Make-up positiv auf das Selbstwertgefühl und die Ausstrahlung der Frauen auswirkt, auch wenn sie es selber nicht sehen.»
Claudia Jung (46), ist Gründerin von Springbloom und Lauftreff Limmattal. An der Arbeit mit blinden und sehbehinderten Menschen schätzt sie besonders das Vertrauen, das ihr entgegengebracht wird. «Wenn ich mit jemandem renne und dabei die Hindernisse ansage, geht es – extrem gesagt – fast um Leben und Tod. Beim Schminken ist es nicht ganz so extrem, trotzdem hängt ein Selbstwertgefühl davon ab.» Springbloom veranstaltet immer wieder Events und Kurse zum Thema Sinnlichkeit für sehende und sehbehinderte Frauen und Männer. Schminkanleitungen für blinde und sehbehinderte Frauen, Informationen zu Kursen und Events sowie zum Lauftreff Limmattal gibts auf springbloom.ch
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…und wie man ein Make-up-Schwämmchen richtig benutzt
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«Die meisten Frauen, mit denen ich arbeite, verzichten auf Mascara, weil es wirklich schwierig ist, die Wimpern blind zu tuschen.»
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Claudia Jung freut sich mit ihrer Kundin