Die westliche Welt mistet aus. Und das nach der Methode der Japanerin Marie Kondo. Bleiben darf nur, was Freude bereitet. Doch wo gründet das kollektive Bedürfnis nach weniger?
Zwei Wochen vor meinem 15. Geburtstag verkündete meine Mutter, dass sie mein Zimmer nicht mehr lüften werde. Ihre Begründung, dass sie sich beim Durchqueren des Raums erst mal den Weg freischaufeln müsse, fand ich völlig aus der Luft gegriffen. Doch wir wissen: Mütter haben meistens recht.
Die Berge ungetragener 5-Franken-Shirts aus dem H&M, die alten Kino-Tickets und Tratsch-Zettelchen aus dem Unterricht, die Sammlung von Eulenfigürchen wurden ausgemistet. Und mit den Jahren wurde Aufräumen und Ausmisten zur reinigenden Freizeitbeschäftigung. Deshalb gingen die ganzen Tipps und Ratgeber der letzten Jahre zum Thema Ausmisten unbeachtet an mir vorüber.
2019 jedoch ist es vorbei mit der Ignoranz. Ausmisten ist zu einem Hype geworden, der mir regelrecht ins Gesicht springt. Alle räumen ihre Schränke und Garagen aus, Minimalismus gilt als hipper Lifestyle, und Marie Kondo, der japanische Ordnungsguru par excellence, erhält eine eigene Netflix-Serie. Ihr Spitzname Konmari wird im Englischen schon als Synonym für das Verb aufräumen genutzt, ihre Bücher sind Bestseller, und weltweit bildet sie Consultants nach ihren eigenen Methoden aus.
Eine dieser Consultants ist Isabelle Odermatt. Die Nidwaldnerin stiess wegen eines Paars zu kleiner Schuhe auf Kondos Methode. Sie erhellt mich übers professionelle Entrümpeln, und ihre Ausführungen lassen mich mit einer äusserst hilfreichen Erkenntnis zurück: «Man muss sich selbst vergeben.» Das hört sich, zugegeben, erst mal recht esoterisch an. Doch das schlechte Gewissen scheint ein zentraler Grund zu sein, weshalb wir uns von so vielem nicht trennen können.
«Wir leben im Überfluss, alles wird in rauen Mengen produziert, gekauft, verschenkt. Gleichzeitig wurde uns von unseren Grosseltern und Eltern – der Kriegs- und Nachkriegsgeneration – eingeimpft, dass wir nichts verschwenden dürfen, dankbar sein und unseren Besitz wertschätzen sollen», sagt Odermatt. So enden wir mit einem Haufen Plunder, der uns ein schlechtes Gewissen macht, weil wir ihn nicht nutzen und uns gleichzeitig nicht trauen, ihn loszulassen.
Nach dem Gespräch, abends im Wohnzimmer, bleibt mein Blick an der wollenen Decke hängen, die zusammengefaltet unter dem Sofa hervorlugt. Sauteuer, recht hübsch und unglaublich unangenehm. Sie kratzt und beisst und bleibt mein fiesester Fehlkauf. Zu teuer war sie aber, um in einem Textilsammlungssack zu landen. Die zu enge Bluse ungetragen im Schrank, das vegane Kochbuch ungeöffnet über dem Herd, ganz hinten im Schrank des Kinderzimmers die von Bekannten geschenkte Plastikpistole, die mein Sohn nicht in die Finger bekommen soll. «Ist es nicht respektloser, Dinge unbenutzt irgendwo in Schachteln zu stapeln, als sie zu verkaufen oder zu spenden, damit sie bei jemandem landen, der sie schätzt?» Etwas weggeben und sich selbst dafür vergeben. Es macht Sinn, was Odermatt sagt.
Wir suchen Wege zurück zur Einfachheit, das Leben ist in einer globalisierten Gesellschaft mit Abertausenden Optionen kompliziert genug. Und ein Weg ist die Reduktion von Besitz. «Besitz kann belasten», sagt Johanna Gollnhofer, Associate Professor für Marketing an der Universität St. Gallen, die sich mit Konsumforschung und damit aktuell auch mit Marie Kondo und dem Trend Decluttering auseinandersetzt. «Besitz erfordert Aufmerksamkeit. Zudem haben wir Angst, ihn zu verlieren. Je weniger man besitzt, desto weniger kann man verlieren, desto weniger muss man sich kümmern und desto weniger Platz wird eingenommen», sagt Gollnofer. «Mehr» sei lange mit «besser» gleichgesetzt worden. «Doch mittlerweile erreichen wir ein Gefühl der Sättigung.» Und langsam realisieren wir, dass viel Besitz auch Nachteile hat.
Isabelle Odermatt sagt dazu: «Unsere Wohnung muss kein Zentralarchiv unseres Lebens sein, in dem alles gelagert wird. Lassen wir sie ein Museum sein, mit den aussagekräftigsten und schönsten Teilen jeder Epoche.» Und recht hat sie!
So macht es Marie Kondo:
- Die wichtigste Regel: Behalten Sie, was Sie glücklich macht.
- Räumen Sie nach Kategorien auf, nicht nach Räumen. Kleider, Bücher, Dokumente etc.
- Legen Sie den Fokus darauf, was Sie behalten wollen, und nicht darauf, was Sie wegwerfen werden.
- Legen Sie den Fokus auf die Zukunft. Was möchten Sie in Zukunft besitzen? Und nicht: Was war Ihnen früher wichtig?
- Achten Sie darauf, dass Sie beim Blick in die Schublade oder in den Schrank alles auf einen Blick sehen können, was Sie besitzen.
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In ihrer neuen Netflix-Serie besucht sie Privathaushalte in den USA und greift den Bewohnern, die im Chaos zu versinken drohen, unter die Arme.