Appenzellerland – Ein perfekter Tag
- Text: Frank Heer; Fotos: Stephan Rappo
Schönwetterprogrammverweigerer haben es im Sommer schwer. Frank Heer gerät in der Bibliothek des Kulturhotels Alpenhof im Appenzellerland auf eine psychedelische Zeitreise.
Man sieht den wuchtigen Kastenbau bereits während der Anfahrt von Trogen wie einen gestrandeten Dampfer auf einer schmächtigen Nagelfluh-Krete sitzen: Hoch über dem Bodensee thront dieser «Alpenhof», auf Konfrontationskurs zu Säntis und Alpstein liegend, das Land gegen Süden steil und waldig ins Rheintal fallend, während sich nach Westen ein endloses Wiesengrün wellt.
Hier, auf 1100 Metern, begegnet man an perfekten Sommertagen noch Menschen, die sich keinem Schönwetterprogramm unterwerfen. Zum Beispiel Fitz Hugh Ludlow. Ich lerne den Amerikaner ganz unverhofft in der Hotelbibliothek kennen, wo ich der einzige Besucher zwischen 12 000 Büchern bin (der Rest der Hotelpassagiere hat sich in roten Wandersocken
über die Hügel davongemacht). Und so streife ich voller Abenteuerlust über die Buchrücken – bis ich einen Band mit dem Titel «Der Haschischesser» in den Händen halte. Interessant, denke ich, denn auf Literatur dieser Art stösst man im Appenzellerland nicht alle Tage. Ich schlage auf und lese: «Auf diesem Spaziergang sah ich eine der merkwürdigsten Erscheinungen, die mir je unter die Augen gekommen ist. Jeder Sonnenstrahl wurde in seine Spektralfarben zerlegt; wo auch in der Landschaft ein Lichtstrahl hinfiel, zwischen Felsen und Bäume, er glich einem prismatischen Pfad zwischen Erde und Himmel.»
Verfasser dieser lyrischen Zeilen ist der Schriftsteller und Reisejournalist Fitz Hugh Ludlow, geboren 1836 in New York, Sohn eines Humanisten und Predigers, Verfasser von Essays, Romanen und Reportagen, skandalumwittert seit der Veröffentlichung seiner Selbsterfahrungsberichte als «Haschischesser» im Jahr 1851. In Begleitung seiner Ehefrau Rosalie und seines Jugendfreunds, des Landschaftsmalers Albert Bierstadt, unternahm Ludlow 1863 eine ausgedehnte Reise durch die Rocky Mountains, das Yosemite Valley und Oregon. Bierstadt malte gigantische Wildwest-Landschaften für reiche Ostküstensammler, während Ludlow schwärmerische Berichte für das Magazin «Atlantic Monthly» schrieb. Haschisch, Opium und Alkohol dürften zeitweilige Fantasiebeschleuniger gewesen sein. Die Künstlerfreundschaft fand ein jähes Ende, als Bierstadt am Ende der Reise seinem Freund die Frau ausspannte. Er heiratete sie im selben Jahr. Ludlow starb 1870 an den Folgen seiner Opiumsucht, Bierstadt 32 Jahre später vereinsamt und bankrott.
Ich blicke aus dem Fenster, wo sich eine Kumuluswolke hinter dem Hohen Kasten mürrisch in die Höhe türmt. Könnte auch in den Rocky Mountains sein, denke ich, quälte sich im Vordergrund nicht gerade eine Gruppe Velofahrer die letzten Meter zum Café Breu hinauf. Als gegen Abend die ersten Spazierwütigen ins Hotel zurückkehren, überlege ich mir bei einem Glas Weissen und einem Stück Appenzeller, wer die Reise Ludlows und Bierstadts durch den Wilden Westen besser verfilmen würde: die Coen Brothers oder Terry Gilliam? Später, der Himmel hinter dem Alpstein hat sich längst blutrot verfärbt, streife ich auf der Suche nach weiteren Abenteuern noch einmal über die Buchrücken in der Bibliothek. Mein Blick bleibt bei einem Band mit dem Titel «Gibt es eine ausserirdische Basis auf Puerto Rico?» hängen. Interessant, denke ich und schlage das Buch auf.
Hotel Alpenhof, St.-Anton-Strasse 62, Oberegg AI, Tel. 071 890 08 04, www.alpenhofalpenhof.ch, DZ mit Bad im Flur ab 100 Fr., mit eigenem Bad ab 140 Fr.
Bibliothek Andreas Züst, www.andreaszuest.ch/bibliothek.php
Die Bibliothek im «Kulturfrachter» und Selbstkochhotel Alpenhof bei Oberegg ist keine gewöhnliche: Die 12 000 Bände enthalten nebst Belletristik auch Fachliteratur zu Fotografie, Kunst, Philosophie, Geologie, Ufologie oder Vulkanologie. Sie gehört zum Nachlass des Zürcher Glaziologen, Wetterbeobachters, Fotografen, Malers, Verlegers, Filmproduzenten, Kunstsammlers und Mäzens Andreas Züst (1947–2000). Auch für Nicht-Hotelgäste offen.