Der Dokfilm über die britische Sängerin Amy Winehouse liess das Premierenpublikum in Cannes verstummen. Vor Betroffenheit. Nicht zuletzt, weil Regisseur Asif Kapadia ihm einen Spiegel vorhielt.
Amy Winehouse, wie sie torkelnd ein Konzert abbricht? Kennen wir. Amy Winehouse, die high und nur in Unterwäsche gekleidet zwischen Mülltonnen in Camden herumstreunt und ihr Zuhause nicht mehr findet? Kennen wir. Die verkokste Chanteuse, von der nach ihrem Tod alle behaupten, sie geliebt zu haben – auch diejenigen, deren Winehouse-Halloweenkostüm noch im Schrank hängt, mit dem sie sich im Jahr zuvor die Lacher der Nachbarn sicherten? Wir kennen sie. Wir nennen sie beim Vornamen, meinen alles über sie zu wissen.
Tun wir nicht. Jedenfalls kennen wir sie nicht so: Amy als Mädchen, etwas pummelig, die Zähne ein wenig schief, das Lachen umso breiter. Sie legt den Kopf leicht schräg, kokettiert mit der Kamera, hält kurz inne und dann – diese Stimme! Es ist nur ein Happy-Birthday-Ständchen für ihre Schulfreundin, aber es reicht aus, um zu ahnen: In diesem Schulkind schlummert ein Megastar. Ein Jahrhunderttalent.
Die Sequenz aus «Amy», dem Dokfilm von Asif Kapadia, hat es in sich. Und ist doch nur der Beginn einer tragischen, stillen filmischen Reise, die ohne Sensationslust und moralischen Zeigfinger auskommt – und gerade deswegen so herzzerreissend ist. «Amy» erzählt die Geschichte einer Sängerin, ja. Aber ebenso ist «Amy» eine Geschichte über uns. Wer hat nicht schon zu «Rehab» getanzt, geklatscht und fröhlich «no, no, no» mitgesungen? Dabei braucht man nur hinzuhören, um das Drama zu erahnen: «They tried to make me go to rehab, but I said no, no, no.» Ein Hilfeschrei als Partybombe. The Story of her Life.
Als Regisseur Asif Kapadia, der vor fünf Jahren mit einer Doku über den 1994 tödlich verunfallten Rennfahrer Ayrton Senna für Furore sorgte, am Tag nach der Filmpremiere in Cannes in der gleissenden Sonne sitzt, wirkt er ein wenig erledigt. Schuld ist keine Premierenparty – eine solche gab es nämlich nicht. «Es hätte sich einfach furchtbar falsch angefühlt», sagt der Regisseur nachdenklich. Und hat natürlich Recht, obwohl der Film eine ordentliche Feier verdient hätte. Dass der Londoner, der sich für die Arbeit an «Amy» fast fünf Jahre lang quasi verbunkert hat, nun in einem noblen Beachclub sitzt, während an den Nebentischen eine Magnum-Champagnerflasche nach der anderen geköpft wird, mutet an wie ein traurig-ironischer Epilog des Films. Ein wenig wirkt Asif Kapadia, 43 Jahre alt, wie ein Maulwurf, der, soeben aus seinem Loch gekrochen, hilflos in die Sonne blickt. Er scheint sich unwohl zu fühlen, entschuldigt sich für die laute House-Musik.
Diesen Film zu machen, sei nicht seine Idee gewesen, sagt er, sondern ein Auftragsangebot. Amy Winehouse kannte er nur vom Hörensagen, zu ihrer Musik hatte er keine besondere Beziehung. «Ich habe nie verstanden, warum sie so berühmt wurde. Sie war doch eigentlich ein ganz normales Mädchen aus meiner Nachbarschaft», sagt der Regisseur. Und dann fügt er leise hinzu: «Wissen Sie, das ist wirklich furchtbar und beschämend, aber als ich von ihrem Tod erfuhr, dachte ich, dass es bestimmt besser für sie ist. Was für ein schrecklicher Gedanke, wenn man vom Tod einer 27-Jährigen erfährt!»
«In ihren Texten liegt die Geschichte»
Warum also ein Film über Amy Winehouse, man könnte sich ja auch einfach auf Youtube durch all die Videos klicken? Asif Kapadia dreht nervös sein Wasserglas. «Diese Frage quälte mich lange. Jeder kennt sie, und alle kennen das Ende. Aber als ich mich mit ihrer Musik zu beschäftigen begann, merkte ich: Da ist alles drin, in ihren Texten liegt die Geschichte.» Indem er die Songzeilen, fast wie beim Karaoke, immer wieder einblendet, entschlüsselt Asif Kapadia das Porträt einer Frau, die sich mit dem Schreiben ultrapersönlicher Songs ihr eigenes Monster erschafft. Was sie trieb, war nicht der Wunsch nach Ruhm, sondern ein existenzieller Zwang. «Ich würde nie etwas schreiben, das nicht direkt persönlich mit mir zu tun hat», sagt sie in einem Interview während der Promotour zum ersten Album «Frank». Und: «Ich glaube nicht, dass ich jemals berühmt werde, ich könnte gar nicht damit umgehen, ich würde verrückt werden.» Erst Jahre später, als sie auf dem umjubelten Höhepunkt ihres Erfolgs mit «Back to Black» ein Video von sich selbst sieht, stellt sie erstaunt fest. «Wow! Ich kann singen!» Das sagt viel über die Unsicherheit der Sängerin aus. Und schaut sie dann direkt in die Kamera, kann man ihrem Blick kaum standhalten. Hätten wir etwas tun können?
Asif Kapadias Sorge um die Relevanz seines Films war unbegründet. Schon am Tag nach der Premiere wird die Dokumentation als Meisterwerk gehandelt. Am Abend zuvor herrschte beim Abspann betroffene Stille im ansonsten aufgeregten Palais des Festivals – so als hätten sich alle, auch die Reichen und Schönen von Cannes, soeben erkannt im Spiegel, den einem der Regisseur da gerade vorgehalten hat – für einen kurzen Moment, immerhin. Danach schoss man wieder munter seine Selfies, man musste ja beweisen, dass man zu den Lucky Few, den Auserwählten, gehört, die eine Red-Carpet-Einladung hatten.
Asif Kapadia zeigt Szenen vom sich mokierenden Junkie-Ehemann Blake Fielder-Civil, der Winehouse in eine Entziehungseinrichtung bringt, sie dort filmt und zwingt, ihren Gassenhauer in die Kamera zu singen. «Come on Amy, we are in rehab, let’s sing ‹Rehab›!» Ein anderes Mal macht er sich darüber lustig, selbst kein Geld zu haben, obwohl die Bar-Rechnung bereits astronomische Ausmasse angenommen hat: «Ach, Amy ist ja da! Wenn das so ist – noch eine Flasche Dom Pérignon!» Er zeigt Szenen von einem opportunistischen Vater, der die Tochter im Delirium ins Flugzeug packt und nach Bilbao fliegt, wo er sie eigenhändig auf die Bühne bugsiert. «Sie braucht keine Hilfe, sie hat Termine», sagt er geschäftstüchtig in die Kamera. In Bilbao wird Winehouse von ihrem Publikum ausgebuht und weigert sich daraufhin – das einzige bisschen Macht, das ihr noch bleibt –, den Mund aufzumachen. Wie ein trotziges Kind, das das Essen verschmäht, weil es sich ungerecht behandelt fühlt. «Sie tat nie, was ich sagte», hört man die Mutter traurig sagen, und man wird das Gefühl nicht los, dass die sensible Amy die notorischen Betrügereien des Vaters und die Trennung der Eltern nie verkraftet hat. Den Satz des Vaters, «sie kam total schnell über unsere Scheidung hinweg», lässt Regisseur Asif Kapadia unkommentiert im Raum stehen und spielt stattdessen einen Konzertmitschnitt von «What Is It About Men» ein: eine Abrechnung mit den manipulativen, scheinheiligen Männern in ihrem Leben. «My destructive side has grown a mile wide / And I question myself again: what is it ’bout men?» Was ist nur los mit den Männern? Diese Frage ist keine Koketterie.
Asif Kapadia hat mit über hundert Menschen aus dem Umfeld der Sängerin gesprochen. Ihr Vertrauen zu gewinnen, war nicht einfach. «Alle, die Amy sehr nahestanden, hatten einen Pakt geschlossen, nie ein Wort über sie zu verlieren, weil es direkt nach ihrem Tod einige üble Leute gegeben hatte, die versucht hatten, mit der Geschichte Geld zu machen», sagt er. «Aber ich fühlte auch, dass diese Menschen – vor allem ihre zwei engsten Freundinnen – reden mussten. Es war wie Therapie, ich habe das Licht ausgeschaltet und sie einfach erzählen lassen.» Bis es so weit kam, vergingen neun Monate, immer wieder sagten die Freundinnen zu und kurzfristig ab. «Es sind gebrochene Frauen. Von den glücklichen Mädchen, die man im Film sieht, ist nichts übrig geblieben. Sie sind stark gealtert, haben dramatisch an Gewicht verloren und müssten dringend in Behandlung.» Zur Premiere wollten die Freundinnen nicht kommen, aber sie haben Glückwünsche gesandt.
Es geht darin um Amy
Ganz im Gegensatz zu Mitchell Winehouse. Der Vater der Sängerin hat sich, nachdem er den Film dreimal gesehen hatte, öffentlich von «Amy» distanziert. Sein Statement: «Das hätte meine Tochter nicht gewollt.» Verletzt so etwas? Immerhin hat Mitchell Winehouse stundenlange Interviews gegeben und persönliches Material zur Verfügung gestellt. Asif Kapadia zuckt mit den Schultern, seine Stimme wird leiser. «Wissen Sie, ich bin ein grosser Junge», sagt er knapp und denkt dann lange schweigend nach. «Mitchell Winehouse ist ihr Vater. Natürlich will er einige schmerzhafte Dinge nicht wahrhaben, das kann ich verstehen. Aber nichts von meinem Film ist erfunden. Es geht darin nicht um ihn, sondern um sie. Amy Winehouse war eine komplexe Persönlichkeit mit verschiedensten Facetten – sie hat jedem eine andere Seite gezeigt. Manche sagen, sie war ein verdammter Gangster, andere sagen, sei war die zarteste, liebenswürdigste Person auf Erden.»
Asif Kapadia sagt, «Amy» sei ein Film über Liebe. Tatsächlich scheint «Amy» jedoch mehr ein Film über Schuld zu sein. Über Schuld, die wir alle in uns tragen. Es ist ein Film über unsere krankhafte Faszination für destruktive Künstler, die Glorifizierung des «27-Club» (der im Film übrigens nicht einmal erwähnt wird) und unser «Wegsehen», wenn wir ganz offensichtlich wissen, dass etwas nicht stimmt. Es ist ein Film über eine Art von Berichterstattung, die mit Journalismus schon längst nichts mehr zu tun hat, und über die, die diese konsumieren.
Eine Szene, in der die Paparazzi schamlos ihre Kameras auf Amy Winehouse halten, als diese tränenverschmiert und orientierungslos zusieht, wie ihr Ehemann von Polizisten abgeführt wird, ist kaum zu ertragen – auch weil man sich die Bilder vielleicht selbst in der Yellow Press angeschaut und sich das Maul zerrissen hat. Über öffentliche Personen darf man nach Belieben richten, man darf sie feiern und vernichten – wozu sonst sind sie da? Und eine Frau, die ausser Kontrolle gerät, scheint in dieser sensationslüsternen Zeit noch immer eine der grössten Provokationen unserer Gesellschaft zu sein. Die weit grössere Attraktion als ein gefallener Mann. Statt Mitleid oder Nachsicht wird Häme über sie verschüttet: Die «Bild»-Zeitung nannte die Sängerin «Amy WEINhouse». «Junkie-Schlampe» oder «magersüchtige Crackhure» sind nur zwei der Schimpfwörter, die man auf Anhieb im Netz findet. Ähnliches spielte sich mit Frauen wie Lindsay Lohan, Britney Spears oder Amanda Bynes ab. Nichts dergleichen passierte, als Keith Richards oder Peter Doherty kaputt durchs Leben strauchelten.
Asif Kapadia greift solche Gedanken in seinem Film auf, indem er Sequenzen des US-Komödianten Jay Leno einspielt, der sich über die Drogensucht der Sängerin lustig macht. Kurz zuvor hatte sie der Showmaster noch stolz als Stargast in seiner Sendung präsentiert. Jetzt lacht die ganze Welt über die Winehouse. Die Sucht als Unterhaltungsfaktor und Corporate Identity. Somit war ihr Tod mit 27 Jahren aus Sicht der Marketingabteilung nur konsequent und gut fürs Geschäft.
Hat man «Amy» gesehen, wird man nur noch schwer zu «Rehab» tanzen können. Viel zu laut dröhnt einem folgender Satz im Kopf: «Wenn ich meine Gabe zurückgeben könnte, nur um einmal ohne Aufregung über die Strasse gehen zu können – ich würde.»