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Amnesie – Der Mann ohne Vergangenheit

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Amnesie – Der Mann ohne Vergangenheit

  • Text: Claudia SennFotos: Nina Lüth

Wer bin ich? Jonathan Overfeld sitzt auf einer Bank und weiss nicht mehr, wer er ist. Das Protokoll einer langwierigen und betrübenden Suche nach der eigenen Vergangenheit.

Jonathan Overfeld sitzt eines Tages auf einer Bank und weiss nicht mehr, wer er ist. Sein ganzes Leben ist ihm entfallen. Erst Monate später findet er heraus, dass es dafür gute Gründe gibt.

Von der ersten Sekunde an hat er rasende Angst. Sein Herz hämmert, der Atem geht stossweise. Kalter Schweiss lässt das Hemd am Körper kleben.

Er weiss nicht, wer er ist. Er weiss auch nicht, wo er ist. Er weiss noch nicht einmal, dass das, worauf er sitzt, eine Bank ist und das Grosse neben der Bank ein Baum. Er weiss überhaupt nichts mehr. In ihm ist nur Leere, ein gigantisches weisses Rauschen. «Diese ersten Minuten», sagt er später, «waren die schlimmsten, die ein Mensch erleben kann.» Ein bisschen weiter entfernt sieht er Plastiktische, Stühle, Sonnenschirme – ein Café. Er geht darauf zu, setzt sich an einen der Tische und erschrickt, als plötzlich eine Stimme hinter ihm fragt: «Was darf es sein?» Wieder bricht ihm der Schweiss aus. Was soll er antworten? Hilfesuchend blickt er zum Nachbartisch, zeigt auf eine Tasse und sagt: «Das da.» Die Kellnerin bringt ihm etwas, das aussieht wie heisse Milch. «Bitte schön, Ihr Cappuccino.» Hat er Milch bestellt? Der Geschmack ist aber nicht der von Milch. Das ist Kaffee, das weiss er. Endlich etwas, das er weiss. Später taumelt er durch die ihm vollkommen fremde Stadt. Aus den Autonummern schliesst er, dass es sich um Hamburg handelt. Lebt er in Hamburg? Seit wann lebt er in Hamburg? Und wo? Langsam kehren die Wörter zurück, nicht jedoch die Erinnerungen. Er spiegelt sich in der Scheibe eines Schaufensters und erkennt, dass der grauhaarige Mann, der ihm entgegenblickt, er selbst sein muss. Er ist also grauhaarig. Und nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt. Doch wie heisst er? Hat er einen Beruf? Hat er eine Frau? Kinder, Eltern, Freunde – vielleicht Feinde?
Ja, so muss es sein: Er hat Feinde. Jemand muss ihm eine Droge verabreicht haben! Das ist die Erklärung für alles! «Suchen Sie etwas?», spricht eine besorgte Passantin den verwirrten Mann an. «Ja», sagt er, «ich suche mich selbst.»

Noch am selben Tag, dem 12. April 2005, wird er ins Spital eingeliefert. Der Drogentest ist negativ. Er hat auch keinen Hirnschlag erlitten, keinen epileptischen Anfall, keine Kopfverletzung. EKG und Blutwerte sind normal. Also ein Fall für die Psychiatrie. Dort hört er zum ersten Mal dieses Wort: Fugue – Flucht. Fugue-Patienten flüchten nicht nur ins Vergessen, so erklärt ihm der Arzt, manche finden sich auch Hunderte oder sogar Tausende Kilometer von zuhause wieder. Auslöser einer solchen Amnesie ist Ausweglosigkeit, unerträgliche Angst, Panik. Es ist ein extrem seltenes Krankheitsbild, das nur wenige Psychiater jemals zu Gesicht bekommen.

Doch wovor soll er weggelaufen sein? Schweissnass wälzt er sich nachts im Bett. Ist er in ein Verbrechen verwickelt? Hat er vielleicht sogar jemanden umgebracht? Alles ist möglich, auch das Allerschlimmste. Zwei Polizisten nehmen seine Fingerabdrücke und geben bald Entwarnung: «Wenn Sie eine Bank überfallen hätten, dann wüssten wir das.»

Bald erscheint ein Aufruf in der Lokalzeitung «Hamburger Morgenpost». «Wer kennt diesen Mann?» steht unter seinem Foto. Niemand meldet sich. Doch in Berlin hat eine Frau eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Alter und Beschreibung passen, bis in die Details. Die Frau sagt, dass seine beiden kleinen Finger verkrüppelt seien. Das ist ihm auch schon aufgefallen, er hat bloss keine Ahnung, woher die Verletzung stammen könnte. Der Name des Verschwundenen ist Heinz-Jürgen Overfeld, genannt Jonathan. Die Frau heisst Jutta und sagt, Jonathan und sie seien lange ein Paar gewesen. Sie will so schnell wie möglich herkommen, doch am nächsten Tag ruft sie den Arzt an und sagt das Treffen wieder ab: «Es ist besser so, für uns beide.» Immerhin steht bald fest, dass er tatsächlich Jonathan Overfeld ist. Endlich hat er einen Namen. Und er weiss nun auch, woher er kommt. Die Ärzte verlegen ihn in eine Klinik in Berlin.

Freunde tauchen auf. Ein gewisser Uli erzählt ihm, dass Jonathan als Koch gearbeitet hat und als Kellner, dass er alte Autos und guten Whiskey mag. Dass er gemeinsam mit Jutta Kaninchen und Meerschweinchen hatte und einen Husky namens Haifa. «Mensch, Jonathan, an den Hund musst du dich doch erinnern!», sagt Uli. Doch egal, wie sehr Overfeld sich anstrengt, es nützt nichts. Das Denken ist wie gefesselt. Der Mann, der ihm von Uli beschrieben wird, bleibt für ihn so fremd wie Uli selbst.

Heute ist Jonathan Overfeld 59 Jahre alt. Die Ereignisse von damals sind sechs Jahre her. Overfeld ist ein kräftiger Mann, der manchmal seltsam unruhig wirkt und eine Selbstgedrehte nach der anderen raucht. Er ist keiner, der jedes Wort auf die Goldwaage legt. Lieber spricht er so, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Inzwischen hat er einiges über sich herausgefunden: «Ich bin pünktlich, zuverlässig, ehrlich, ungeduldig und manchmal jähzornig», sagt er. «Ich liebe Musik, dunkle Schokolade, Rotwein, fahre leidenschaftlich gern Fahrrad und mag Sauna. Ich provoziere gern.» Jonathan Overfeld weiss das nicht, weil er sich wieder an seine Vergangenheit erinnert. Grosse Teile davon liegen noch immer im Dunkeln. Aber er hat sich in den vergangenen Jahren ke nnen gelernt. So wie man einen Fremden kennen lernt.

Er empfängt die Reporterin in seiner Wohnung in Berlin-Neukölln. Es ist eine gemütliche Junggesellenbude, ganz anders als jene vor sechs Jahren, von der man ihm gesagt hatte, sie sei seine, und die ihm vorkam wie ein Grab. Am Klingelschild stand sein Name. Doch in den Räumen waren bloss wenige schäbige Möbel. Wie kann jemand so wohnen, dachte er. Die Wohnung machte ihm Angst. Nicht eine einzige Spur fand er darin, die ihn zu sich selbst hätte führen können, abgesehen von einer leeren Packung Tabak.

Auf sein jetziges Heim ist Jonathan Overfeld stolz. «Diese Wohnung ist meine erste, die diesen Namen auch verdient.» Es gibt liebevoll ausgesuchte Einrichtungsgegenstände, Bilder, Nippes. Zuvor hatte er dreissig Jahre lang nur aus Kartonschachteln gewohnt. 62-mal ist er umgezogen. Das hat er recherchiert, wie ein Privatdetektiv, der sich selbst hinterherschnüffelt. Warum die vielen Umzüge? «Ich war wohl immer irgendwie auf der Flucht.» Wovor denn? «Vor meinen Erinnerungen, nehme ich mal an.» Jetzt muss er keine Angst mehr haben, sagt Jonathan Overfeld. Doch bis dahin war es ein weiter Weg.

Einige Wochen schon ist er in der Berliner Klinik, da setzt er sich im Aufenthaltsraum ans Klavier. Er hebt den Deckel und legt die Finger auf die Tasten. Das Präludium C-Dur des ersten Teils des «Wohltemperierten Klaviers» von Johann Sebastian Bach erklingt. Die Musik ist einfach da, in seinen Händen, er braucht keine Noten. Fasziniert lauschen ihm einige Mitpatienten und Schwestern. Doch als der Applaus einsetzt, blickt Jonathan Overfeld in einen Abgrund.

Erst ist da ein Gefühl: Abscheu, Ekel. Dann steigen Bilder in ihm auf. Er sieht sich selbst als Bub mit blonden Locken an einem weissen Flügel sitzen, in einem grossen Haus an der Nordsee. Da sind eine Dame und zwei Herren, die ihm Sekt einflössen. Dann soll er sich ausziehen, und auch die Frau ist plötzlich nackt. Jonathan versteht nicht, was von ihm verlangt wird. Da droht der eine Mann, ihm den Finger abzuschneiden, wenn er nicht willig ist … Jonathan Overfeld schlägt das Klavier zu und rennt völlig ausser sich über den Stationsgang. Der Arzt muss ihm ein Medikament spritzen, zur Beruhigung.

Es ist typisch, dass ausgerechnet das Klavierspiel eine Pforte zu seiner Vergangenheit geöffnet hat. Trigger nennt die Hirnforschung solche Türöffner verschütteter Erinnerungen. Oft sind es Gerüche und Geschmäcker, das Timbre einer Stimme, ein Wort oder eben ein Musikstück – und alles ist wieder da.

Doch nach der Erinnerung an die Vergewaltigung in jenem Haus an der Nordsee, die ihn mit solcher Wucht überfallen hat, macht sein Gehirn wieder die Schotten dicht. Keine weiteren Bilder tauchen auf. Er wird aus der Klinik entlassen. Die Ärzte können nichts mehr für ihn tun. Einer rät ihm, eine Biografie nach seinen Wünschen zu erfinden. Jonathan Overfeld, der nun wieder weiss, wie sehr er die Musik liebt, fantasiert sich ein Leben als Konzertpianist zurecht. Er versucht, seine Vorstellung mit so vielen Details wie möglich auszuschmücken, um sie mit Leben zu erfüllen, ruft sich die barocke Pracht der Konzerthäuser vor Augen, die glanzvollen Auftritte und Reisen. «So kann man sich eine Weile über Wasser halten. Aber irgendwann dringt die Wirklichkeit durch, und du weisst: Was du dir da einbildest, ist alles Quatsch.»

Ohne Vergangenheit, so heisst es, gibt es keine Zukunft. Für Jonathan Overfeld gibt es ohne Vergangenheit auch keine Gegenwart. Nachdem die Illusion, seine Biografie erfinden zu können, geplatzt ist, verkriecht er sich in seiner Wohnung oder streift ziellos umher, in ständiger Angst, dass ihn jemand erkennen könnte. Er will nicht von Menschen angesprochen werden, die etwas über ihn wissen, was er nicht weiss. Wenn ihm jeder fremd ist, so will auch er allen fremd sein. An Arbeit ist nicht zu denken. Fragen, selbst jene von Unbekannten, versetzen ihn in Panik. Nachts wird er von Schlaflosigkeit gequält, denn seine Seele wagt es nicht, sich Träumen hinzugeben. Immer mutloser, immer dünnhäutiger und einsamer wird er. «Ich könnte schreien, lasse es aber, es hört mich ja doch niemand», schreibt er in sein Tagebuch. Einmal sitzt er auf einer Bank, und ein Spatz setzt sich auf seinen angebissenen Apfel. Er denkt: Endlich ein Lebewesen, vor dem ich keine Angst habe.

der Gedanke an den Tod kommt ihm vor wie eine Erlösung. Wozu weitermachen? Er ist ja doch «unfähig für alles». Als er eines Nachts am Perron steht und die Lichter der S-Bahn wie zwei Augen auf sich zukommen sieht, weiss er, es ist ganz einfach. Eine Sekunde nur, und schon wird sein Leiden ein Ende haben. Im letzten Moment reisst ihn ein Obdachloser am Ärmel zurück. «Ey, Alter», sagt der in breitem Berlinerisch, «ick kenn det och. Lass uns lieber wat trinken jehn.» Jonathan Overfeld gibt ihm ein Bier aus. Und dann gleich noch eins. Und noch eins.

In seiner jetzigen Wohnung stehen goldene Putten. Man könnte sie kitschig finden, doch für Overfeld haben sie grosse Bedeutung. Jede von ihnen repräsentiert einen der Menschen, die ihm aus der grössten Krise seines Lebens herausgeholfen haben. Auch für den Clochard auf dem S-Bahn-Perron gibt es einen solchen Engel. Ein anderer steht für den Psychologen Kai-Uwe Christoph, der ihn lange begleitet hat. Ein weiterer für den Journalisten Kuno Kruse, der ihn dabei unterstützte, die Abgründe seiner Vergangenheit auszuleuchten – anfangs aus journalistischem Interesse, dann auch aus Freundschaft. Vor ein paar Monaten hat Kruse über Overfelds Geschichte ein Buch veröffentlicht *, einfühlsam und spannend wie ein Thriller.

Auch für Hans Markowitsch, Professor für Physiologische Psychologie an der Universität Bielefeld, gibt es eine goldene Putte. Er gehört zu den renommiertesten Hirnforschern Deutschlands.
Markowitsch hat mehr als dreissig Amnesiepatienten untersucht, die ihr Gedächtnis aus psychischen Gründen verloren haben. Sie alle zeigten Hirnschäden, wie sie sonst nur nach Unfällen
vorkommen, und zwar stets an derselben Stelle: im rechten Schläfenlappen.

Hans Markowitsch macht mit Jonathan Overfeld sogenannte Lügendetektionstests, die auch Gerichtsgutachter nutzen, um falsche Aussagen zu entlarven. Overfeld besteht sie alle. Dann schickt der Hirnforscher seinen Patienten ins Kölner Max-Planck-Institut, wo sein Gehirn von einem Positronen-Emissions-Tomografen durchleuchtet wird. Dort, wo das biografische Gedächtnis lokalisierbar ist, hat die Aufnahme eine dunkelblaue, fast violette Farbe. Das bedeutet: keinerlei Aktivität. Die biochemischen Prozesse in diesem Teil des Gehirns stehen still. Nun weiss der Hirnforscher mit Sicherheit: Jonathan Overfeld ist kein Simulant.

Fast alle Amnesiepatienten, die Hans Markowitsch untersucht hat, haben etwas gemeinsam: eine Kindheit voller Gewalt und Erniedrigung. Nur 15 Prozent von ihnen haben ihr Gedächtnis wiedererlangt. Doch dann sind es meist die Kindheitserinnerungen, die zuerst zurückkommen, während die Details des Erwachsenenlebens viel schwerer greifbar sind. Es ist wie bei jenen Alzheimerpatienten, die zwar vergessen, mit wem sie verheiratet sind, sich aber problemlos an die Höhepunkte ihrer Jugend erinnern. Die Gedächtnisforschung bringt das auf die Formel «Last in, first out».

Jonathan Overfeld sitzt eines Morgens in der Küche. Viele Monate sind seit seinem Austritt aus der Klinik vergangen. Zum Spass hält er die Kaffeetasse mit einem seiner verkrüppelten kleinen Finger. Da ergiesst sich plötzlich ein ganzer Strom von Erinnerungen über ihn. Er ist wieder acht Jahre alt. Da ist eine Baumhütte, sein Reich, nur er und sein Schäferhund Phylax wissen davon. Er glaubt, was ihm die beiden Männer und die Frau in dem Haus an der Nordsee angetan haben, sei nur passiert, weil er so gut Klavier spielen könne. Also muss Schluss sein mit dem Klavierspiel. Sofort! Der Achtjährige nimmt einen dicken Birkenknüppel und haut sich die beiden kleinen Finger zu Matsch.

Diese Erinnerung öffnet die Tür zu vielen weiteren, nicht weniger schrecklichen Erlebnissen aus der Vergangenheit. Jonathan Overfeld durchlebt seine traumatische Kindheit ein zweites
Mal. Es ist eine Kindheit ohne Eltern, mit unzähligen Stationen in Pflegefamilien und katholischen Heimen, in denen er geprügelt, gequält, gedemütigt, sexuell missbraucht wird. «Euch hat man vergessen zu vergasen», sagt einmal ein Vorarbeiter in einer Fabrik, wo Jonathan und andere Kinder in Zwangsarbeit Rücklichter für den VW Käfer montieren. Er spricht damit aus, was in den Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren viele denken: Die Heimkinder sind Bastarde, wertloser Abschaum. Viele der katholischen Heime – auch in der Schweiz und anderen Ländern – gleichen in jener Zeit eigentlichen Foltergefängnissen, in denen den Kindern mit Gewalt und Sadismus «der Wille gebrochen» werden soll.

«Manchmal, wenn mir wieder eine besonders eklige Erinnerung hochkam, habe ich gedacht, das müssen Hirngespinste sein. Das ist zu extrem. So was kann kein Kind überleben», sagt Jonathan Overfeld. Doch dann findet er Leidensgefährten von damals, die, geknebelt und gefesselt, bei den Quälereien zusehen mussten. Es gibt Einträge in Akten, die seine Erinnerungen
bestätigen. Viele Protagonisten leben noch. Man kann sie zu den Vorfällen befragen, auch die Täter.

Einer von Overfelds brutalsten Peinigern, Pater V., ist heute Träger des deutschen Bundesverdienstkreuzes. Wenn er Jonathan vergewaltigte, hörten die Schmerzen danach oft tagelang nicht mehr auf. Niemals ist V. für seine – inzwischen verjährten – Taten belangt worden. Jonathan Overfeld nimmt seinen ganzen Mut zusammen. Er sucht V. auf und konfrontiert ihn mit den Verbrechen, die der Pater an seinem Zögling begangen hat. «Man muss auch mal vergessen können», sagt der Priester. «Finden Sie Ihren Frieden in Gott.»

Was ist schlimmer, Herr Overfeld, die Amnesie oder die Erinnerungen? Die Amnesie, sagt Overfeld ohne jedes Zögern. «Ich möchte meine Erinnerungen komplett und zusammenhängend
wiederhaben. Da werden doch bestimmt auch ein paar schöne Sachen dabei gewesen sein.» Zurückbekommen hat er bisher nur seine unbehütete Kindheit. Noch immer sind die letzten vierzig Jahre «komplett weg», bis auf kleine Fragmente, die manchmal schemenhaft, wie durch eine Milchglasscheibe, aufscheinen und wieder verschwinden. Noch immer fragt sich Jonathan Overfeld: Wer bin ich wirklich?

Manchmal, wenn er am Klavier sitzt, geschehen rätselhafte Dinge mit ihm. Overfeld kommt «unter Null», wie er es nennt. Er gerät in eine Art Trance und findet sich Stunden oder Tage später in einer anderen Stadt wieder, ohne Erinnerung daran, wie er dort hingelangt ist. Stets passiert es, wenn er in Es-Dur spielt, seiner Lieblingstonart, die ihm schon unter die Haut geht, wenn er nur an sie denkt. «Gucken Sie mal», sagt er und zeigt der Reporterin die Gänsehaut an seinem rechten Arm.

Siebenmal ist das bisher passiert. Dann hat er sein Klavier weggegeben. Jetzt spielt Jonathan Overfeld nur noch in seiner Stammkneipe, dem «Froschkönig», wo seine Ex-Freundin Jutta auf ihn aufpasst und ihn vom Klavier wegzieht, wenn sein Blick so komisch ins Unendliche schweift.

Jutta ist nun wieder einer der wichtigsten Menschen in seinem Leben, sie wohnt gleich um die Ecke. Auch für sie gibt es einen goldenen Engel im Regal. Zwei Jahre nachdem sie ihn vermisst gemeldet hatte, war sie doch noch zu einem Treffen bereit. Es dauerte bis fünf Uhr morgens, so viel hatten die beiden zu bereden. Für sie war es, als ob es die zwei Jahre Funkstille gar nie gegeben hätte. Für ihn war sie eine neue Bekannte.

Ein Liebespaar sind sie nicht mehr geworden. «Wenn ich zu einer Frau eine emotionale Beziehung habe, dann kann ich nicht mit ihr ins Bett gehen», sagt Overfeld, «das ist für mich verbrannte Erde. Das haben mir diese Verbrecher kaputt gemacht.» Aber Freundschaft – das geht. Auch früher schon sei ihre Beziehung wohl eher freundschaftlicher Natur gewesen. Jutta ging immer wieder andere Partnerschaften ein. Jonathan Overfeld blieb als guter Freund und Vertrauter an ihrer Seite, bis sie nach seinem Verschwinden einen Schlussstrich ziehen wollte.

Wenn Jutta früher versuchte, etwas über seine Kindheit in Erfahrung zu bringen, bekam sie nie eine Antwort von ihm. «Jonathan, da war doch was», drang sie in ihn. «Nein, da war nichts», beteuerte Overfeld, aggressiv und panisch wie ein Tier in der Falle. «Früher waren bei Jonathan immer Schatten da. Irgendetwas, das seine Fröhlichkeit nicht richtig fröhlich sein lassen wollte und seine Liebenswürdigkeit nicht richtig liebenswürdig. Etwas war immer unstimmig», sagt Jutta heute. «Aber seit der Amnesie sind diese Schatten weg.»

Jonathan Overfeld sagt, er sei ein glücklicher Mensch. «Ich bin rundum zufrieden.» Ein Mann mit seiner Vergangenheit hätte ja auch zur Flasche greifen oder Drogen nehmen können – «stattdessen habe ich das Glück gehabt, ‹nur› eine Amnesie zu bekommen». Um seinen Lebensunterhalt muss er sich nicht sorgen. Bald nach seinem Spitalaufenthalt hat er eine Rente zugesprochen bekommen. Es bleibt ihm ein unerfüllter Wunsch: dass er eines Tages sein Klavier wiederbekommt, das aus Sicherheitsgründen noch immer bei einem Freund untergestellt ist. «Es darf nicht sein, dass Pater V. und die anderen bis heute so viel Gewalt über mich haben, dass ich meiner Leidenschaft nicht frönen kann.»

Mehrmals pro Woche zwingt ihn sein Gehirn in die schlimmsten Erinnerungen seiner Kindheit hinein. Dann nimmt er den iPod, auf dem er seine 28 Lieblingssinfonien abgespeichert hat, setzt sich den Kopfhörer auf und geht auf dem stillgelegten Flughafen Tempelhof spazieren. Einige Stunden konzentriert er sich nur auf die Musik. Manchmal sieht er sich dabei selbst am Flügel sitzen, in einem Konzerthaus voller Kronleuchter, Gold und Brokat. «So komme ich wieder runter. Und irgendwann is’ gut.»

Ein duldsames Opfer will er nicht mehr sein. «Ich werde der katholischen Kirche den Kampf ansagen», sagt er, «und zwar so was von dermassen.» Jonathan Overfeld möchte Entschädigungszahlungen erstreiten für die rund 750 000 Menschen in Deutschland, die ebenso schwere Heimjahre durchlitten haben wie er selbst.

Er hegt heute keinen Hass mehr. Er will auch keine Rache. Jonathan Overfeld hat Pater V. sogar ein zweites Mal aufgesucht. Lange hatte er zuvor vor dem Spiegel für diese Begegnung geübt. Nun stellte er sich kerzengerade vor den alten Mann hin. «Verzeihen kann ich Ihnen nicht. Auch Ihren Mitbrüdern nicht und schon gar nicht der katholischen Kirche», sagte er innerlich bebend, aber mit fester Stimme. «Doch ich begnadige Sie.» Dann drehte er sich auf dem Absatz um und ging.

Es war ein super Gefühl. Der Gepeinigte begnadigt seinen Peiniger. Kann es eine machtvollere Geste geben? Jonathan Overfeld grinst. «Da hätte ich zu gern eine versteckte Kamera dabeigehabt.»


* Kuno Kruse: Der Mann, der sein Gedächtnis verlor. Verlag Hoffmann und Campe, ca. 35 Fr.

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Das Wandern hilft gegen den Schmerz der Erinnerung: Mit dem iPod und 28 Sinfonien auf dem ehemaligen Berliner Flughafen Tempelhof

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Freizeitpianist Jonathan Overfeld in seiner Stammkneipe, dem «Froschkönig »