Stil
4. Etappe: von Luzern über den Brünigpass aufs Jungfraujoch
- Text: Claudia Senn; Fotos: Martin Mischkulnig
Mit der Eisenbahn von Luzern über den Brünigpass aufs Jungfraujoch: Nirgends gibt sich die Schweiz internationaler als hier auf 3454 Metern.
Warum teures Geld für Tickets nach Mumbai oder Shengzhen ausgeben? Exotisch ist auch das eigene Land, wie diese Reiseetappe zeigt. Schon im Panoramazug der Golden-Pass-Linie, der hinter Luzern mithilfe eines Zahnrads ratternd den Brünigpass erklimmt, wird das Publikum internationaler. Noch ist neben Japanisch auch Englisch und Holländisch zu hören. Und als im Tal der smaragdgrüne Lungernsee erscheint, klingt das kollektive Ah und Oh in allen Sprachen ähnlich. Richtig babylonisch wird es in der Jungfraubahn. Hier, auf der teuersten Zugstrecke der Schweiz – 190.20 Franken kostet die Retourfahrt in der zweiten Klasse ab Interlaken – ist die Reporterin die einzige Schweizerin weit und breit. Der Kondukteur spricht Hindi und Mandarin und begrüsst die in Saris gewandeten Damen mit einem herzlichen «Namaste».
Es ist, als habe man uns durch ein kosmisches Wurmloch versehentlich in einen asiatischen Regionalzug gebeamt – wären da nicht die atemberaubenden Wasserfälle, die Alpwiesen und die in der Morgensonne glitzernden Gletscher. Fast 3000 Höhenmeter muss die Bahn überwinden, bis sie den höchst gelegenen Bahnhof Europas erreicht, das Jungfraujoch auf 3454 Meter über Meer. Während der Fahrt wird die Luft spürbar dünner, Herz- und Atemfrequenz steigen. Die ersten Inder schnüffeln hektisch an mitgebrachtem Sauerstoff aus der Spraydose. Als Lautsprecherdurchsagen in acht Sprachen einen Fotostopp ankündigen, quillt die multikulturelle Menge wie eine Rinderherde aus den Waggons und knipst, als gelte es, das Letzte aus den Digitalkameras herauszuholen.
Die Bergstation erinnert an die Wartelounge eines Flughafens. Souvenirshops, Lautsprecherdurchsagen, der vermutlich höchstgelegene Geldautomat des Kontinents. Auf Rollbändern geht es bequem in den Berg hinein, wo die «Snow Sensation» wartet, ein Parcours aus überdimensionalen Schneekugeln, Edelweisskitsch, Eisskulpturen und Alpinhistorie. Die weitaus grössere Schneesensation ist allerdings der Blick von der Aussichtsplattform. Für dieses Panorama lohnt es sich tatsächlich, um die halbe Welt zu fliegen! Als sei es Teil der Show, landet in diesem Moment ein Rega-Heli auf der Plattform, um einen verletzten Bergsteiger zu bergen. Cool winken die Helden der Lüfte der applaudierenden Menge zum Abschied zu. Saris und Faserpelze flattern im Wind des Rotors.
Auf dem Fussboden der Bergstation haben chinesische Familien ihr Camp aufgeschlagen und stärken sich mit Instant-Teigwaren aus dem Plastikbecher. Auch uns hat die Reise hungrig gemacht. Wir entscheiden uns für das Restaurant Bollywood, eine Schnellfütterungsanstalt mit dem Charme einer Zivilschutzanlage, wo sich die indischen Reisegruppen im fliegenden Wechsel satt essen, während auf einem Bildschirm an der Wand ein Actionkracher für ohrenbetäubenden Lärm sorgt. «You are so relaxed», stellt der – ebenfalls indische – Kellner irritiert fest, als wir nach einer halben Stunde noch immer seelenruhig vor unserem Curry sitzen. «Why are you so relaxed?» Doch nein, Entspannung ist das falsche Wort. Wir sind erschöpft, genau wie unsere indischen Mitreisenden. Auf der Rückfahrt fallen sie so plötzlich in kollektiven Tiefschlaf, als habe jemand ein Betäubungsgas in die Waggons geleitet. Zu viel Action, zu viel Curry, zu wenig Sauerstoff. Die Jungfrau fordert ihren Tribut.
Tipp
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