Menschen, auch Kinder, die 14 Stunden täglich arbeiten, die für unseren Konsum gar sterben: Das ist der Stoff von Güzin Kars Theaterstück «Sweatshop». Wir haben mit der Autorin über diese Missstände gesprochen – und darüber, warum wir trotzdem so viel shoppen.
Sie erscheint im orangen Etuikleid zum Interview, trägt Slippers mit Blockabsatz und einen grossen, schwarzen Vintage-Mantel. Diese Informationen hätten hier nichts zu suchen, würde es in diesem Gespräch nicht genau darum gehen: um die Kleider von Güzin Kar – und um unser aller Kleider. Denn die Filmregisseurin, Kolumnistin und Autorin, die das Drehbuch zum Publikumserfolg «Achtung, fertig, WK!» geschrieben und zuletzt mit der Miniserie «Seitentriebe» etwas von der warmherzig-bösen Verschrobenheit eines Judd Apatow («Girls», «Love») ins Schweizer Fernsehen gebracht hat, hat sich für ihr erstes Theaterstück den Missständen in der Textilindustrie angenommen. «Sweatshop. Deadly Fashion», das Stück ist nach den Textilfabriken benannt, in denen hauptsächlich Frauen schweisstreibende Arbeit leisten.
Ungewöhnlich ist nicht nur der realpolitische Hintergrund des Stücks, sondern auch die mediale Vorlage: «Sweatshop» basiert auf einer millionenfach gestreamten Videodokumentation der norwegischen Zeitung «Aftenposten» über drei junge Blogger, die in den Textilfabriken von Phnom Penh die Ungerechtigkeit und die Brutalität einer ausbeuterischen Industrie antreffen. Da ist etwa die Näherin, die 14 Jahre lang dieselbe T-Shirt-Naht genäht hat. Oder die junge Frau, deren Mutter an Unterernährung gestorben ist, weil der Lohn der Näherinnen nicht ausreicht, um eine Familie zu ernähren.
annabelle: Güzin Kar, Sie haben sich mit Komödien einen Namen gemacht. Beim Thema Sweatshops gibt es hingegen wenig zu lachen.
Güzin Kar: Es gibt unterschiedliche Arten von Komödien. Diejenigen, die ich geschrieben habe, waren nie einfach nur lustig, sondern oft tragisch und auch traurig. «Sweatshop» ist keine Komödie, trotzdem wird es auch in diesem Stück Sarkasmus geben. Aber nicht nur.
Muss das Zürcher Theaterpublikum über die Missstände in der Textilindustrie aufgeklärt werden, oder geht es um die Konfrontation mit einem oft verdrängten Thema?
Wenn es nur darum ginge zu informieren, könnte ich auch einen Zeitungsartikel schreiben. Ein Theaterstück muss mehr sein als Information, es muss das Publikum berühren, sodass es aus einer Frage nicht mehr herausfindet. Aus den konkreten Räumen und der Anwesenheit des Publikums ergibt sich eine Reibung, die nur das Theater bieten kann.
Wie konsumieren Sie selbst Mode?
Lange Zeit kaufe ich nichts und dann plötzlich sehr viel unnötiges Zeug. Ich bin absolut inkonsequent. Leider. Ich versuche, gewissenhafter Kleidung zu kaufen, aber es gelingt mir weitaus weniger gut als etwa bei der Ernährung. Ich esse sehr viel weniger Fleisch als früher und achte beim Kauf auf die Herkunft. Selbst da bin ich oft inkonsequent, aber immerhin weiss ich, wie es richtig gehen würde, weil Labels gute Orientierungshilfe zur Haltung und Herkunft der Tiere bieten. Und wer ganz sicher gehen will, kauft das Filet direkt beim Bauern. Macht zwar keiner, behauptet aber jeder. Bei Kleidung hingegen ist es viel schwieriger, mit gutem Gewissen einzukaufen. Jede Information über die Herstellung eines Kleidungsstücks wirft zehn neue Fragen auf.
Deshalb wird als Lösungsvorschlag oft der Verzicht von billiger Fast Fashion genannt …
Ein teures Kleid muss nicht zwingend fairer produziert worden sein als ein günstiges. Aber es gibt einige kleine, meist auch hochpreisige Labels, die die gesamte Produktionskette ihrer Produkte überblicken und die wichtigsten Fragen beantworten können. Haben die Textilarbeiter sichere Arbeitsbedingungen? Bekommen sie nicht nur den Mindestlohn, sondern einen existenzsichernden Lohn? Und wie kann man das garantieren? Denn häufig müssen Näherinnen, die sich einen höheren Lohn erkämpft haben, einfach mehr produzieren. Im schlimmsten Fall verlagern die Auftraggeber die Produktion in ein Land mit tieferen Löhnen und ohne Gewerkschaften. Dabei sind die Margen in der Textilbranche ohnehin riesig.
Gemäss dem Schweizer Verein Public Eye fliessen nur gerade 0,5 bis 3 Prozent des Verkaufspreises eines Kleidungsstücks an die Näherinnen zurück.
Das ist furchtbar! Diese Misere war für mich ein Grund, an diesem Stück mitzuarbeiten. Ich habe mich bei der Arbeit oft gefragt, wie ich mich den ganzen Tag mit meinen kleinen Problemen rumschlagen kann, wenn ich mich doch mit einer so grossen Ungerechtigkeit beschäftigen könnte. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich sage nicht: «Was regt ihr euch über die kleinen Ungerechtigkeiten in der Schweiz auf? Woanders ist die Welt viel schlimmer.» Die eine Auseinandersetzung schliesst ja die andere nicht aus.
Shoppen Sie gerne?
Ich liebe es! Ich kaufe immer die bessere Version von mir selber. Ich habe die Illusion, dass ich meinem perfekten Selbst näher komme, wenn ich dieses eine schöne Kleid besitze. Natürlich funktioniert das nie. Häufig macht sich das Unglück sogar unmittelbar nach dem Kauf wieder bemerkbar. Und schon kommt die Hoffnung auf, dass meine Wünsche beim Kauf des nächsten Kleides in Erfüllung gehen.
Sie setzten sich also in «Sweatshop» nicht nur mit dem Leid der Näherinnen auseinander, sondern auch mit dem Unglück von uns Konsumenten?
Absolut. Im Grunde sind es nicht die materiellen Güter, die wir begehren. Mit ihnen wollen wir uns optimieren, schöner und glücklicher werden, uns in Göttinnen auf dem Olymp verwandeln. Das Leiden der Textilarbeiterinnen nehmen wir in Kauf, weil wir tief in uns glauben, dass wir ein Recht auf Unsterblichkeit haben.
Was begehren wir denn wirklich, wenn nicht die Kleider?
Unser optimales Selbst. Das kapitalistische System sagt uns immer wieder, dass wir noch nicht da sind, wo wir hingehören. Wir haben noch nicht die Ausbildung, die wir haben sollten, und der nächste Karriereschritt ist auch längst fällig. Ich habe natürlich nichts dagegen, dass man Karriere macht, aber es wird nie genügen. Wir genügen uns selbst nicht. Wir gehen ins Fitnessstudio, weil wir denken, dass alles besser wäre, wenn wir fünf Kilo leichter wären. Wir wechseln unsere Wohnungen, besorgen uns eine neue Einrichtung. An sich leblose Dinge wie Kleider werden magisch mit Bedeutung aufgeladen. Sie sind Glücksbringer, moderne Amulette.
Ist diese Konsumlust ein weibliches Phänomen?
Nein, Männer kaufen immer mehr Mode. Und das betrifft ja nicht nur die Kleidung. Ob ich vor dem Apple-Store übernachte, um das neue iPhone zu kaufen, oder ob ich vor dem H&M campiere, um die neuste Designerkollaboration zu ergattern, spielt keine Rolle. In beiden Dingen steckt dasselbe Glücksversprechen. Auf Frauen verstärkt sich der Optimierungsdruck, weil Frauen überall auf der Welt ständig beobachtet werden. Wir stehen unter einer Art Generalverdacht, was unser Aussehen angeht: Unser Körper ist eine permanente Baustelle.
Was kann man dem entgegensetzen?
Die einzige konsequente Haltung wäre es, nichts zu kaufen. Unsere Kleiderschränke sind doch so voll. Wie ein Alkoholiker, der seinen Pegel erst einmal auf null runter bringen muss, bevor er wieder kontrolliert trinken kann. Und wenn die Sachen nicht mehr passen, dann tauscht man sie halt. Auch wenn die Sharing-Kultur etwas total Miefiges hat.
Warum?
Weil Dinge zu besitzen durchaus seine kulturelle Berechtigung hat. Und weil man die Welt nicht verbessert, indem man seinen Radius verkleinert und sich eine kleine, heile Welt einrichtet.
Die Idee, dass jeder die Welt ändern kann, ist aber eine sehr populäre.
Auch darin liegt ein Optimierungspotenzial. Du fühlst dich moralisch überlegen. Aber daran glaube ich nicht. Man muss ja auch nicht gleich die Welt retten wollen. Es würde mich schon glücklich machen, wenn die Menschen eine gewisse Zeit keine Mode konsumieren und sich über die Produktion ihrer Kleidung informieren. Welche Gewerkschaften gibt es in den textilproduzierenden Ländern wie Burma oder Bulgarien? Wie kann ich diese unterstützen? Der Konzernverantwortungsinitiative, über die derzeit das Parlament berät und die voraussichtlich 2019 vors Volk kommt, sollte man bei aller Kritik eine Chance geben. Sie will Schweizer Unternehmen für Umweltverschmutzung und Menschenrechtsverletzungen im In- und Ausland haftbar machen. Es kann nicht sein, dass Menschen, teilweise noch Kinder, für unseren Konsum 14 Stunden pro Tag arbeiten oder gar sterben. Das muss ich mir immer wieder sagen, und das sollte uns empören. Wenn ein Bauer Hühner misshandelt, hat er sofort tausend Tierschützer am Hals.
Auch wenn der Bauer in Bangladesh lebt?
Nein. Je weiter weg, desto inexistener. Aber wir müssen globaler denken. Die Kleidung ist Teil unserer Identität, ein Stück unseres Körpers. Es ist verrückt, dass wir das Leid, das dieses Textil bei der Herstellung verursacht, so problemlos davon abspalten können. Denn Bangladesh ist hier, hier auf unserer Haut. Näher kann es gar nicht sein.