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«Recycling ist nicht gratis»

«Recycling ist nicht gratis»

  • Interview: Barbara Loop; Foto: Christopher Kuhn

Auf dem globalen Markt für Secondhandkleider mischt auch die Schweizer Firma Texaid mit. CEO Martin Böschen über Hilfsprojekte, Business und die Zukunft von alter Kleidung.

annabelle: Martin Böschen, Mottenlöcher im Wollpullover und Weinflecken auf der Bluse; was gehört nicht in die Altkleidersammlung?
Martin Böschen: Stark beschädigte und dreckige Ware. Die meiste Kleidung erreicht uns allerdings sauber. Ob sich ein Kleidungsstück zum Verkauf als Secondhandware eignet, hängt aber nicht nur vom Zustand ab. Männerkleidung darf abgetragener sein als Frauenkleidung. Auf vielen unserer Absatzmärkte erfüllt Kleidung eher eine Schutzfunktion und weniger eine modische, es wird dort folglich gleich viel Männer- wie Frauenkleidung benötigt. Weil in Westeuropa Frauen aber viel mehr Kleider kaufen als Männer, besteht rund 80 Prozent der Altkleidung aus Frauenkleidung. Ausserdem sind Konfektionsgrössen ein Thema: Häufig sind kleine Grössen gefragt, zudem sind die klimatischen Bedingungen in den Absatzländern entscheidend.

Was passiert mit der aussortierten Ware?
30 Prozent der gesammelten Altkleidung werden zu Putzlappen oder Dämmmaterial verarbeitet und 5 Prozent werden in der Kehrichtverbrennungsanlage verbrannt. Anders als bei Landfills, also Deponien, die es weder in der Schweiz noch in Deutschland gibt, ist das Verbrennen aus ökologischer Sicht eher unproblematisch. Bei diesem Prozess wird sogar Energie gewonnen, die dann als Fernwärme genutzt wird.

Wäre es also ökologisch sinnvoll, Altkleidung einfach zu verbrennen? Schliesslich kosten das Sammeln, der Transport in die Sortierwerke und das Recycling viel Energie.
Wenn ein noch tragbares Hemd verbrannt wird, das auf dem Secondhandmarkt einen Käufer gefunden hätte, dann muss dieser Käufer stattdessen ein neues Hemd erwerben, dessen Herstellung wertvolle Rohstoffe verbraucht hat. Selbst wenn ein neues Hemd länger hält, das haben wir ausgerechnet, ist der Ressourcenverschleiss beim Sammeln und Sortieren von Altkleidung wesentlich kleiner als derjenige, der bei der Produktion von neuen Textilien anfällt.

Sammelt Texaid auch Restposten ein?
Ja, wir nehmen unverkaufte Ware im Auftrag der Händler an. In der Regel soll die ungetragene Kleidung weitergenutzt werden, der Markeninhaber auferlegt aber bestimmte Restriktionen: Es müssen etwa die Etiketten eingeschnitten werden, um zu verhindern, dass die Ware in die Geschäfte retourniert wird. Oder es wird festgehalten, dass die Kleidung nicht in Westeuropa oder der EU weiterverkauft werden darf.

Texaid wurde vor vierzig Jahren gegründet, seither hat sich die Modeindustrie rasant entwickelt. Allein zwischen den Jahren 2000 und 2014 hat sich die globale Textilproduktion verdoppelt. Was bedeutet das für die Altkleiderindustrie?
Seit der Gründung von Texaid hat sich die Zahl der von uns gesammelten Altkleidung mindestens verzehnfacht. Es gibt drei Gründe dafür: Die Bevölkerung der Schweiz ist gewachsen, die Menschen kaufen mehr Kleidung und werfen sie schneller wieder weg, und das Bewusstsein für den ökologischen Aspekt der Altkleidersammlung hat zugenommen.

Ist Fastfashion für Texaid Fluch oder Segen?
Eher Fluch als Segen. Die Qualität der Secondhandware wurde schlechter, weil die Qualität der Neuware gesunken ist. Hinzu kommt, dass neue Textilien nicht nur bei uns günstiger sind, sondern auch in unseren Absatzmärkten. In Osteuropa etwa gab es vor zehn Jahren noch kein Primark oder H&M, heute schon. Fastfashion führt tendenziell auch bei der Altkleidung zu sinkenden Preisen.

Die Textilindustrie setzt derzeit auf Recycling, um die ökologischen Probleme der Überproduktion zu lösen. Wie vielversprechend ist dieser Ansatz?
Heute können Textilien nur downcycelt, das heisst zu minderwertigen Produkten wie Lappen oder Dämmmaterial verarbeitet werden. Das grösste Problem sind die Mischgewebe, aus denen der Grossteil unserer Textilien besteht. Es gibt zwar chemische Verfahren, mit deren Hilfe sich verschiedene Fasern trennen lassen. Aber das sind Versuche im Labor, die für die industrielle Nutzung zu wenig effizient und zu teuer sind.

Wie realistisch schätzen Sie die Möglichkeit ein, irgendwann aus Altkleidung neue Kleidung herstellen zu können?
Trotz grosser Forschungsbemühungen sind wir noch weit von einer geschlossenen Kreislaufwirtschaft oder zumindest von einer ähnlich hohen Verwertungsquote wie bei Glas entfernt. Darum ist es aus ökologischer Sicht wichtig, dass wir tragbare Kleidung als Secondhandkleidung weiterverwerten und so dem Verschleiss von Ressourcen entgegenwirken können.

In welche Länder verkaufen Sie die Schweizer Secondhandkleidung?
Wir haben Absatzmärkte auf der ganzen Welt. Nur in Asien, also östlich von Pakistan, sind wir nicht aktiv, dieser Markt wird etwa aus Japan, China oder Australien gespiesen. In Südamerika ist unser Anteil klein, der Kontinent wird hauptsächlich von den USA beliefert.

Gibt Texaid Kleidung kostenlos an Bedürftige ab?
Nein, wir arbeiten zum Beispiel mit der Caritas und dem Roten Kreuz zusammen, aber diese Organisationen haben ihre eigenen Läden, wo Bedürftige zu reduzierten Preisen Kleider kaufen können. Sollte deren Bedarf nicht gedeckt sein, können sie von uns Ware beziehen, umgekehrt nehmen wir ihnen ab, was sie nicht brauchen können.

Für die Schweiz mag die Nachfrage damit gedeckt sein, weltweit wird besonders in Krisensituationen aber immer wieder Kleidung benötigt.
In den Anfängen von Texaid mussten Kleidersammel-Werke eine Art Katastrophenvorrat für das Rote Kreuz aufrechterhalten. Aber heute kaufen die Organisationen der Soforthilfe die Hilfsgüter vor Ort. Das Schweizerische Rote Kreuz zum Beispiel braucht in einer Krisensituation 50 000 Pullover und Decken in verschiedenen Grössen. Wenn Texaid das liefern würde,wäre allein die Logistik viel zu teuer. Der Einkäufer auf dem Secondhandmarkt hingegen möchte nicht 5000 gleiche Pullover haben, sondern eine gute Auswahl.

Texaid stand immer wieder in der Kritik, weil sie mit dem Handel von Secondhandware die Textilindustrie der Absatzländer, vor allem auf dem afrikanischen Kontinent, zerstört haben soll. Was entgegnen Sie den Kritikern?
Eine Vielzahl von Problemen hat dazu beigetragen, dass sich die Textilindustrie in afrikanischen Ländern nicht entwickelt hat oder gar verschwunden ist.

Welche?
Die unstete Verfügbarkeit von Rohstoffen und Elektrizität, Infrastrukturprobleme, fehlende Absatzmärkte und die Konkurrenzsituation zu den asiatischen Textilproduzenten. Länder wie China oder Bangladesh konnten eine bessere Infrastruktur aufbauen als die afrikanischen Länder. Ich glaube, dass der Import von asiatischer Neuware die Textilindustrie stärker konkur- renziert als der Import von Secondhandware. Ausserdem hat sich die Textilindustrie in den letzten vierzig Jahren zu einer globalen Industrie entwickelt, für die produzierenden Ländern also zu einer exportorientierten Industrie. Eine Näherin in Bangladesh kann sich das, was sie selber produziert, in der Regel nicht leisten, selbst wenn es für uns noch so billig ist.

Eine Textilwirtschaft, die auch für den Binnenmarkt produziert, wäre aber wesentlich nachhaltiger.
Das ist sicher so. Es ist auch möglich, dass man in den Siebziger- und Achtzigerjahren, als die afrikanischen Länder noch eine Textilindustrie hatten, vorsichtiger mit dem Liefern von Altkleidung aus Westeuropa hätte sein sollen. Heute profitieren vom Secondhandhandel aber viele. Ich sage nicht, dass die Menschen gut davon leben können, aber es gibt einen informellen Markt für ihre Dienstleistungen – für Schneider etwa, die die Kleidung umändern, Verkäufer und Zwischenhändler. Nur weil die Textilindustrie gefördert wird, heisst das ja noch nicht, dass die Leute sich die im Land produzierten Waren auch leisten können. In Afrika produzierte Textilien werden teurer sein als europäische Altkleidung von gleicher Qualität.

Was das Lohnniveau betrifft, sind einige afrikanische Länder aber durchaus konkurrenzfähig mit den asiatischen Textilexporteuren. H&M lässt aufgrund der Kostenvorteile jetzt etwa in Äthiopien produzieren.
Für den Exportmarkt sind die Preise tief genug, nicht aber für den Binnenmarkt. Auch in China wurde zuerst für den Exportmarkt produziert, schliesslich stiegen die Löhne für einen Teil der chinesischen Bevölkerung. Für diese Entwicklung muss man den Importmarkt für Kleidung nicht unbedingt beschränken.

Derzeit erhöhen mehrere ostafrikanische Länder die Steuer auf importiere Altkleidung. Ruanda will den Import ab 2019 sogar ganz verbieten. Was bedeutet das für Texaid?
Wenn sich die ganze Menschheit mit neuen Textilien einkleiden will, brauchen wir eine Lösung für die Altkleidung, die nachhaltig ist. Aber selbst eine Recycling-Lösung ist aus ökologischer Sicht nie gratis zu haben. Wir müssen uns bewusst werden, dass wir die Sachen länger tragen sollten.

Martin Böschen (43), CEO des Schweizer Textilverwertungsunternehmens Texaid

Texaid: Gut verdienen und Gutes tun

  • Mit einem Marktanteil von zirka 60 Prozent ist Texaid das führende Textilverwertungsunternehmen der Schweiz.
  • Rund 140 Millionen Kleidungsstücke sammelte Texaid 2017 in der Schweiz.
  • 50 Prozent der Altkleidung werden in den Texaid-Sortierwerken in Schattdorf UR, Bulgarien, Marokko oder Ungarn sortiert. Die anderen 50 Prozent werden an externe Werke verkauft.
  • 65 Prozent der gesammelten Altkleidung werden als Secondhandware weiterverkauft, 30 Prozent werden zu Putzlappen und Dämmmaterial verarbeitet und 5 Prozent werden thermisch verwertet.
  • 2017 erwirtschaftete Texaid rund 7.8 Millionen Franken für karitative Zwecke. Zirka 2.6 Millionen Franken gingen an die am Unternehmen beteiligten Hilfswerke: Schweizerisches Rotes Kreuz, Winterhilfe Schweiz, Solidar Suisse, Caritas Schweiz, Kolping Schweiz und das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz (HEKS). 5.2 Millionen Franken flossen an diverse Samaritervereine und weitere Projekte im In- und Ausland.