Politik
Zwischen skandalös und genial: Das turbulente Leben von Feministin Mary Wollstonecraft
- Text: Jana Schibli
- Foto: John Opie; Bildbearbeitung: Grafik annabelle
In unserer Rubrik «Die Feministin» stellen wir Frauen vor, die wir alle kennen sollten – weil sie aus dem Kampf um Gleichstellung nicht wegzudenken sind. Heute mit Mary Wollstonecraft.
Manche nannten sie ein Genie, andere hingegen eine Hyäne in Unterröcken: Mary Wollstonecraft, geboren 1759, erhielt über ihr kurzes Leben hinweg und in den Jahrhunderten danach viele Übernamen. Was sie mit Sicherheit war: eine der einflussreichsten Frauenrechtlerinnen ihrer Zeit.
Schon früh hatte ihr Sinn für Ungerechtigkeit Gelegenheit, sich zu entfalten: Was ihr gewalttätiger Vater vom Familienvermögen bis zu seinem Tod nicht verspielt hatte, erhielt ihr älterer Bruder. Die nur marginal ausgebildete Mary Wollstonecraft verdiente fortan als Gouvernante ihr eigenes Geld, ehe sie eine Mädchenschule gründete und schliesslich Schriftstellerin wurde. Dass die grassierende weibliche Unselbstständigkeit, der sie selbst entgangen war, nicht naturbedingt, sondern aufgezwungen war, wurde zum zentralen Punkt ihrer Texte: Die krampfhafte Fixierung auf Schönheit, Sanftheit und Emotionalität im Leben einer Frau halte die Welt davon ab, sie als Menschen zu sehen, schrieb Wollstonecraft 1792 in ihrem berühmtesten Werk «Verteidigung der Rechte der Frau».
Mary Wollstonecrafts eigenwilliges Leben
Sie hingegen lebte nach ihren eigenen Regeln: Weil die Ehe für sie der Sklaverei glich, schlief sie ohne Trauschein mit ihrem amerikanischen Liebhaber. Später versuchte Wollstonecraft – nun mit einer unehelichen Tochter – auf einer Reise durch Skandinavien erfolglos, seine erloschene Liebe zurückzugewinnen. Einen Suizidversuch und eine Sammlung ihrer Skandinavien-Briefe später verliebte sie sich in den anarchistischen Philosophen William Godwin.
Die beiden heirateten trotz ihrer Prinzipien. Wollstonecraft war wieder in Erwartung. Eine Schwangerschaft, die ein Leben schenkte und eines raubte: Mary Wollstonecraft starb mit nur 38 Jahren an den Folgen der Geburt ihrer zweiten Tochter Mary – später Mary Shelley, die Schöpferin von «Frankenstein». Nach ihrem Tod verschwand Wollstonecrafts Werk zunehmend aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein. Ihr Leben empfand man als zu skandalös, um bedeutend zu sein.
«Ich möchte alle Frauen dazu auffordern, sich mentale und körperliche Stärke anzueignen», hatte Mary Wollstonecraft in ihrer «Verteidigung» geschrieben. Es sollte Jahrzehnte dauern, doch 1908 war es dann ihr Name, der auf den Bannern der englischen Suffragetten prangte. «Pionierin» stand darunter.