annabelle-Chefredaktorin Silvia Binggeli über Genussmittel, die ebenso leicht verbinden, wie sie zerstören.
Mein Name ist Silvia, und ich bin Raucherin. Genussraucherin, die ungewöhnlich spät, mit über zwanzig, dem Laster verfallen ist. Ich rauche gern, besonders nach einem schönen Essen oder klassisch kitschig beim Beobachten eines Sonnenuntergangs. Ich mache mir deswegen (meist) kein Gewissen. Aber ich mache mir auch nichts vor. Es gibt keine vernünftigen Gründe fürs Rauchen. In Zeiten kollektiven Gesundheitsbewusstseins wirkt es noch nicht einmal mehr cool. Es schadet. Es ist eine Sucht.
Glückssache, dass aus meinem Hang zur Sucht nichts Schlimmeres wurde. Mein erstes Erlebnis mit Marihuana vor vielen Jahren blieb mein einziges: Nach einem tiefen Zug sah ich mich von oben. Das Fernsehbild wanderte mir entgegen. Da schwor ich: Nie wieder! Kontrollverlust durch Fremdsubstanz: Nicht meins.
Trotzdem trinke ich gern ein schönes Glas Rotwein. Ich mag Grappa in bestem Brand. Mit Trinken verbinde ich Sinnlichkeit, den Geschmack der Erde, auf der die Traube heranreift. Oder Entspannung mit Freunden. Doch wie hätte das Suchtpotenzial in mir reagiert, wäre mir der Alkohol als Helfer in Krisenzeiten oder als Mutmacher in Teenagerjahren begegnet?
88 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer trinken ab dem fünfzehnten Lebensjahr Alkoholisches. Man geht von 250 000 Alkoholkranken aus. Und von 1.6 Millionen Risikotrinkern. Kein anderes Genussmittel verbindet so leicht, wie es zerstört.
Wir sind dem Phänomen Alkohol nachgegangen: Mein Kollege Frank Heer reiste nach New York, um die Erfolgsgeschichte der Anonymen Alkoholiker zu ergründen. Lesen Sie ausserdem, wie Frauen mit Partnern umgehen, die abends im Familienkreis bedenkenlos eine Flasche kippen. Und warum die Gesellschaft trinkfesten Männern auf die Schulter klopft, während sie Frauen mit einem Glas in der Hand schnell liederlich findet.
Bewusst haben wir beim Produzieren dieser Ausgabe den Moralfinger nicht erhoben. Vielmehr liessen wir uns von den vielen Erkenntnissen berauschen, aber auch ernüchtern. Für mich steht beim populärsten aller Genussmittel weiterhin die Qualität der Momente vor der Quantität – beim Rauchen habe ich diesbezüglich noch Entwicklungspotenzial.