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Zum feministischen Streiktag: Wie schaffen wir es, nicht zu resignieren?

Leben

Zum feministischen Streiktag: Wie schaffen wir es, nicht zu resignieren?

Im Kampf für Gleichstellung und gegen Sexismus überkommt einen immer mal wieder das Gefühl von Ernüchterung. Co-Leiterin Digital Vanja Kadic fragt sich: Wie schafft man es, die Hoffnung nicht aufzugeben?

Inhaltshinweis: Sexualisierte und körperliche Gewalt

 

Neulich. Ich sitze im Zug, als ich mir das Video anschaue, in dem Sean «Diddy» Combs seine damalige Freundin Cassie Ventura verprügelt. Die Aufnahme ist brutal: Das Video, das 2016 in einem Hotelgang in Los Angeles von Überwachungskameras aufgenommen und von «CNN» erst kürzlich veröffentlicht wurde, zeigt, wie der Rap-Mogul die Sängerin über den Boden schleift und mehrmals schlägt, tritt und mit Gegenständen bewirft. Während draussen die Landschaft vorbeizieht, wische ich mir Tränen aus dem Gesicht.

Cassie warf ihrem Ex-Partner in einer Zivilklage unter anderem sexuellen Missbrauch, körperliche Gewalt und Vergewaltigung während ihrer fast zehnjährigen Beziehung vor. Als sie im vergangenen November ihre Klage einreicht, glauben ihr die Vorwürfe viele nicht. Erst die Veröffentlichung des Videos ändert dies. Bei Instagram schreibt sie später: «Meine einzige Bitte ist: Glaubt Opfern beim ersten Mal.»

Mann oder Bär

Irgendwann scrolle ich weiter, vorbei an TikTok-Videos, in denen sich Frauen die Frage stellen, ob sie allein im Wald lieber einem Mann oder einem Bären begegnen würden. Die Mehrheit entscheidet sich bei diesem Gedankenexperiment für den Bär – «weil man mir nach der Attacke eines Bärs wenigstens Glauben schenkt, dass es mir passiert ist», heisst es von einer Userin. Oder: «Weil ich dem Bären nach der Attacke nicht am Arbeitsplatz, in der Schule oder am Familienfest begegnen muss.»

Eine Stunde später sitze ich am Tisch mit einer Freundin, die aufgebracht vom Fall Fabienne W. in Schaffhausen erzählt. Sie erklärt, wie sehr sie der Fall beschäftigt. Und wie wütend er sie macht. Die SRF-«Rundschau» hatte die Misshandlung von Fabienne W. recherchiert, die im Jahr 2021 mutmasslich vergewaltigt und eine Woche später von mehreren Männern zusammengeschlagen wurde – dies zeigten Videoaufnahmen aus der Tatnacht. Die Polizei soll nicht genügend gegen die Täter unternommen haben. In Schaffhausen demonstrierten kurz darauf hunderte Personen gegen polizeiliche Gewalt und zeigten Solidarität mit Opfern sexualisierter Gewalt.

Leer, abgelöscht, machtlos

Ich sitze meiner Freundin gegenüber und verstehe ihre Wut, ihre Fassungslosigkeit. Ein Gefühl, das mich immer wieder überkommt, wenn von solchen Fällen berichtet wird. Manchmal, wie an diesem Tag, bin ich abgestumpft. Dann fühle ich mich leer, abgelöscht, machtlos. Es ändert sich eh nie was, denke ich. All die Proteste, die geschriebenen Artikel und Bücher, Podiumsdiskussionen und geteilten Schicksale bringen nichts.

Schaut man sich aktuelle Zahlen an, verstärkt sich dieses Gefühl nur: Die Anzahl geschlechtsspezifischer Tötungsdelikte hat zugenommen, 2022 wurden nach Angaben der UNO so viele Femizide ausgeübt wie seit 20 Jahren nicht. Weltweit sind fast 89’000 Frauen und Mädchen ermordet worden. Und Frauenrechte werden weltweit weiter eingeschränkt: Laut des UN-Weltbevölkerungsberichts 2024 wird fast die Hälfte aller Frauen und Mädchen auf der Welt daran gehindert, eigenständig über ihre Sexualität und Fortpflanzung zu bestimmen.

Ich sitze mit meiner Freundin am Tisch und fühle mich abgelöscht. Und denke in solchen Momenten an Männer wie Rammstein-Frontmann Till Lindemann oder deutsche Comedians, die trotz der gefürchteten sogenannten Cancel Culture weiterhin ihre Karriere verfolgen. An Frauen, die als Lügnerinnen abgestempelt werden, weil sie angeblich eh nur Aufmerksamkeit oder Geld wollen, wenn sie sich gegen ihre Missbraucher wehren, sie anzeigen, sie öffentlich benennen. Weil sie Raum einnehmen oder sich weigern, zu schweigen.

Es braucht erst einen Videobeweis

Damit man Frauen ernst nimmt und ihnen zuhört, wenn sie ihre Erfahrungen teilen, braucht es offenbar erst einen Videobeweis. Mir scheint, dass oft vor allem Männer die Lebensrealität und Gewalterfahrungen von Frauen in Frage stellen. Diese Reaktion ist tief in unserer Kultur verankert. Viel zu selten erlebe ich Männer, die etwas sagen, wenn im Freundeskreis etwa frauenfeindliche Witze gemacht werden.

Denn so ist die Gewaltpyramide gebaut: Frauenverachtende Sprache, sexistische Witze, Geschlechterrollen oder Besitzanspruch an Frauen machen es erst möglich, sie zu objektifizieren. Zu selten sind Männer, die ihr eigenes Verhalten gegenüber Frauen reflektieren und offen dafür sind, es zu ändern. Oder sich aktiv am Diskurs über Sexismus zu beteiligen.

Stattdessen schlägt Frauen oft eine Abwehrreaktion entgegen – wir würden Männer und ihr Verhalten verallgemeinern. Wir übertreiben. Wir seien gerne in der Opferrolle. Und sowieso schon längst gleichberechtigt.

Kollektive Wut

Meine Kolleginnen Helene Aecherli und Darja Keller trafen vor kurzem Agota Lavoyer, Expertin für sexualisierte Gewalt, zum Interview: Lavoyer schreibt im Vorwort ihres neuen Buches «Jede_ Frau»: «Die Frage ist nicht, ob eine Frau irgendwann sexuell belästigt wird, sondern bloss wann und wo und von wem.» Wie schafft man es angesichts dessen, nicht zu resignieren, fragten meine Kolleginnen? Es sei bestärkend, zu merken, dass es anderen gleich gehe wie einem selbst, so Lavoyer. «Kollektiv wütend zu sein, empfinde ich als sehr konstruktiv», erklärte sie.

Als ich das las, erinnerte ich mich an die feministischen Streiktage der vergangenen Jahre. An dieses Gefühl, zwischen Tausenden zu stehen, die ähnlich denken, die sich für die gleichen Veränderungen einsetzen. Zwischen wütenden und entschlossenen Gesichtern, Megafonen, glitzernden Protestschildern, zwischen Kinderwägen und Krücken und Freund:innen und Reden, zwischen Müttern und Töchtern, lauten Forderungen, leisen Tränen, Umarmungen und viel Lila, da finde ich Halt. Hier verschwindet der ganze Zweifel, dass alles umsonst ist. Und hier findet alles Platz: Die Wut, das Gefühl von Zusammenhalt, Dankbarkeit fürs Kollektiv, für die Verbundenheit. Und Hoffnung, ganz viel davon.

Denn dass alles nichts bringt, stimmt nicht. Der Nationalrat hat zum Beispiel entschieden, dass Stalking – laut Schweizerischer Kriminalprävention geht man davon aus, dass mehr als 80% der Opfer weiblich sind – neu als Tatbestand im Strafgesetzbuch stehen soll. Oder: Per 1. Juli setzt der Bundesrat das revidierte Sexualstrafrecht in Kraft und beim Sex gilt der Grundsatz «Nein heisst Nein». Es gibt Fortschritt, es gibt Veränderung.

Ich habe übrigens auch an den feministischen Streiktagen geweint, vor Rührung und auch vor Wut. Aber anders als an diesem Tag im Zug hat es gutgetan – weil ich immer spürte, dass ich nicht alleine bin.

 

Hier findet ihr alle Infos zum heutigen Streiktag am 14. Juni 2024.

Informationen und Hilfsangebote zum Thema sexualisierte und häusliche Gewalt und Stalking findest du hier:

Opferhilfe Schweiz

143 – Die Dargebotene Hand (Crisis support in English: heart2heart.143.ch)

BIF – Beratungsstelle für Frauen

Frauenhäuser in der Schweiz