Zu nett für diese Welt
- Text: Kerstin Hasse; Foto: Ben Wolf
Julia Engelmann hat mit einem Slam-Poetry-Auftritt den Millennials eine Hymne geliefert. Nun macht sie positiven Pop – der nicht bei allen gut ankommt. Ein Gespräch über Zynismus, Menschenliebe und Grapefruit zum Frühstück.
«Ich habe hundert Millionen Gründe, um wegzulaufen, aber Baby, ich brauch nur einen guten Grund, um zu bleiben»: Eine Songzeile, die im vergangenen Jahr millionenfach gekauft, gestreamt und mitgesungen wurde. Sie stammt aus dem Lied «Million Reasons» von Lady Gaga – zweifellos eine der momentan aufregendsten und erfolgreichsten Künstlerinnen der Welt.
Aber frei von Kontext und übersetzt ins Deutsche, könnte diese pathetische Wortkomposition auch aus einer alten Ausgabe der Jugend-Zeitschrift «Musenalp-Express» stammen – in den 1980er-Jahren das «Auffangbecken für die überlaufenden Herzen der Heranwachsenden», wie es der Schweizer Journalist Guido Mingels einst schön formuliert hat. Oder eben: von Julia Engelmann, 26 Jahre alt, geboren in Bremen und – sehr, sehr erfolgreiche «Pop-Poetin». So nennt sie sich selbst. Und im Grunde beginnt mit dieser doch recht eigenwilligen Berufsbezeichnung bereits die Diskussion um die Figur Julia Engelmann. Pop-Poetin – wer nennt sich denn heute noch freiwillig so? Das tönt gar nicht nach Lady Gaga oder Beyoncé, sondern vielmehr nach «Bravo», nach «Juli», der Band, die Anfang der Nullerjahre von «der perfekten Welle» sang.
Julia Engelmann steht in einem grossen Zelt des Tollwood-Festivals in München auf der Bühne. Sie trägt einen schwarzen Einteiler, dazu weisse Turnschuhe. Sie hüpft von einem Bein aufs andere, tänzelt, wirft die Arme in die Höhe, schmeisst mit Konfetti um sich, das durch die Luft wirbelt und auf sie herunterrieselt. Das Publikum ist begeistert. Von der Teenagerin bis zum Rentner. Alles tanzt und lächelt, selig auf die Bühne blickend. Am Ende des Konzertes stupst eine junge Frau ihre Kollegin in die Seite. «Klatsch weiter», sagt sie, «vielleicht kommt die Julia dann nochmal.»
Die Julia, die muss aber von der Bühne. Programmwechsel. Ein Singer-Songwriter übernimmt. «Ich hätte eigentlich gerne mehr Zeit für die Fans gehabt», sagt Engelmann am nächsten Morgen, während sie im Café eines Münchner Hotels sitzt, die schulterlangen blonden Haare mit kleinen, bunten Spangen am Hinterkopf hochgesteckt. «Ich signiere dann gerne noch Bücher und so.» Denn Julia Engelmann ist nicht nur Pop-Poetin, sondern auch Poetry-Slammerin, Schauspielerin, Dichterin und Autorin. Eben ist ihr neuestes Werk erschienen. Es ist ihr viertes Buch und der vierte Bestseller. «Keine Ahnung, ob das Liebe ist», heisst es.
Erste Bühnenerfahrungen sammelte Engelmann bereits als Kind. Mit 14 war sie in mehreren Theaterstücken am Theater Bremen zu sehen und mit 18 in der RTL-Soap «Alles, was zählt». So richtig berühmt gemacht hat Julia Engelmann aber ihr Auftritt beim ziemlich schmucklosen 5. Bielefelder Hörsaal-Slam vor fünf Jahren. Ihr Stück «One day/Reckoning Song» ging richtig viral, wurde millionenfach angeklickt, geliked und geteilt. Ihre selbstkritische Auseinandersetzung mit den Sorgen und Nöten der Millennials wurde zur Hymne ihrer Generation. Ihre Fangemeinde ist seither riesig, täglich erhält sie Dutzende Botschaften von Fans, die berichten, dass ihre Worte ihr Leben verändert hätten. Oder sie schicken ihr Fotos von Tattoos; Songzeilen oder Comic-Zeichnungen aus der Hand von Julia Engelmann, die sich ihre Fans unter die Haut haben stechen lassen. Einmal, so sagt sie, habe sie in New Yorkjemand auf der Strasse angehalten und ihr für ihren Slam-Poetry-Text gedankt: «Er sagte, er sei wegen mir auf Weltreise. Das ist schon toll!» Erfolg auf der ganzen Linie also. Eigentlich. Nur gibt es auf der anderen Seite eben auch die Hater; Leute, die Julia Engelmann nicht ausstehen können und ihr diese Mach-es-wie-die-Sonnenuhr-zähl-die-heitren- Stunden-nur-Attitüde am liebsten austreiben würden. Menschen wie «Spiegel»-Autorin Julia Friese zum Beispiel. In einem Essay mit der Überschrift «Warum macht uns Julia Engelmann so aggressiv?» bezeichnet sie deren Musik «als hätte man aus Baumarkt-Deko ein Musical gemacht».
Warum klatschen manche Leute, wenn eine Künstlerin wie Lady Gaga in einem Song in die Kitschkiste greift, und rümpfen die Nase, wenn Julia Engelmann das Gleiche tut? Ja, natürlich, Gaga ist unbestritten die bessere Sängerin und auch die talentiertere Musikerin. Und in Sachen «street credibility» trennen die beiden tatsächlich Welten. Doch inhaltlich – rein am Mass des geraspelten Süssholzes betrachtet – kommen einige der grössten Zeilen der Popkultur dem «besonderen Engelmannschen Wortzauber» (Pressetext) bedrohlich nahe. «Gute Frage», sagt Julia Engelmann und denkt nach: «Das habe ich mir so noch gar nie überlegt.» Julia Engelmann ist eine Optimistin – eine hoffnungslose, sagen Zyniker, «hoffnungsvoll» würde sie es selbst nennen. Sie singt auf ihrem Debüt, das programmatisch «Poesialbum» heisst, von den Dingen, die sie in ihrem Leben beschäftigen, von Liebe («Aber immer, wenn Du bei mir bist, hör ich auf Dich zu vermissen»), von sozialem Druck («Ich bin kein Modelmädchen»), von hellen («Grüner wirds nicht») und von dunklen Tagen: «Über dir hängt Schwermut an der Wand (…) Komm, wir machen mal das Fenster auf, das Radio laut, lass frischen Wind herein und alle alten Zweifel heraus. Wenn du fest daran glaubst, dann wirst du glücklich. Und heute gibt es Grapefruit zum Frühstück.» Dass man diese Art von «Dichtkunst» durchaus auch für banal, ja, für geradezu naiv halten kann, ist für die Künstlerin «total okay»: «Geschmack liegt ja immer im Auge des Betrachters», sagt sie mit ihrer tiefen Stimme. Diese Gegensätzlichkeit – in der Art und Weise, wie ihre Arbeit in der Öffentlichkeit wahrgenommen werde –, sei doch ganz normal in einer pluralistischen Gesellschaft. «Jedem das Seine», sagt Julia Engelmann. Ein Mantra, das sie im Gespräch noch mehrmals wiederholen wird.
Sie selbst scheint mit sich und ihrer Arbeit jedenfalls im Reinen zu sein. Ausserdem esse sie tatsächlich ganz gerne Grapefruit zum Frühstück. «Das macht den Tag schön, so wie frische Luft oder gute Gespräche.» Dinge müssten nicht extra kompliziert sein, um relevant zu sein, sagt Engelmann. Und vom Lebenskonzept Coolness habe sie sich ohnehin schon lange verabschiedet; «ein absurdes Konzept», meint sie. Früher, in der Schule, sei es ihr noch wichtig gewesen, was Leute von ihr hielten. «Ich habe versucht, cool zu sein, aber heute hat das für mich keinen Wert mehr.» Wenn nur irgendein Mädchen «da draussen» einen Song von ihr höre und denke, ah, da geht es jemandem ähnlich wie mir, dann sei das super. «Ich zwing ja niemanden, zu meinen Konzerten zu kommen oder sich darüber zu ärgern, dass ich so positiv bin.» Dafür entschuldigen will sie sich sicher nicht. «Warum auch?», sagt sie. «Warum sollte ich mich für meine positive Einstellung entschuldigen – ich bin glücklich damit, was will man mehr?» Julia Engelmann ist auch im Gespräch stets höflich, konzentriert, verliert kein böses Wort über andere Leute. Selbst die leiseste Kritik kommt wie in Zuckerwatte verpackt daher. Das hört sich dann in etwa so an: Na ja, sie könne mit Kritik schon mehr anfangen, wenn sie ihren Kritikern wenigstens mal in die Augen geschaut habe. Und wenn jemand einfach nur schlechte Laune habe, dann empfinde sie Kritik nicht als so wertvoll. Aber ja, es gebe auch Sachen, die sie selbst nicht so toll finde. Fragt man dann allerdings nach, was das denn genau sei, muss sie lange nachdenken. Und sagt dann: «Das ist schwierig. Es gibt schon Songs oder Filme, die ich nicht so mag, aber da versuche ich dann halt, auch den Menschen dahinter zu sehen, der das geschaffen hat.» Vorgelebt wurde ihr diese positive Lebenseinstellung übrigens von ihrer Mutter Bea; eine freundliche Frau mit dunkelblonden Haaren und rundem Gesicht, die auch ihre Karriere engagiert managt: «Sie ist einfach ein unglaublich netter Mensch.»
Bea Engelmann ist Psychologin und Lebenscoach. Sie hat diverse Ratgeber verfasst, die Titel tragen wie: «Willkommen in der Mutzone», «Reiseziel Glück» oder «Das Glückspuzzle». Julia Engelmann beschreibt ihre Mutter als aufrichtig, freundlich und sehr positiv: «Ein Mensch, der jedem mit Offenheit und Respekt begegnet. » Und übrigens: «Die ganze Familie Engelmann mag Menschen gerne.» Warum also macht ausgerechnet so ein Engel wie Julia Engelmann andere Menschen so aggressiv? Warum tut man sich schwer mit dieser jungen Frau, die halt ein bisschen poetischer, ein bisschen pathetischer ist als andere? Warum rolle auch ich mit den Augen, wenn ich durch die Songliste des «Poesiealbums» klicke? Warum seufzt meine Arbeitskollegin ironisch, wenn ich von der Pop-Poetin erzähle? Vielleicht, weil man das Gefühl hat, dass in Wahrheit, in der «richtigen Realität», eben niemand so nett und so romantisch sein kann wie sie. Vielleicht, weil man vermutet, dass Mama Engelmann das Leben ihrer Tochter ganz prima inszeniert. Vielleicht aber auch einfach deshalb, weil Zynismus oft die einfachere Lösung bietet. Oder, wie es die «Spiegel »-Autorin formulierte: «Dem Hörer, und das ist es wahrscheinlich, was einen so aufregt, kommt die Ahnung: Julia Engelmann macht (…) alles richtig. Denn mit dem Erwartbaren erfüllt man alle Erwartungen. Und die Missachtung jeglichen guten Geschmacks ist wohl das Radikalste, was man machen kann. Was nun? Stellen Sie sich einfach an Ihre neu tapezierte Wand und schlagen – ganz leise – Ihren Kopf dagegen.»
Wirklich soo schlimm? Denn vielleicht ist das mit dem hoffnungsvollen Optimismus ja gar kein derart schlechtes Lebenskonzept. Wenn man zum Beispiel, so wie ich an jenem Tag in München, einen Interviewtermin hat und alles, wirklich alles, was schieflaufen kann, auch schiefläuft – Zug zu spät, Hotel überbucht, Taxifahrer verfährt sich –, dann ist es auf jeden Fall verdammt angenehm, nicht einem gestressten Manager eines eingebildeten Popsternchens gegenüberzusitzen, der genervt auf seine Uhr tippt, sondern in der Hotellobby auf Mama und Tochter Engelmann zu treffen, die ein freundliches Lächeln auf dem Gesicht tragen. «Sie sind jetzt bestimmt ein bisschen durch den Wind», sagt die Mutter. «Vielleicht erst mal ein Glas Wasser», meint die Tochter.
Aber nun mal im Ernst, Julia Engelmann, verlieren Sie an solchen Tagen nicht auch mal die Nerven? Da nützt einem dann doch auch so eine doofe Grapefruit nichts mehr? Und sie meint nur: «Ich halte es mit solchen Tagen so: Es bringt nichts, sich zu ärgern, ändern kann man es ja eh nicht.» Tönt einfach. Und für manche eben auch einfach zu einfach.
Julia Engelmann: Keine Ahnung, ob das Liebe ist. Goldmann-Verlag, 2018, 160 Seiten, ca. 12.90 Fr. Am 25. November tritt Julia Engelmann mit ihrem «Poesiealbum» in der Halle 622 in Zürich auf